freiTEXT | Marie Menke

Mutter im Wind

Sie schaffe es nicht rechtzeitig, sagt meine Mutter am Telefon, als sie zu Besuch kommt. Ihr doppelter Espresso seien maximal eineinhalb, sie bestelle noch einen.
Wo sie denn sei, frage ich.
Im Café am Rathaus.
Ich gebe das Rathaus in Google Maps ein. Elf Minuten zu Fuß.
Eigentlich liege ihre Verspätung an der Sonne, fügt meine Mutter hinzu.
Ich wühle in meiner Tasche. Ohne Creme ließ sie mich früher nicht einmal in den Garten.
Ob sie Lichtschutzfaktor 50 dabei habe, frage ich.
Ja, ja, antwortet sie, die Vokale so kurz, ich kann hören, wie sie abwinkt.
Dann könne sie ruhig durch die Sonne laufen, sage ich.
Es sei gerade so schön, sie könne noch nicht los, sagt sie.
Ich sei aber schon da.
Ich könne ja rüberkommen.

Als meine Mutter beschloss, mich zu besuchen, schrieb ich meinem Bruder, er müsse mitkommen. Weil ich nicht sicher war, ob er verstand, rief ich gleich danach an, und damit er sah, dass ich es ernst meinte, schaltete ich die Kamera ein.
Andernfalls würde Mama verloren gehen, sagte ich, sich von den Zeugen Jehovas anquatschen lassen, ins falsche Flugzeug einsteigen oder sich im Reisebüro über den Tisch ziehen lassen. Ich machte mir Sorgen.
Niemand buche mehr im Reisebüro, entgegnete mein Bruder.
Mama schon.
Ich beobachtete, wie es in seinem Kopf ratterte.
Sie sei doch erwachsen.
In der letzten Zeit sei sie manchmal wie ein Kind.
Mein Bruder grinste verschmitzt.
Ob er also dabei sei, fragte ich.
Er nickte.

Es gibt viele und keine Cafés am Rathaus. Viele in dem Viertel drumherum, keine in der unmittelbaren Umgebung.
Doch, doch, sagt meine Mutter am Telefon, ob ich denn noch nie im Rathaus gewesen sei.
Ich verneine.
Was ich denn an den Samstagabenden mache?
Ich gebe erneut das Rathaus in Google Maps ein und lasse mir den Weg zur gleichnamigen Kneipe ausgeben. Dreizehn Minuten zu Fuß.
Da könne sie mir entgegenkommen, sagt meine Mutter.
Ich muss daran denken, wie sie mir nachts entgegenkam, wenn ich als Jugendliche betrunken nach Hause lief.
Wo ich denn sei, fragt sie.
Am Rathaus, antworte ich.

Mein Bruder durfte nicht mitkommen.
Unsere Mutter gluckste vergnügt, als sie auf einer selbstgedrehten Videobotschaft erklärte, dass sie allein fliegen würde. Sie habe viel gearbeitet dieses Jahr, sie habe Lust auf Abenteuer, sie habe sich Zeit mit ihrer Tochter verdient. Damit sie keinen Punkt vergaß, las sie von einem wiederverwendeten Einkaufszettel ab.
Auf dem Korbstuhl neben ihr saß mein Vater, hatte keinen Text zugewiesen bekommen und grinste verschmitzt.
Er würde dafür mit meinem Bruder ins Stadion gehen, schrieb er anschließend. Damit Timon nicht enttäuscht sei.
Später erfuhr ich, dass mein Bruder die Karten längst gekauft hatte.

Weit kommt meine Mutter trotz dreifachem Espresso nicht. Ich finde sie neben der Rathaus-Kneipe, die Hände auf den Griff ihres Rollkoffers gestützt, dunkelrote Jack-Wolfskin-Jacke, ein Rock aus Leinen. Für den Kindergarten nähte sie mir auch so einen. An den Füßen trägt sie Sandalen aus schwarzem Leder mit einer türkisen Schnalle. Für den Urlaub gekauft, vermute ich, den Krampfadern zum Trotz.
Ihre Gestalt ist schmal und etwas schief, aus der Entfernung sieht sie aus wie eine Fahne im Wind und ich habe Angst, dass sie weggeweht ist, wenn ich blinzle. Als sie mich umarmt, fühlen sich ihre Arme dünn wie Streichhölzer und ihre Begrüßung wie ein Zuhause an.
Auf dem Weg zum Hotel biete ich an, ihren Rollkoffer zu ziehen, und sie gestikuliert, um mich davon abzuhalten. Ich schiebe sie samt Koffer sanft auf den Fußgängerweg, dann mich auf die Seite der Autos. Sie begutachtet die rosa Häuserfassaden zu ihrer Rechten und geht bei Rot über die Straße. Als sie vor ihrem Hotel auf mich wartet und ich auf der anderen Straßenseite auf die nächste Grünphase, ist sie atemlos, aber hält sich den Bauch vor Lachen über meine Vorsicht.

Die Frau an der Rezeption kann keine Buchung auf den Namen meiner Mutter finden.
Ob sie eine Buchungsbestätigung habe, fragt sie.
Meine Mutter verneint.
Die müsse sie aber bekommen haben.
Meine Mutter erinnert mich daran, dass es meine Idee war, im Internet zu buchen.
Ich verstehe den Zusammenhang nicht.
Meine Mutter gluckst wieder, etwas weniger vergnügt. Die Webseite habe sie aufgefordert, sich für einen Newsletter anzumelden, das habe sie nicht gewollt, da habe sie das Internet einfach geschlossen, vielleicht läge es daran.
Was sie dann gemacht habe, will ich wissen.
Nichts, antwortet meine Mutter. Sie habe ja kein zweites Hotelzimmer buchen wollen.
Die Frau an der Rezeption holt ein Formular aus einer Schublade und nimmt die Buchung auf.

In ihrem Zimmer möchte meine Mutter sich kurz hinlegen und schläft prompt ein. Ich lege mich neben sie und schreibe meinem Bruder, dass sie gut angekommen sei. Er schickt einen Daumen hoch-Emoji zurück.
Nach dem Aufwachen sind ihre Pupillen klein und die Falten um ihre Augen tief. Sie sagt, sie wolle nicht, dass ich später allein nach Hause fahre und bezahle mir lieber das Taxi. Ich erwidere, dass ich ständig allein Straßenbahn fahre. Sie trinkt aus meiner Metallflasche, sagt, das Leitungswasser sei schlecht, und verschwindet im Bad.
Bevor wir gehen, wasche ich ihr mit Daumen und Spucke einen Zahnpastarest von der Wange. Als ich klein war, gab sie vor, von dem Weiß meiner Zähne geblendet zu werden, wenn ich besonders lange putzte. Ihre Haut fühlt sich weich unter meinem Finger an und riecht aus der Nähe nach Lavendel.
Sie frage sich, ob ihr das bei Vorstandssitzungen auch passiere, aber niemand sich traue, sie darauf hinzuweisen, sagt sie.
Ich vermute es.

Wir gehen die Einkaufsstraße herunter, sie schaut in alle Fensterläden und ich hake mich unter, damit ich sie nicht verliere. Im Restaurant verkaufe ich ihr billigen Rotwein mit Zitronenlimonade und Eiswürfeln als lokale Spezialität. Zu meiner Überraschung schmeckt ihr die süßliche Schorle, aber nicht der Dip, der mit Brot als Vorspeise serviert wird. Aus der Bauchtasche um ihre Hüfte holt sie ein Glas Bio-Kichererbsen-Aufstrich aus dem Reformhaus, öffnet die Dose und tunkt eine Scheibe hinein.
Ich trete unter dem Tisch gegen ihr Schienbein und sage vorwurfsvoll, sie könne nicht ihren aus Deutschland mitgebrachten Aufstrich auf den Tisch stellen.
Sie habe ihn ja nicht auf den Tisch gestellt, sagt meine Mutter und hält ihn mir hin.
Ich lehne ab.
Traust du dich nicht, was?, sagt sie und kichert.

Als der Kellner fragt, ob wir getrennt oder zusammen zahlen, schweige ich.
Meine Mutter holt ihre Geldbörse aus der Bauchtasche und ich sehe die umgetauschten Scheine, sehe, dass der Kellner sie ebenso zählt, und sage, sie solle mit Karte zahlen.
Umständlich hält meine Mutter die Karte an alle Seiten des Lesegeräts.
Ob sie einen Beleg bräuchte, fragt der Kellner.
Ich nicke.
Meine Mutter schüttelt peinlich berührt den Kopf. Sie vertraue dem Kellner, sagt sie zu mir.
Darum gehe es nicht, sage ich.
Meine Mutter lächelt beschämt, nickt dann doch, zwinkert dem Kellner zu und sagt, para mi marido.
Der Kellner stellt ihr einen Beleg aus und lacht über die deutsche Frau in der Regenjacke, die Reisekostenabrechnungen bei ihrem Mann einreicht.
Ich frage mich, ob er ihr ansieht, dass es eine Lüge ist, aber bin zu verblüfft, um zu fragen.

