15 | Claudia Dvoracek-Iby

„Die gerade Linie ist gottlos“
– Friedensreich Hundertwasser

wir  biegen  und  wir  knicken  wir  formen  unser  lineares  Leben
zu   einem   kompakten   Viereck    um   und   alles    scheint   nun
geregelt  alles  scheint  nun  geordnet  sogar  eine Sonne scheint
zu   scheinen   in    unserem   kantigen  Sein   denn   vom   oberen
vom  rechten Eck   ausgehend   strömt   kontinuierlich  Wärme  in
unseren  Raum  und  gerade  deshalb  erscheint es uns  unrichtig
dass   nachts   immer  einer   von   uns   laut  weinen  muss   dass
nachts  immer   einer  von  uns   abwegige   Wörter   rufen   muss
Wörter  wie  Wellen  Winter  Berge  Schnee

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Claudia Dvoracek-Iby

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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

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freiVERS | Claudia Dvoracek-Iby

momentan

momentan
brauche ich nur
die paar Momente
um auf meine weiße Wand
zu starren

und die Momente davor
um auf dich
um auf dich
um auf dich
im Sonnenlicht
zu schauen

mehr braucht es nicht
um deinen Schatten
um deinen Schatten
um deinen Schatten
auf meine weiße Wand
zu bannen

mehr brauche ich nicht
momentan

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Claudia Dvoracek-Iby

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mosaik40 - auf zehenspitzen über das parkett

mosaik40 - auf zehenspitzen über das parkett

Sommer 2023

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INTRO

„Hoffnung ist ein komisches Ding. […] Wenn du dir deine Hoffnungen genauer besiehst, wirst du vielleicht schockiert feststellen, dass sie in Wirklichkeit eine große turmähnliche Struktur aus Walknochen sind.“ (Margarita Athanasiou, aus dem Englischen von Jonas Linnebank, S. 36)

Wir setzen große Hoffnungen in diese Ausgabe. Es ist zwar eine Jubiläumsausgabe, aber irgendwie sind wir wenig zum Jubeln aufgelegt. Zum Teil liegt das sicher an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die uns beschäftigen. Dann haben wir aber auch einiges an Arbeit, strukturieren intern um, teilen Verantwortlichkeiten neu auf, planen einen Umzug u.v.m.

„Und dann natürlich Texte, die alles vergessen lassen. Buchstaben erfühlen. Wörter im Gesamten. Es ist auch ein Einlassen, verlangt Offenheit, Aufmerksamkeit.“ (Sinnlichkeit*, S. 54)

Dieses Erfühlen, dieses Einlassen auf Texte, auf andere Lebensrealitäten und auf das jeweilige Gegenüber – das soll auf keinen Fall abhanden gehen; trotz allem Stress, Druck, Niedergeschlagenheit, Frust und was wir alle immer wieder – ob wir es wollen oder nicht – fühlen und womit wir in unserem Alltag sonst so konfrontiert sind. Rücksicht und Umsicht, die Menschlichkeit an sich, sollen uns in Tagen wie diesen nie abhanden kommen – auch wenn das bedeutet, manchmal nachts „auf Zehenspitzen über das Parkett“ (Michael Spyra, S. 24) zu schleichen.

Viel Freude mit dem Einlassen auf diese – sinnliche – 40. Ausgabe der mosaik.

euer mosaik

 

Inhalt

Umrandungen

Larissa Seide – Der Wassermann
Stefan Ebner – ich habe heute laut gedacht
Leonie Höckbert – Bahnansage für niemanden
Claudia Eilers – Hinter Glas

Trennungen

Sarah Hensel – Pass auf
Anna Fišerová – Aufspaltung
Lena Schätte – Husten
Muri Darida – Insomnia II
Michael Spyra – erste Inversion

Dazwischen

Charlotte Milsch – Kratzende Schleifen auf Sand
Paul Schömann – Wiedersehen
Selina Holešinsky – Die Welt von innen
Kea Lisanne Hinsch – Schneemagnetisch
Gloria Ballhause – Zäune

Kunststrecke von Levi Pritz
BABEL – Übersetzungen

Tote Körper als Handpuppen, ein Rucksack aus menschlicher Haut, ein Turm aus Walknochen, ein Gartenzwerg auf dem Kopf: Befremdlich, ja makaber, und doch hochpräzise und zutiefst poetisch sind die Bilder, die uns in den Texten der BABEL-Auswahl begegnen. In drastischer Sprache erzählen sie von Angst, Verlust und Tod, brennen sich in ihrer grotesken Metaphorik in unser Gehirn – und bleiben doch nicht ohne Ironie und sogar Leichtigkeit.