Auf dem Weg nach draußen weht der Nachtwind unter ihren bodenlangen Rock. Ich habe noch nie so schmale Fußgelenke gesehen, denke ich. Meine Mutter wippt bei jedem Schritt, winkt dem Kellner von draußen zu, er winkt zurück.
Vor der Tür erklärt sie mir, dass ich sie nicht zurück ins Hotel bringen müsse.
Ob sie mobile Daten habe, frage ich.
Was das sei, will sie wissen.
Ich beschließe mit ihr zu gehen.
Sie könne sich durchfragen, sagt sie noch, sie haben das früher bei Reisen immer so gemacht.
Ich höre nicht hin und erkundige mich stattdessen besorgt nach ihrer Hüfte.
Oma und Opa hätten sie damals auch mal im Ausland besucht, sagt meine Mutter.
Ich frage, ob es inzwischen einen Termin für die Operation gebe.
So eine Reise sei damals sehr aufregend gewesen, sagt sie.

Im Hotelzimmer funktioniert das Licht nicht. Es dauert, bis meine Mutter versteht, dass ihre Türkarte eingesteckt sein muss, damit der Kreislauf funktioniert. Dann macht sie sich daran, die Klimaanlage einzustellen. Ich sitze auf der Bettkante und suche im Handy nach der nächsten Straßenbahn nach Hause. Neun Minuten zu Fuß, dreizehn in der Bahn, nochmal drei zu Fuß.
Es sei schön, allein zu schlafen, sagt meine Mutter und legt ihr Nachthemd auf das Kopfkissen.
Ich würde mich gerne danebenlegen, um neben ihr aufzuwachen, wie früher, wenn mein Vater verreist war.
Ich sage, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe, dass sie zuhause nie allein schlafe.
Mein Taxi sei da, sagt sie.
Ich habe keins bestellt.
Meine Mutter hebt die Jalousien vor dem Fenster mit dem knochigen Zeigefinger an. Ich aber, sagt sie stolz.
Zum Abschied ist ihre Umarmung flüchtiger als ihre Begrüßung es war.
Ob ich sie morgen früh wieder abhole, fragt sie, die Stimme hell vor Aufregung, als ich die Türklinke schon in der Hand halte.
Ich schmecke Anti-Falten-Creme auf meinen Lippen, nachdem ich ihr einen Kuss auf die Wange drücke.

 

Marie Menke

 

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freiVERS | Georg Großmann

Die Schönheit leerer Außenhaut

die Schattengerippe des Tages wandern über die Giebelflächen der Plattenbauten

über die fensterlosen Schiffshecke der auf Grund gelaufenen Wohnhausmaster

durchdringen die Marillenhaut, mit der die Sonne die Flächen bespannt

am Abend wächst Laternenlicht am Fuß der Rauputzklippen

Stille
Betrachtung

:

die Schönheit leerer Außenhaut

die Schönheit stiller Flächen

ich schaue durch die
Stadtschichten
durch die gezackte Form
des Ausschnitts
auf die Schildmauer
der Vorstadtburg

den Monolith

Polygon des Tagtraums

Riese
im Dämmer gekrönt vom
Kreistanz der Krähen

die Spechte
behacken die
Haut
und das Fleisch
:
graben bis
aufs Armierungsgewebe

Styropor schneit
aus den Wunden

fällt aus der gelochten
Leere

unter der ich
staunend stehe

o, die Schönheit stiller
Flächen

.

Georg Großmann

.

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freiTEXT | Barbara Rieger

An windstillen Tagen

Seit ich aufgehört habe zu rauchen, schlafe ich schlecht.

Ich finde keine Worte, nur einen toten Vogel vorm Haus.

Die Babykatzen der Nachbarin beginnen unsere Terrasse zu erkunden. Mein Kind versucht sie wieder zurückzutragen. Eine nach der anderen, immer wieder.

Mit dem Fahrrad überfahre ich oder überfahre ich fast eine Schlange. Als ich umdrehe und nachschaue, ist nichts mehr von ihr zu sehen.

Am See. Mein Kind und ich, im Hintergrund ein Schwan. Es ist nicht so idyllisch, wie es aussieht.

Das Kind öffnet die Haustür, um die Katze hereinzulassen und steigt in die Innereien eines Vogels.

Ich versuche zu verstehen, wie ein Gartenschlauch funktioniert.

Seit ich nichts mehr rieche, träume ich auch nicht mehr. Oder kann mich nicht an die Träume erinnern.

Auf der Terrasse zwischen den Babykatzen der Rest einer Schlange.

Ich fühle mich heimatlos und notiere: Ist der Tod ein sicherer Ort?

Am See mit Freundinnen. Die mit dem größten Rucksack und dem Kind bin ich.

Ich stelle mir vor, dass du aus dem Gebüsch kommst mit einer deiner Frauen und wir alle gemeinsam über das Wetter reden.

Eine Freundin filmt, wie eine der Babykatzen eine Schlange fängt und vollständig verzehrt.

Meine feministischen Freundinnen interessieren sich nur theoretisch für mein Kind. Praktisch versuchen sie es zu ignorieren.

Ich halte die Tränen zurück und notiere: Das ist Stoff!

No one fucks as hard as a writer.

Seit ich aufgehört habe zu masturbieren, weiß ich nicht mehr, wie du aussiehst.

Tut mir leid, mein Lieber. Das waren keine Metaphern.

Manchmal lese ich noch Bücher, die ich mit dir teilen möchte.

Seit ich am Land wohne, sehe ich keinen Sinn mehr darin, mich zu schminken.

Schau, da sitzt ein Vogel.
Der fliegt gar nicht.

Der Fluss führt so wenig Wasser wie noch nie. Ich notiere: Wenn alles früher austrocknet als gedacht.

Ich sage alles ab und nenne es Burnout-Prävention.

Der Vogel ist wieder da. Aus seinem Gefieder fallen Insekten. Er lässt sich fangen, wir halten ihn über eine Schüssel Wasser, er öffnet immer wieder den Schnabel. Wir bringen ihn in Sicherheit vor den Katzen.

Im Freibad. Mein Kind und ich im Wasser. Es ist so idyllisch, wie es scheint. Zuhause bemerke ich die durchgescheuerten Stellen an meinem Bikini.

Mein Mann würde eine Schaufel nehmen. Aber ich denke nicht, dass der Vogel die Nacht überleben wird.

Seit ich nicht mehr trinke, kann ich den Anblick von Trinkern nicht mehr ertragen.

Nur mich selbst kann ich nicht ad acta legen.

Wir begraben den Vogel im Wald.

Ich zähle die Traktoren, denen ich ausweichen muss.

Alle Amselweibchen sehen gleich aus.

Manchmal, an windstillen Tagen, vermisse ich dich.

 

Barbara Rieger

 

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freiTEXT | Suse Schröder

Mehlmottenmonate

In Hildes Aufgang plärrt und scheppert es nun auch tagsüber. Alle sind zuhause, aber nicht bei Hilde. Um das Alleinsein zu beenden, rührt sie Teig, backt ihn sandgolden, deckt den Tisch mit dem Sammeltassenservice, schlägt die Sahne, bevor sie sich setzt und einige Minuten nur schaut. Dann klingelt sie bei Frau Meyer. „Was wollen Sie?“, fragt die und legt die Kette vor. „Ich habe Selbstgebackenes. Wollen Sie?“ – „Stell ein Stück vor die Tür. Gern auch für meinen Mann.“ – „So kommen Sie doch!“ – „Nein, Du!“ Hilde setzt sich allein an die Kaffeetafel, lädt Kuchen auf die Teller, schenkt Kaffee ein. Dann schmatzt sie los, wechselt zwischen den beiden Gedecken hin und her, um das Gespräch am Laufen zu halten, um zu vermeiden, dass sie eine ist, die Selbstgespräche führt. Trotzdem strudelt sie in eine Einsamkeitswoge hinein, entscheidet sich aber aktiv zu werden. Sie hängt ihr Plakat in der Nachbarschaft aus: „Nicht mobil, aber in Bewegung! Treffpunkt: Fenster zum Innenhof, diens- und donnerstags 15:30 Uhr zur gemeinsamen Ertüchtigung. Hilde Straub“. Zwei Tage später winkt sie zur vereinbarten Zeit einer im gegenüberliegenden Fenster.

Gemeinsam kreisen sie Arme und Hüften, heben Beine und strecken sich. Hilde ist begeistert, bleibt aber am darauffolgenden Donnerstag allein, sortiert stattdessen alte Briefe, beschriftet Kassetten neu, sieht Ordner durch. Als sie den Papiermüll zum dritten Mal herunterbringt, bemerkt sie, dass ihr alles zu still ist und die Nachbar*innen zu laut. Dass, wenn alles anders ist, sie auch anders sein sollte. Sie packt ein paar Sachen und zieht in die Laube. Diese ist noch winterfest verrammelt. Bei Hubertus qualmt ein Laubfeuer. Hilde weiß, wenn er etwas zu teilen hat, kommt er vorbei. Umgekehrt nie. Seit dreißig Jahren.

Sie saugt den Geruch der vergilbten Gardinen ein, riecht Terpentin, muffige Polster, vergangene Sommer. Mit einem Lächeln tritt sie an den Vorratsschrank, richtet das Foto von Heiner. Nach einjähriger Trauer hat sie sich berappelt, wiegt fünf Kilo weniger und ist froh, keine der alten Schachteln zu sein, die sich in Kreuzworträtseln versenkt oder auf verwandtschaftliche Anrufe wartet. Heiners Habe bewahrte sie im Kopf und Herz.

Am ersten Laubenmorgen setzt sie sich steif mit brühendheißem Tee auf die Hollywoodschaukel, sieht sie Stachus. Zwischen Weg 3 und 5 umarmt der eine Süßkirsche. Drei Mal grüßt sie ins Leere, ehe er zurückwinkt. „Was machen Sie hier? Stachus, richtig? Von der Tanzschule Wohlgefallen?“, ruft sie und geht zum Zaun. Er nickt: „Stimmt. Ich warte auf meine Verabredung.“ – „Zum Tanz?“ – „Geht Sie das etwas an?“ – „Ich bin einsam. Lange leere Wochen liegen hinter mir.“ – „Gewahren Sie Abstand!“ – „Und Sie Anstand!“ Hilde entfernt sich, den Blick stur auf Stachus gerichtet. „Lassen Sie das!“, ruft er und Hilde winkt ab: „Warten ist nicht verboten.“

„Auf was warten Sie?“ – „Auf Ihre Verabredung. Dann sind Sie nicht allein.“ Sie schaut noch ein bisschen, bevor sie sich ihr Buch nimmt, Tee nachschenkt, beim Nachbargrundstück das Gartentor, Schritte stapfen und tippeln hört. Sie tritt an die Grenzhecke. „Hallo?“, ruft sie durchs Blattwerk hindurch. Ein rotgelockter Kopf, eine winkende Hand und zwei Worte schieben sich aus der Laubentür: „Ja! Saisonstart.“ Hilde versteht, ist sich für den Abend selbst genug. Am nächsten Morgen ruft es von der anderen Heckenseite: „Hallo?“ Mit Brötchenkrümeln am Mund wieselte Hilde hinzu: „Ja?“ „Abstand ist sicherer, aber schauen Sie mal, weiter rechts…, noch ein Stück…“ Hilde folgt, greift nach einer Blechbüchse, die wie ein Zylinder auf einem Zaunpfeiler sitzt. „Sie müssen straff ziehen“, ruft es aus der Laubentür. Hilde geht rückwärts, bis sie ins Polster sinkt. Die Strippe straff, die Büchse am Ohr. „Agent Uri hier. Die Glibberschleimschranke öffnet sich nur durch herzhaftes Lachen. Erzählen Sie einen Witz“, scheppert es in der Büchse. Hildes letztes Büchsentelefonat liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. „Nicht schon vorher lachen“, funkt Uri. Hilde holt Luft: „Also! Kommt ein Pferd in die Bar. Fragt der Wirt: Was machst Du für ein langes Gesicht?“ – „Hä?“, fragt Uri. Hilde hört ein Gackern: „Habt ihr Hühner?“ – „Superwitz. Nein! Das ist meine Mutter. Sie lacht gern laut.“ – „Zweiter Versuch! Was ist orange und hat einen Rucksack?“ Hilde hört es klatschen, eine rollende Büchse auf Terrassenbeton. Durch die Hecke sieht sie einen dürren, blassen Jungen auf allen Vieren: „Eine, eine Wander… Wanderine“, ruft Uri. „Der ist unschlagbar. Die Schranke ist geöffnet. Nähern Sie sich bitte langsam.“ Hilde schiebt eine Himbeerranke zur Seite. Uri hat Sommersprossen auf den Armen, auf den zerzausten Haaren eine Papierkrone. „Super! Jetzt weiß ich, mit wem ich die Welt rette. Wenn Sie Unterstützung oder Superkräfte brauchen, Sie wissen, wie Sie mich erreichen!“, ruft er und verschwindet in der Laube.

Zur Dämmerung klappern im Nachbargarten Teller. Hilde greift zum Telefon: „Agent Uri?“ – „Agent Uri hört.“ – „Monsteralarm. Gerade schlafen sie. Aber morgen früh wollen sie mit Komplimenten gefüttert werden. Ich brauche Sie!“ – „Alles klar! Wir schaffen das! Nachti!“ Hilde sendet ein Taschenlampensignal zur Nachbarlaube, setzt sich zum Abendbrot. In der Gaslampe knistern Nachtfalter. Sie schlemmt griechische Konserven, Weißbrot, Olivenöl. Zum Apfelmuskochen gönnt sie sich ein Glas Rotwein, schläft danach tief.

Die Komplimentenkanonade trifft Hilde nach dem Aufstehen. Nach dem letzten Kompliment ruft sie: „Bravo!“ und schiebt eine große Schale Apfelmus unterm Zaun durch. Uri verneigt sich: „Frau Hilde, wir sind ein tolles Team.“ In großen Happen schmatzt er das Mus, reibt sich den Bauch. Hilde verbeugt sich ebenfalls. Die nächsten Stunden wechseln zwischen Tee, Apfelkompott, Buch, Nickerchen und Stachus. Diesmal umarmt er eine Pflaume. Diesmal horcht er am Holz, reibt sanft mit der Wange über die Borke. Als Hilde fragt: „Likörchen oder kommt Ihre Verabredung gleich?“, dreht er sich abrupt um. „Nein, die ist schon da“, antwortet er, streichelt die Rinde und erklärt: „Die mögen das“, ehe er die Augen schließt und das Gesicht zurück an die Baumhaut legt, ehe er doch nach einem Likör greift. Auf den Grillrost legt Hilde an diesem Nachmittag eine Bratwurst und einen Grillkäse mehr. Stachus entscheidet sich für die Wurst, schlingt sie herunter, leckt sich Senfreste aus dem Schnurrbart, tanzt eine Pirouette. „Das könnte was werden“, sagt er und wirft Hilde Kusshände zu. „Mit uns?“ Hilde greift sich den Grillkäse.

Abends ist Hilde die erste: „Verstehst du, was hier passiert?“ Uri antwortet: „Na, wir sind hier und ganz nebenbei erledigen wir Monster.“ – „Ja, aber was ist mit unserem Alltag? Du musst doch lernen und spielen. Vor allem spielen.“ – „Stimmt. Ich finde Frau Hilde, Sie sollten uns regieren.“

Als im Nachbargarten die Lichter ausgehen, klaubt Hilde kleine Geschenke aus dem Vorratsschrank, dem Bücherregal und der Spielekiste. Mit Strippe und Leiter schleicht sie zur Weggabelung, behängt Äste und Zweige.

Morgens schleicht Stachus um die Bäume. „Finger weg!“, mahnt Hilde und treibt damit Uri ans Büchsentelefon. „Unordnungsmonster haben sich über die Bäume hergemacht.“ – „Frau Hilde, ich habe Höhenangst.“ – „Macht nichts, Uri. Ich halte unten die Stellung.“

Uri tritt aus dem Gartentor. Ganz krumm geht er. „Du schaffst es!“, ruft Hilde und Stachus drückt beide Daumen. In den Bäumen glitzert und flattert es. Uris Augen leuchten und flackern zugleich. Hilde wartet an der Weggabelung. Ein Wind zieht auf. Eine Raupe fällt ihr auf die Schulter. „Nur Mut, Uri.“ Er umkreist die Bäume, schaut, staunt: „Wie eine Treppe.“ Langsam kriecht er hinauf. Hilde holt einen Korb mit Papierkrone und Himbeerlimonade, wirft ein Strippenende hinauf und befestigt das andere am Korb. Gierig schlürft Uri die Brause, ehe er sich die Krone aufsetzt und die Schätze birgt. Hilde ist stolz, die hinzugeeilte Mutter stolzer. Stachus klatscht: „So, meine Damen! Umarmungen und Nähe braucht‘s. Wollen Sie auch mal? Das tut gut. Beiden!“ Und wirklich, Uris Mutter wirft sich richtig an den ihr zugewiesenen Baum.

Hilde geht zurück in die Laube, kehrt mit gezuckerten Erdbeeren in Kondensmilch und einem Schnaps zurück. Auch den nimmt die Mutter begeistert entgegen. Hubertus schaut, was sie dort treiben, schenkt sich einen ein und eine Runde Blechkuchen aus. „Wir haben gewonnen!“, ruft Hilde, als Uri sich den Stamm hinunterrutschen lässt. Sie lacht viel dieser Tage, weint abends im Bett. Aber es sind die wenigen Abende, die, an denen sie noch einmal aufsteht, sich ein Kompott gönnt, Oliven oder eine Konservenbüchse mit Champions und Parmesan. Für diesen Sommer fühlt sie sich gewappnet.

Nach sechs Wochen holt sie ein paar Sachen aus ihrer Wohnung. Lebensmittelmotten und die Meyer begrüßen sie im Hausflur. „Hast du auch welche?“, fragt die. „Nein, Frau Meyer, ich habe rechtzeitig meine Vorräte verbraucht“ und dreht ihr eine lange Nase.

Abends prostet Hilde in die Runde ihrer Lieben, während die Nachtfalter in den Teelichtern verglühen.

 

Suse Schröder

 

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freiVERS | Chloé Derain

kein ort nirgends

may have broken every window, but the house, the house is dark
— "happens to the heart", leonard cohen

FREMD,
von außen,
von dem außenland,
von der außenwelt,
von einem exoplaneten,
den niemand kennt (schwarzes loch),
aus einem loch gekrochen,
i danced myself right out of the womb,
aus dem schlüsselloch einer tür geklettert,
heraus in der welt,
heraus in einem anderen land (meine geburt),
is it so strange to dance so soon,
anders aussehend,
anders ausredend,
noch immer ausbleibend (entzweigerissen),
bleibend verloren,
bleibend vergessen,
verblieben in der morgenwelt (jetzt abreisen),
i liken it to a balloon¹,
nach morgen suchend,
nach sterbenden süchtig,
eines sichfremdfühlens schuldig,
KEIN ORT NIRGENDS².

 

¹ zitate aus "cosmic dancer" (t. rex).
² titel des romans "kein ort. nirgends" (christa wolf)

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Chloé Derain

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freiTEXT | Anika Hoffmanns

Wachgang

Ich bemerkte es nicht sofort. Ich vermisste ohnehin nur eine Person in diesen Tagen. Die Anwesenheit oder das Fehlen anderer nahm ich kaum wahr.
In dieser Zeit sprach ich manchmal über Tage mit niemandem und ging wenig vor die Tür.
Ich bildete mir ein, ich würde die Situation besser verstehen, hätte ich es schneller bemerkt. Aber das stimmte vielleicht nicht.
Das Internet war ausgefallen, und ich konnte weder meine Eltern noch meine Schwester telefonisch erreichen. Schließlich begann ich doch, mir Sorgen zu machen.

Zu meinen Eltern war es ein kurzer Fußweg, fünf Minuten, wenn man sich beeilte, zehn, wenn man langsam ging.
Es war April, und der Stadtpark und die Felder waren frisch und grün und die Wolken weiß wie Schaum. Die Windräder standen still. Etwas stimmte nicht.
Eine ganze Menge Autos standen auf der Straße, doch die Motoren waren aus. Die Ampel schaltete auf grün. Niemand fuhr. Niemand hupte.
Ich blieb stehen. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. Ein Vogelschwarm stob aus einer Baumkrone in den Himmel. Das Flügelschlagen kam mir laut vor. Auf einer Bank am Rand des Stadtparks lag eine Frau und schlief. Die Vögel weckten sie nicht. Sie war zu ordentlich gekleidet, um auf einer Bank im Stadtpark zu schlafen. Kurz fragte ich mich, ob sie tot war, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen.

Auf der Straße war sonst niemand. Nur die insgesamt zehn Autos standen an der Ampel hintereinander. Von meiner Position aus konnte ich die Menschen, die darin saßen, nicht sehen. Ich ging näher heran. Dabei wählte ich erneut die Nummer meiner Schwester. Sie hob nicht ab. Bei meinen Eltern sprang nach wenigen Sekunden der Anrufbeantworter an.

Der Fahrer des ersten Autos in der Schlange war ein Mann um die sechzig in einem weißen Hemd und grauer Hose. Sein Kopf lehnte an der Fensterscheibe. Er schlief. Da, wo sein Mund der Scheibe am nächsten war, beschlug das Glas. Ich traute mich nicht zu klopfen.
Das junge Pärchen im nächsten Auto kannte ich vom Sehen. Auf dem Rücksitz stand eine Babyschale, in dem ein Neugeborenes lag. Die Eltern hielten sich an den Händen. Sie atmeten gleichmäßig, die Augen geschlossen. Ich sah, dass die Pupillen der Mutter sich unter den Lidern bewegten. Kondenswasser rann die Scheiben hinunter.

Ich ging jedes Auto ab. Alle schliefen. Wieder und wieder sprang die Ampel im Wechsel auf Grün und Rot.
Ich wandte mich um und folgte der Straße, die am Stadtpark entlangführte. Ich erreichte die Wohnsiedlung, in der meine Eltern wohnten. Ich drückte auf die Klingel. Ohne zu warten schloss ich die Tür auf. Ich rief in den Flur und die Treppe hoch. Nichts rührte sich.
Meine Mutter lag auf der Couch im Wohnzimmer. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt. Ihre Hände lagen auf ihrem Bauch. Ich stupste sie an. Sie machte ein murmelndes Geräusch und drehte sich von mir weg.
Ich rief nach ihr, erst leise, dann ungehaltener. Ich rüttelte an ihrer Schulter. Sie wurde nicht nicht wach.
Mein Vater lag vollständig angezogen auf dem Teppich im Schlafzimmer. Er lag kerzengerade, als hätte er sich absichtlich auf den Teppich gelegt. Neben ihm stand der Staubsauger. Ich schaltete ihn an. In einer jähen Anwandlung hielt ich die Düse an seinen Pullover, dann an sein Ohr. Er wachte nicht auf.
Der Mülleimer in der Küche roch schlecht. Fliegen umschwirrten ihn.
Ich schrieb meiner Schwester eine kurze Nachricht. Seit Tagen hatte mir niemand mehr geantwortet. Es war mir nicht aufgefallen. Ich wartete seit Monaten nur auf Nachrichten von Johannes. Es kamen keine.

Ich wählte verschiedene Nummern. Nach langem Zögern wählte ich auch Johannes’ Nummer. Eine Computerstimme erklang, die sagte, die Nummer sei nicht erreichbar. Mir wurde schlecht.
Die Stille im Haus war bedrückend. Ich schaltete das Radio ein, doch es ertönte nur Rauschen. Ich schaltete auf CD um. Die ins Leere drängende Musik erschreckte mich. Ich machte sie wieder aus.
Aus dem Kühlschrank nahm ich mir einen Erdbeerjoghurt und aß ihn. Dann lief ich zurück zur Straße. Neun Autos standen an der Ampel. Ich war mir sicher, dass es eben zehn gewesen waren. Ich sah über die Schulter, dann ging ich schnell zurück nach Hause. Die letzten Meter rannte ich.

Ich stand am Fenster in der zweiten Etage und sah hinaus. Überall waren dunkle Fenster. Der Abendhimmel war blau und weit. Die Wolken hatten sich verzogen. Lange sah ich in den Himmel und hielt Ausschau nach Flugzeugen. Es kamen keine.
Ich fragte mich, ob es Autounfälle gegeben hatte.
Flugzeugabstürze, Brände.
Ich fragte mich, ob die Schlafenden verhungern oder verdursten würden.
Meine Augen brannten. Ich legte mich ins Bett und deckte mich zu. Dass ich nicht mehr aufwachen könnte, bereitete mir keine Sorgen. Ich hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen.
Allmählich begehrte ich den Schlaf so verzweifelt, als wäre er eine Person.
Ich schaffte es, leicht wegzudämmern, indem ich mir vorstellte, Johannes läge neben mir. Ich stellte mir vor, wie sein Körper sich anfühlte. Später lag ich mit Herzrasen im Dunkeln. Es war besser als sonst. Normalerweise hielt mich die Vorstellung wach, dass er in diesem Moment mit seiner neuen Freundin schlief.

Am folgenden Morgen nahm ich mir das Auto mit dem Pärchen und dem Baby vor. Ich nahm das Baby aus dem Sitz und drückte es an mich. Es roch sauber, nach Mensch und Muttermilch. Nachdem ich eine Weile zugehört hatte, wie es leise atmete, legte ich es zurück.
Ich kniff den Vater in den Arm. Er schnarchte auf. Ich hielt der Mutter die Nase zu. Ihr Mund öffnete sich, ansonsten geschah nichts. Ich schrie ihr ins Ohr. Es kam mir falsch vor. Es kam mir vor, als würde der Schrei weit fort getragen. In den Autos blieb alles still. In den Sträuchern am Straßenrand raschelte es. Ich floh nach Hause und setzte mich in mein Auto. Ich verriegelte die Türen von innen.

Für den Weg ins Stadtzentrum brauchte ich lange. Nahezu jede Straße wurde von Autos blockiert. Ich traute mich nicht auszusteigen. Ich sah es auch so. Ich fuhr auf Gehwegen und Mittelstreifen. Manche Menschen lagen im Gras neben den Geh- und Radwegen, aber nie darauf. Einmal musste ich umkehren, weil ordentlich abgestellte Fahrräder mir den Weg versperrten.
Die Straße, in der Johannes wohnte, lag in gleißendem Mittagslicht. Gegenüber bellte ein Hund, ansonsten war alles ruhig.
Ich schlüpfte durch die Terrassentür, von der ich wusste, dass sie immer offen war. Ich schloss die Augen, um mir vorzustellen, dass ich erwartet wurde.
Er lag in seinem Bett. Ihm zugewandt schlief eine zierliche blonde Frau. Ihre Köpfe waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts. Sie war nackt. Ich trat gegen das Bett.
Auf dem Boden lag ihre Kleidung. Ich fand ihre Handtasche im Wohnzimmer und darin die Geldbörse mit ihrem Pass. Sie lebte im Nebenort. Ich kannte die Straße nicht.
Es kostete mich Mühe, sie anzuziehen. Noch schwieriger war es, sie hochzuheben. Ich ließ sie auf den Boden sinken und griff unter ihre Achseln. Sie stöhnte leise. Ich zog sie in den Flur. Als ich sie endlich die Treppe hinunter und in den Sessel im Flur gehievt hatte, brauchte ich eine Pause.
Die Küche war unaufgeräumt und stank. Ich wusch die Töpfe und Pfannen in der Küche ab und stellte die Spülmaschine an. Im Kühlschrank lagen zwei Nackensteaks.
Mit dem Fleisch ging ich zum Haus gegenüber. Der Hund stand hinter der Gartentür. Als er mich sah, begann er gegen die Tür zu springen. Das Fenster daneben war gekippt. Ich ließ das Fleisch durch die Lücke ins Innere fallen. Im Laufschritt ging ich zurück.

Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis sie schließlich in meinem Auto auf dem Rücksitz lag. Ich schwitzte. In der Küche trank ich ein Glas Wasser, dann machte ich mich auf den Weg. Ich fuhr über die Landstraße. Einmal hielt ich an, um einen schlafenden Polizisten zur Seite zu ziehen, der quer über dem Mittelstreifen lag. Nach kurzem Zögern öffnete ich das Holster und nahm die Pistole heraus. Sie wog schwer in meiner Hand.
Links und rechts von der Landstraße war Birkenwald. Lichtpunkte tanzten auf dem Asphalt. Mit dem Auto im Rücken stand ich lange da und starrte in den Wald. Ich zielte, schoss aber nicht.
Systematisch fuhr ich die Straßen im Nebenort ab. Am Abend hatte ich die richtige gefunden. Es war ein Haus mit sechs Parteien und einer Bank im Vorgarten. Ich probierte verschiedene Schlüssel aus, bis ich den richtigen fand.

Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Ich zog sie an den Achseln die Treppe herauf. Am liebsten hätte ich sie im Treppenhaus liegengelassen. Ich tat es nicht. Ich schleifte sie durch ihre Wohnung ins Schlafzimmer, ohne mich umzusehen.
Auf dem Rückweg regnete es. Ich dachte an die Frau auf der Bank im Park. Ich widerstand dem Drang zu weinen. Zuhause duschte ich, dann stieg ich erneut ins Auto und fuhr zu Johannes.
Die Spülmaschine brummte. Durch die Küche war frische Luft gezogen. Es dämmerte.
Ich ging die Treppe hoch. Ich legte mich neben ihn. Ich besah und befühlte jeden Zentimeter seines Gesichts. Angst, dass er aufwachen könnte, hatte ich jetzt nicht mehr. Es wurde Nacht.

 

Anika Hoffmanns

 

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freiVERS | Angie Volk

Hákarl

Tag drängt in den Raum, grau.
Ich schaue raus, mein Nachbar steht auf dem Balkon,
er ist auf Hüfthöhe abgeschnitten.
Er raucht und kratzt sich den Bauch, bohrt mit einem Finger im Nabel.
Ich ziehe den Vorhang zu, bleibe noch einen Moment so stehen,
dann setze ich mich zurück auf das Bett,
wische ein paar Krümel beiseite,
Pistazienschalen,
greife nach meinem Laptop.
Das Computerlicht scheint mir ins Gesicht, blau.

Ich fahre mit dem Mauszeiger über die Seiten von eben,
nutze dafür den spröden Gummiknopf auf der Tastatur.
Er fühlt sich an wie etwas, das einem Tier unter den Pfoten wächst.
Ich scrolle zu dem Abschnitt, bei dem ich eben noch war, lese:
Die Fischerin sagt, einen Grönlandhai als Beifang haben,
das sei wie in einen Hundehaufen zu treten.

Es gibt Bilder von Grönlandhaien,
auf denen liegen sie mit offenen Mäulern auf dem Rücken,
haben die Farbe von Beton, der lange Witterung ausgesetzt war.
Ich stelle mir vor, dass sie sich anfühlen wie Steine, die man in einem Flusslauf findet,
kalt,
dumpf,
gebrochen
und überzogen mit einer feinen Schleimschicht.

Neben ihnen stehen und hocken meistens strahlende Männer mit Spießen in der Hand,
halten schlaffe Flossen in die Kamera
und jedes Mal sieht es aus, als würden sie mit ihrem Penis posieren –
Schaut her,
er ist sehr groß.

Der Grönlandhai schwimmt so langsam, dass unklar ist, wie er es eigentlich schafft zu jagen.
In seinem Magen fanden Forscher:innen
Robbenreste,
große Fische,
ab und zu auch Teile von Eisbären.
Es wird vermutet, dass er sich an seine Beute anschleicht,
wenn sie schläft,
dass er auf verendete Tiere wartet,
die vom Rand des Polareises ins Meer
hinabsinken.

Oft leben Parasiten auf den Augäpfeln des Grönlandhais, die aussehen wie eine Mischung aus Mücke und Wurm.
Sie bringen die Iris des Hais zum Leuchten.
Es gibt Mythen und Sagen, die beschreiben das grüne Leuchten des Grönlandhaiblicks.
Manche behaupten, er hypnotisiere damit seine Opfer,
mache sie gefügig
und führe sie ganz gemächlich in seinen Schlund.

Grönlandhaie leben im arktischen Meer,
sie sind noch nicht besonders gut erforscht.
Besonders rätselhaft war lange Zeit ihr Alter.
Auffällig ist, dass sie nur sehr langsam wachsen,
aber trotzdem sehr groß werden.
Ich öffne einen weiteren Tab und google:
18 feet in meter
In einem Kasten erscheint die Antwort:
5,4864
Ich kann mir nicht vorstellen, wie groß das ist,
18 Füße hingegen schon.
Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis,
dass die Haie vermutlich sehr alt werden.
Nur beweisen konnten sie es lange nicht.

Irgendwann entwickelte ein Physiker ein Verfahren,
durch das es möglich wurde, das Alter von Lebewesen anhand ihrer Augen zu bestimmen.
Die Linse wächst nach dem ersten Lebensjahr kaum noch,
vakuumiert stattdessen einen Teil der Atmosphäre vom Tag der Geburt.
Sie wird so zur Zeitkapsel.
Misst man den Kohlenstoff-Gehalt im Linsenkern und
vergleicht ihn mit der Kurve des Kohlenstoff-Gehalts,
lässt sich das Geburtsjahr bis auf drei Jahre genau ermitteln.

Einem Studenten der Meeresbiologie fiel ein,
dass der Grönlandhai manchmal unfreiwillig Beifang wird,
erinnerte sich vermutlich an das Gleichnis des Hundehaufens
und beschloss, die Häfen am Polarmeer abzufahren.
Sein Ziel war es, möglichst viele Linsen zu ernten, um mit ihnen das Alter der Haie zu ermitteln.

Ich stelle mir den Studenten vor,
wie er über toten Grönlandhaien kniet,
ihnen mit einem Eisportionierer die Augäpfel aus den Köpfen gräbt,
sie in einen Gefrierbeutel gleiten lässt und
dann mit federnden Schritten verschwindet.
Ich stelle mir die Fischer:innen vor,
die das Ganze beobachten,
stelle mir vor, wie sie mit den Schultern zucken und murmeln:
Wissenschaft.

Nach fünf Jahren hatte der Student genug Linsen gesammelt,
insgesamt achtundzwanzig Paare,
und die Meeresbiolog:innen verkündeten die Sensation:
Der Grönlandhai könne bis zu 500 Jahre alt werden.
Er sei damit das älteste bekannte Wirbeltier der Welt.

Das wachsende Interesse an der Erforschung des Grönlandhais
hat viel zu tun mit dem Interesse an entlegenen Meeresregionen generell,
mit dem Wunsch, den Klimawandel besser zu verstehen,
vor allem aber auch mit einem Kampf,
hinter dem Rohstoffe stehen.
Faszinierend ist für manche auch das Potential des Grönlandhais,
Sinnbild zu werden für die Relativität der Zeit:
Stell dir vor, du schwimmst im Eismeer und wirst 500 Jahre alt und niemand weiß es.
Bist du dann alt?

Eine Fliege landet auf meinem Unterarm, ich versuche sie zu fangen,
als ich vorsichtig die Hand öffne, ist sie schon längst weg.

Ich frage mich:
Wie entsorgt man einen unfreiwillig gefangenen jahrhundertealten Hai ohne Augen?
Die Frage klingt wie ein Witz,
bei dem die Pointe politisch unkorrekt ist.
Die Antwort lautet:
Man isst ihn.

Amazon schlägt mir vor:
Hákarl – fermentierter Grönlandhai (Gammelhai),
original isländische Spezialität,
100g
(!!!! Ab Mitte Mai erfolgt der Versand nur noch in einer Kühlbox !!!!)

Das Fleisch des Grönlandhais ist eigentlich giftig.
Sein Blut besteht zu großen Teilen aus Harnstoff.
Um das Fleisch essbar zu machen wird es fermentiert.
Dazu wird es in groben Kies vergraben,
mit Felsstücken beschwert und so bis zu drei Monate gelagert.
Dann wird das Fleisch getrocknet,
bis es fest ist und mit Hverabrauð gegessen,
einem Brot,
dass man nahe heißer Quellen vergräbt und dort einige Stunden dünstet.
Dazu trinkt man Brennivín,
isländischen Brandwein,
der auch Schwarzer Tod genannt wird.

Ich gehe nochmal zum Fenster,
mein Nachbar sitzt inzwischen auf einem alten Gartenstuhl,
hat sich tief in die Lehne zurücksinken lassen
und seinen Kopf in Richtung Himmel gedreht.
Die Wolken sehen aus,
als hätte jemand über ihnen Tinte verschmiert.

Zwei Norweger sind ein Jahr im Schlauchboot unterwegs gewesen,
haben den Kadaver eines schottischen Hochlandrindes
über das Eismeer gezogen
und versucht einen Grönlandhai zu fangen.
Einer von ihnen hat ein Buch über die Expedition geschrieben.
Auf die Interviewfrage,
ob er das Meer nun besser verstünde,
ihn die Suche nach dem Grönlandhai Weisheit gebracht habe,
antwortete er:
Nicht im Geringsten.
Das Meer zu verstehen hieße,
den Ursprung der Welt zu verstehen.
Und das Meer sei unendlich.

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Angie Volk

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freiVERS | Carl Manzey

straßenkind

zwischen brandschutzmauer und garage,
umgeben von fassaden, die hundert lichter werfen
im winter, in meinem hof,
umgeben von fenstern, deine krone
ist efeuumwunden, deine zweige
grüngeflochten, dein laub wirfst du
später ab, als alle anderen: der thujabusch
an deinem fuß bleibt immer grün,
der flieder, die platane neben dir
sind längst nackt, ehe du dein kleid verlierst,
deine wurzeln streiten mit beton seit
vielen jahren, deine kindheit ist für mich
ein menschenleben, doch sehe ich dich an,
frage ich mich, ob du je erwachsen wirst.

im winter sitzen tauben
in deinem geäst, versunken
in sich selbst sinnieren sie vom sommer:
den großen schwärmen, würmern, korn,
sie harren der kälte, doch sind sie
zumindest zu zweit.

mit wem sprichst du, wenn dir der winter lang wird?
wer teilt mit dir den rhythmus der jahreszeiten?
vielleicht der thujabusch, vielleicht die platane.

ich beobachte dein treiben
im frühling, bin zeuge deiner knospen,
doch was weiß ich vom leben eines ahorns?
ich sitze vorm fenster am klavier,
was ich spiele geht nur dich und mich
und die tauben etwas an.

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Carl Manzey

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freiTEXT | Sven Beck

Frau Fröhlich

Von außen betrachtet waren Fröhlichs ein nettes, unauffälliges Ehepaar und wer nicht über anständigen Geruchs- und Hörsinn verfügte, konnte das glauben. Glücklicherweise lebten sie in der ausgestorbensten Straße des Dorfes – nur in der anderen Reihenhaushälfte wohnte eine Familie. Meine Familie. Bis ich sechs war, teilte ich ein Zimmer mit meiner Schwester. Mit acht hatte ich ein eigenes. Da musste es angefangen haben mit den Geräuschen. Sie schwappten durch die Wand aus dem Nachbarhaus. Ich hörte sie, wenn ich im Bett lag.

Gekocht habe ich, für alle, rief Herr Fröhlich, für die ganze Gesellschaft.
Einmal, kreischt die Frau: Und immer noch willst du Dank.
Ich kann mich nicht erinnern, dass der kam.
Weil ich die restlichen dreihundertwasweißichwieviele Tage dein verdammtes Essen mache, Rudi!
Ich zwing dich nicht, bei mir zu sein, Magdalena. Ich zwinge dich nicht, bei Gott!
Seine Stimme dröhnte. Ich dachte nicht viel. Nur: Wie kann man so leben. So laut.
Geh! Wenn du gehen willst, geh!
Vielleicht sollte ich das.
Dann mach, verdammte Scheiße!

Klatschen. Drei, vier Mal. Dann war Ruhe. So ging das öfter, auch meine Schwester hörte es. Wir erzählten es Mutter. Es hielt vom Schlafen ab.
Mutter legte sich die Hand auf den Mund und tuschelte Vater zu. Sie riefen im Ordnungsamt an, Vaters Arbeitsstelle. Sie erklärten die Situation und erbaten sich einen spontanen Urlaubstag. Mutter zitierte drei Freundinnen zur Hilfe. Dieses Vorhaben ging nur gemeinsam. Am nächsten Morgen klingelte die Haustür und Vater verteilte Handschuhe und Maler-Anzüge. Zuerst schraubten sie die Betten auseinander. Dann schoben sie die Möbel um. Sie hievten und zogen, drückten und pressten, bis die Zimmer leer waren: meins und auch Klaras. Zum Schluss tauschten sie alle Möbel mit ihren eigenen aus und strichen unsere neuen vier Wände weiß. Es war lange dunkel, als Mutter ein Tablett heißen Tee brachte und sich bei allen bedankte.
Den Rest, sagte sie, schaffen wir allein.
Und als sie die Tür hinter den Helferinnen schloss: Was bin ich froh, dass die Kleinen jetzt woanders schlafen.

Umso schwerer für sie: Mit ihrem leichten Schlaf schreckte sie auf bei jeder Kleinigkeit. Dann lag sie da und machte sich einen Kopf: Übers Schreien. Übers Klatschen. Über den morgigen Tag – wie viele Stunden ihr blieben. Sie war überwacht, dachte an den Notruf, Frau Fröhlich, Gerechtigkeit. Sie zögerte, haderte und gewöhnte sich doch letztlich an alles.
Eines Nachts aber wurde es so laut, dass wir Kinder sie wieder hörten. Sogar bei der Hundertjährigen gegenüber ging das Wohnzimmerlicht an. Eine halbe Stunde später blinkte blaues Licht in hellen Streifen an meine Decke. Daraufhin hörten wir lange nichts.
Ein paar Monate später war Herr Fröhlich gestorben.
Damit hatte niemand gerechnet. Weder ich noch Klara noch Mutter noch Vater, nicht einmal Frau Fröhlich. Zumindest beteuert sie das, sagte Mutter.
Sie wäre selbst schockiert gewesen, sagte Frau Fröhlich. Wie sie vom Friseursalon nach Hause gekommen wäre und ihren Rudi auf dem Sessel liegen sehen hätte. Wie er dann nichts gesagt hätte. Einfach tot gewesen wäre. Wohl was am Herzen.

Das glaube ich nicht, sagte Mutter.
Warum, fragte ich.
Mutter seufzte, überlegte und sagte: Sven, ich denke, er hat sich totgetrunken.
Warum, sagte ich wieder, aber darauf wusste sie keine Antwort. Auch Frau Fröhlich wusste sie nicht.
Klara saß auf der Bettkante und starrte an die Tapete. Ich setzte mich zu ihr. Wir saßen eine Weile. Dann umarmte ich sie. Wir weinten nicht.
Früher, als Klara und ich im Gartenstreifen einen Ball kickten, stand er am Zaun. Er rauchte.
Wisst ihr, begann er, ich war auch mal Spieler, ein ganz großer war ich, das war… lass mich überlegen… 98 muss das gewesen sein! 1998, Mensch, bin ich alt. Im Waldstadion war das, 40.000 Menschen, kannst du dir das vorstellen?
Klara staunte und flüsterte mir etwas zu.
Wäre da nicht diese Knieverletzung gewesen, sagte er und trank einen Schluck Bier. Dann ging er die Verandatreppe hoch ins Wohnzimmer und widmete sich dem Fernseher: Richterin Barbara Salesch, Hör mal, wer da hämmert und wie sie alle hießen.
Gerade zeigten sie Auf Streife. Er dachte: Es muss wohl schon Nachmittag sein.
Wie viele Stunden hatte er? Zwei? Vier? Eine Weile würde sie außer Haus sein, das gab ihm Zeit. Zeit, Geheimbierkästen zu sortieren, Geheimschnäpse zu leeren, Geheimschubladen nachzufüllen. Alles musste man geheim halten bei dieser Frau. Und er müsste etwas essen, das auch. Nicht viel, ein Stück Kalbsfleisch, Zwiebeln, aber er müsste es selbst machen und etwas übrig lassen, das würde sie erwarten. Oder aber, er beseitigte nach dem Kochen alle Spuren, putzte blitzeblank, aber wie würde er sich dabei vorkommen, dachte er und verschob die gesamte Frage, indem er sich eine Zigarette aus der Schachtel nahm und sie sich im Türrahmen anzündete. Die Position war ausgeklügelt, hier konnte er einerseits verfolgen, was der Bildschirm ihm anbot, andererseits den Rauch an die freie Luft blasen, sodass sie es später nicht riechen würde. Waren die eigentlich echt, diese Fälle? Wahrscheinlich nicht. Aber sie spiegelten die Wahrheit wider, darum ging es, dachte Herr Fröhlich, echt kam auch er sich schon lange nicht vor.

Frau Fröhlich sah man selten. Um acht Uhr stieg sie ins Auto und um acht Uhr parkte sie ein. Obwohl sie im Salon Sechs-Stunden-Schichten hatte, blieb sie länger weg und machte Überstunden. Unbezahlt. Zu sich selbst sagte sie:
Das glaubt mir kein Mensch, kein Mensch glaubt mir das. Und: Die würden mich für verrückt halten. Oh, Gott, oh, Gott.
Wenn sie die Treppenstufen zur Haustür nahm, war ihr Blick angespannt und bevor sie den Schlüssel drehte, atmete sie tief durch. Einmal beobachtete Mutter sie durchs Badezimmerfenster, sah, wie sie volle Einkaufstüten aus dem Kofferraum lud und rief:
Guten Abend, Frau Fröhlich! Kann ich helfen?
Das ist lieb. Sie sind ja selbst beschäftigt mit den Kleinen.
Sind Sie sicher? Ich kann wirklich schnell raus!
Ach das bisschen hier, das kriege ich schon –
Hin, wollte Frau Fröhlich sagen, aber eine Gurke fiel vornüber. Und was machte Frau Fröhlich? Sie beugte sich zur Gurke hin, vergaß kurzerhand das Dutzend andere Lebensmittel in ihren Armen, und munter kullerte und purzelte es heraus: Lauchzwiebeln, Kochkartoffeln, Blattspinat und so weiter. Die Sauerei war angerichtet.
Ich komme!, eilte Mutter, ohne eine Antwort abzuwarten. Frau Fröhlich weinte. Einige Minuten lang schluchzte sie in allen möglichen Tonlagen und die überforderte Mutter stand da. Holte Toilettenpapier. Umarmte. Wartete:
Ist ja gut, sagte sie: Ist ja gut.
Und sie erfuhr es: Nämlich, dass Herr Fröhlich ein Trinker war der ganz üblen Sorte, und ja, dass er sie wohl auch, so deutete Frau Fröhlich es an, geschlagen hatte. Und sie – weiß Gott warum, war eine nette, talentierte, und, das sah Mutter in den Tränensäcken, dem feuchten Lächeln darunter, den zaghaften Versuchen, zurückzustreichen, liebenswürdige Frau, die sich das eben einfach antat.
Wenn Frau Fröhlich Haare schnitt, gab sie sich alle Mühe, nicht daran zu denken, was ihr Gatte tat. Sie wollte unbedingt, sie klammerte sich an den Wunsch, dass es ihr von Herzen egal wäre, wenigstens einige Stunden lang, wenigstens jetzt. Denn im Grunde war es das. Sie käme zurück, wenn sie zurückkäme und dann würde sie sehen: Wenn nichts passiert war, wozu all der Stress. Und wenn doch? Wenn doch? Dann würde sie sich früh genug damit beschäftigen, dachte Frau Fröhlich. Obwohl, so richtig dachte sie es nicht, denn diese Gedanken kamen und gingen seit Jahren, sie kannte sie auswendig und hatte schon lange keine Kontrolle mehr darüber. Sie lächelte einem jungen Mädel durch den Spiegel zu und tastete nach der gezackten Schere.
Und die Schule? Gehst du noch zur Schule? Meine Güte, ich kann das gar nicht mehr einschätzen…
Noch ein Jahr. Das Mädchen lächelte: Dann bin ich fertig.
Frau Fröhlich rückte ihren Kopf mit den Zeigefingern um einige Zentimeter aufwärts. Das war ein gutes Alter. Das Buffet, aus dem sie Konversationshäppchen wählen konnte, war unermesslich. Man musste nur ein paar Fetzen wie „Erfahrungen machen“ reinwerfen und freudig plätscherten die Träume.
Du hast ja alle Zeit der Welt, sagte sie und dachte, dass sie das auch gedacht hatte, damals. Jetzt war sie weg, die Zeit. Vor fünf oder zehn Jahren, war sich Frau Fröhlich sicher, hatte der liebe Gott sie verlassen. Seitdem ist er nicht zurückgekehrt. ‚Die ganze Sache‘, wie sie ihre Ehe vor Freundinnen (den wenigen, die sie noch hatte) betitelte, ließ es nicht anders zu. Wenn man mit einem Alkoholiker zusammenlebt, passiert etwas Seltsames: Alles andere beginnt zu verschwinden. Die Trinkerei wird von seinem Problem zum gemeinsamen Problem zum einzigen Problem, ohne dessen Lösung nichts geht. Gehen darf.

Es war schon oft so, dass er gelobt hatte, trocken zu werden. Er würde sich schließlich auch wünschen, dass es anders wäre. Er verfluchte sich und hasste sich. Er hatte Angst, dass sie ihn verlassen würde. Sie habe auch ein Recht auf Leben, sagte sie und er wusste, dass es stimmte.
Magdalena.
Er liebte Magdalena.
In der schweißgemoderten Stickluft einer örtlichen Turnhalle waren sie sich begegnet. Zusammen hatten sie Stangen für Volleyballnetze abgesteckt, beim offenen Training der Ü25. Er hatte eine hellbraune Lederjacke und kurzes, schwarzes Haar. Sportstudent im sechsten Semester. Im ersten Blickaustausch hatte keiner der beiden etwas Besonderes gesehen.
Nach der Stunde, mit der Gruppe im Gasthaus, waren beide bis zum Ende geblieben. Die Woche darauf und darauf auch wieder. Etwas an ihm sagte: Ich bin auf deiner Seite. Das gefiel ihr. Als die Lokaltüren schlossen, begleitete er sie den ganzen Weg. Irgendwann lud sie ihn hinauf. Ein Jahr darauf hatten sie geheiratet.
Magdalena.
Manchmal war er noch da, der Funken. Natürlich war er alt geworden, körperlich alt: Unter der Brust zählte sie dreizehn senkrechtgezogene Dehnungsstreifen. Am linken Oberschenkel drei, am rechten vier. Aus den Fusseln, die sie in ihrem Bauchnabel fand, hätte sie pro Monat zwei Socken stricken können. Trotzdem: Wenn er sein Shirt auszog, Jeans und Unterhose abstreifte, sich zu ihr legte, sie bedeckte, umarmte, ihren Hinterkopf küsste und sagte: Es tut mir leid; wenn er dann weinte, war alles vergessen. Frau Fröhlich liebte ihn. Sie müsste es einfach schaffen irgendwie… koste es auch ein ganzes Leben. So war die Liebe, dachte Frau Fröhlich und sagte:
Schon okay. Pscht, pscht… Schon, okay.
Er hatte es versucht.
Er ging von sich aus hinaus zum Einkaufscenter, spazierte, genoss die frische Luft. Der Wind. Sogar die Menschen, die ganzen Menschen. Kinder waren auf die Welt gekommen, Familien hergezogen. Alte Freunde saßen vor der Schänke, lachten über ihn oder zogen Fratzen. Herrn Fröhlich war das egal, es gab nur eins, das zählte: Veränderung.
Ich kann das, dachte Herr Fröhlich, ich kann das und ich werde es beweisen. Der Spargelverkäufer auf dem Center-Parkplatz sagte:
Du hast Glück, der Chef ist gerade gekommen. Warte ein bisschen, ich hole ihn her.
Und Herr Fröhlich wusste, dass es Schicksal war, aber er sagte:
Ein glücklicher Zufall.
In aller Knappheit schilderte er seine Notlage: nur vorübergehend und Erfahrung im Einzelhandel und voll motiviert und Verstärkung für ein tatkräftiges Team und so weiter. Der Vertrag war unterschrieben, an Ort und Stelle. Zuhause genehmigte er sich ein Glas. Eins. Nicht zwei, nicht drei, ein einziges. Augustiner-Hell. Ich habe es mir verdient, dachte er, ich habe den ersten Schritt gemacht, das war richtig. Bald werde ich zu den Anonymen Alkoholikern gehen, alles zu seiner Zeit, ich werde Hilfe suchen bei Gott, ich werde mich entschuldigen. Ich schulde es dem Leben. Ich habe mir so oft den Tod gewünscht, nicht nur aus Spaß, nicht nur einmal, ich habe es ernsthaft versucht, ich ging wie ein lebender Toter, das alles hat jetzt ein Ende, dachte Herr Fröhlich und nahm einen kalten Schluck und spürte, wie die kleinen Bläschen seinen Gaumen kitzelten und die herbe Note auf der Zunge und stieß leicht auf und musste fast darüber lachen, wie wenig Aufmerksamkeit er in all der Zeit dem Geschmack dieses Zeugs geschenkt hatte. Helles war viel zu wässrig! Hatte er anderes im Haus? Nein. Überhaupt, Bier war ja was! Der Gourmet in ihm war verloren. Er ging in den Keller, kam mit einer Flasche Rotwein wieder hoch und Frau Fröhlich stand fassungslos im Türrahmen. Was er sich denke. Ob er den Job habe. Immerhin. Gekocht? Ob er überhaupt verstehe, was er ihr damit antue, mit dieser Flasche. Ob er auch nur die geringste Ahnung davon habe. Ob sie ihm vollkommen egal sei.
Was diese Frau wieder für einen Aufstand machte.
Das war das erste Abend, an dem er sie schlug.
Es war noch hell draußen, als Frau Fröhlich, drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, in der Einfahrt im Hof parkte. Sie schloss die Tür des stillen Hauses auf, zog Schuhe und Mantel aus, kochte Bohnen, briet Speck, aß auf, spülte ab und dann saß sie da. Immer noch hell. Fünf Uhr am Nachmittag. Vom Wohnzimmer her roch es nach Bier.
Zwei Tage war sie nicht zur Arbeit erschienen, zwei Nächte hatte sie geweint. Heute hatte sie wieder Haare geschnitten. Als sie sich, nach ihren vollbrachten sechs Stunden, die Tasche über die Schulter geschwungen hatte und sich verabschieden wollte, war ihre Chefin verdutzt: Willst du schon gehen?
Ist ja vorbei.
Keine Überstunden?
Kriege ich die bezahlt?
Bezahlt?
Bezahlt.
Aber das haben wir doch immer so gemacht. Na, dass die… freiwillig waren.
Frau Fröhlich nickte langsam: Gut, sagte sie: Dann ist immer jetzt vorbei.

Wenn Klara und ich abends im Garten waren, sahen wir Frau Fröhlich nun allein auf der Terrasse. Wir kickten uns den Ball seltener zu. Wenn wir es taten, schüttelte sie den Kopf über uns, als würde sie von einem Elf- und einer Neunjährigen erwarten, erwachsen zu werden. Wir sprachen nie mit ihr, einmal beschwerte sie sich bei Mutter über die Lautstärke. Die wiederum war überrascht, wie ausgewechselt sie wirkte; ein bisschen Trauer hing ihr aus den Augen, aber die Haut war röter und ihre Gangart befreiter. Plötzlich waren Gartenzaungespräche möglich. Zuerst über das Wetter, Kommunalpolitik, Sportvereine. Irgendwann erzählte Frau Fröhlich, dass auch sie sich mal eine Familie gewünscht hatte. Zwei Kinder wollte sie haben, einen Jungen und ein Mädchen. Sie lächelte verlegen und wischte sich die blondierten Strähnen aus der Stirn: Aber das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint.
Mutter lud sie zum Mittagessen ein, während wir in der Schule waren. Da sprudelte es aus Frau Fröhlich heraus.
Die erste Einladung in ein neues Wohnzimmer seit acht Jahren. Die Gewalt, die sie erlitten hatte, die Liebe, die sie verschenkte, die Angst, die sie hatte, ihren Mann zu verlassen. Die tiefe Erschütterung, als dieses Ereignis, Tod durch Alkohol, wirklich eingetreten war. Die Verwunderung, dass die Welt weiterging.
Auf seiner Bestattung, sagte sie, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, waren fünf Menschen. Ich. Meine Freundin. Drei Saufkollegen.
Und die Trauerarbeit?
Fangen wir nicht davon an.
Als Mutter in der Küche eine neue Kanne aufgoss, stach sie plötzlich ungeduldiges Mitleid. Sie sah in dieser fünfzigjährigen Frau, auf dessen Oberarm ein Herz-Tattoo sich in Schreibschrift faltete, auf einmal ein hilfloses Kind. Wie konzentriert sie aussah, wenn sie zuhörte, wie sorgfältig sie ihre Sätze sagte. Wie nervös sie war.
Sagen Sie mal, wie geht es denn jetzt weiter?
Weiter?
Na, da fällt doch was weg, nach so einem… Ereignis. Sie müssen es nicht wissen, aber… Irgendwie will diese Lücke schließlich gefüllt werden.
Frau Fröhlich sah aus dem Fenster: Nein. Nein, das weiß ich wirklich nicht.
Wir sahen sie Rasen mähen. Pflanzen gießen. Möbel putzen. In ihrer Einfahrt stapelten sich Wanduhren, Fotokalender und Deutschland-Flaggen, Mini-Kühlschränke, Zeitschriftenhalter und Zigarettenstopfmaschinen. Wir durften alles nach „Brauchbarem“ durchstöbern, bevor die Müllabfuhr es verlud. Wir hatten nichts gefunden.

Der Hausputz beschäftigte sie lange. Zähe Flecken tauchten auf, braune und gelbe. Trockene, klebrige weiße. Als sie die kleine Kachel abnahm, die zum Abflussrohr der Dusche führte, entdeckte sie einen halbvollen Flachmann. Es wurde warm. Der Sommer kam und sie war fertig.
Sie ging ins Café unseres Dorfes. Saß unter den Schirmen, nach Feierabend und bestellte Kaffee. Die Gespräche der anderen kreisten um Politik. Da waren die Einwanderer, da war die Globalisierung, da war die Hauptstraße oben, wo sie jetzt Fahrradwege hinpflanzen wollten. Die halbe Spur beschlagnahmten sie dafür. Dabei fuhr doch eh kaum jemand Fahrrad. Je später der Abend, desto lustiger wurden sie. Erzählten Geschichten aus ihrer Vergangenheit, lästerten über Arbeitskollegen, verfluchten die Städter. Tranken Apfelwein.
Sie setzte sich zu ihnen. Nicht von sich aus. Ein Mann in ihrem Alter, mit Sportjacke und Jeans, hatte sie gefragt.
Auch ein Glas?
Ach, ne.
Ach, komm.
Danke, wirklich.
Ich lad dich ein.
Ist gut.
Also, Prost.
Prost.
Im nächsten Monat erlebte Mutter Frau Fröhlich glücklich und seltener. Wieder kam sie erst nachts nach Hause: Gut für sie, dachte Mutter und widmete ihr keine weiteren Gedanken. Sie fühlte sich erleichtert. Sollte sie leben lernen.
Es war Herbst, als sie ihr mitteilte, dass sie ausziehen würde.
Wohin?
Zu Björn.
Björn Ralfschmitz.
Sie kennen sich?
Mutter zögerte. Sie dachte daran, wie Vater von Ralfschmitz‘ Eskapaden erzählte, der Unruhe, die er in seinen Stammtisch brachte, dem Rausschmiss, der irgendwann folgte: Lose, sagte sie.
Also dann, sagte Frau Fröhlich lächelnd.
Viel Glück.

 

Sven Beck

 

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