Margarita Athanasiou – Fear / Angst; Hopes / Hoffnung (Englisch)
Shai Schneider-Eilat – */* (hebräisch)

[foejәtõ]

Sinnlichkeit spielt bei der Erstellung, Erfahrung und Vermittlung von Literatur eine große Rolle. Literatur kann mit den Augen gelesen, mit den Ohren gehört, mit den Fingern erfühlt und noch auf viele andere Weisen erlebt werden. Wirken Texte, wenn sie mit mehreren Sinnen in euch eindringen, anders? Wenn ja: inwiefern? Lässt sich die Textwahrnehmung von einem Sinneseindruck in einen anderen „übersetzen“? Wenn ja: Was macht das mit einem Text?

Kreativraum mit Tara Meister

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>> Infos, Leseprobe und Bestellen


freiTEXT | Claudia Dvoracek-Iby

Im Rucksack

Anfangs fanden wir ihn amüsant. Ehrlich gesagt lachten wir uns halbtot nach der ersten Begegnung mit ihm.

„Ich bin der Willi “, hatte er gesagt, ein zappeliger, älterer Mann, den ein riesiger, grauer Rucksack nach hinten zog. Dünn war er und klein, kleiner als Marie, die zu mir an die Tür kam, um zu sehen, wer da bei uns Sturm geläutet hatte.

„Ich bin der Willi, jaja“, zwinkerte er unruhig, „und der Willi hat die Wohnung neben euch gemietet, jaja, und da wird er ganz alleine wohnen, jaja, weil niemand mit ihm sein will - was weiß ich, warum! Aber!“ hob er den Zeigefinger, „Aber dafür besitzt der Willi viele, viele Schätze, und da drinnen“, wies der Finger Richtung Rucksack, „da sind neue Schätze. Die hat der Willi vorhin gefunden, an der Donau, jaja, und jetzt“, verbeugte er sich leicht, „muss sich der Willi verabschieden und seine Schätze auspacken!“

Einige Tage später fand ich ihn im Stiegenhaus vor, als er dabei war, seinen gigantischen Rucksack aus dem Lift zu zerren.

 „Jaja!“ keuchte er, als ich anbot, ihm zu helfen.

Mit vereinten Kräften zogen wir den Rucksack, der unglaublich schwer war, vor seine Wohnungstür. „Sind da Steine drinnen?“ scherzte ich.

„Jaja!“ rief er ungeduldig, sperrte fahrig die Tür auf, rief „Komm rein, komm rein!“, öffnete flink gleich im Vorraum den Rucksack. Es waren tatsächlich Steine darin, verschieden große, gewöhnliche Steine. Er nahm einen runden, hellen in die eine, einen flachen Stein in die andere Hand und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem großen Zimmer auf.

 „Komm rein!“ rief er wieder, lief in den Raum, legte die Steine behutsam auf einen Tisch zwischen unzählige andere. Sie lagen überall, bedeckten den Boden bis auf ein paar freigelassene Pfade, stapelten sich auf zwei Bänken, in Regalen - massenhaft Steine, wohin ich auch blickte.

„Jaja, das sind meine Schätze!“ rief er in trotzigem Tonfall, während er unermüdlich Nachschub aus dem Rucksack holte und arrangierte. „Wenn kein Mensch den Willi leiden mag, ihm die Katze wegläuft, ihm die Pflanzen eingehen - was weiß ich, warum! Was bleibt da noch? Steine! Jaja!“

Und er erklärte, dass die besten Steine an der Donau lägen, er die allerbesten aber in der Donau vermute, nur könne er leider weder schwimmen noch tauchen. Dann streichelte er ehrfürchtig einen Stein nach dem anderen, beschrieb und lobte wortreich jedes Fleckchen an ihnen. Erst nach geraumer Zeit schaffte ich es, ihn zu unterbrechen und zu gehen.

„Ein Spinner! Und furchtbar anstrengend“, teilte Marie meine Meinung, die ihm wie ich eines Tages beim Rucksack-Schleppen behilflich war und seinen Steinschwärmereien ebenfalls nur mit Mühe entkommen konnte. Sie erfuhr unter anderem, dass er, der Willi, sich oft wundere, dass er anscheinend der einzige Mensch war, der erkannte, wie schön, wie einzigartig, wie seelenvoll so mancher Stein am Wegesrand war.

„Dieser Verrückte passt absolut nicht in unser Haus“, sagten auch die anderen Mieter untereinander und zum Hauseigentümer. Nach weiteren Begegnungen, bei denen unser neuer Nachbar ungefragt und detailreich von seinen neuesten Schätzen erzählte, gingen wir ihm aus dem Weg, machten auch nicht mehr auf, wenn er an unserer Tür war.

Einmal sahen wir ihn beim Spazieren gehen an der Donau. Er nahm uns nicht wahr, ging an uns vorüber, seinen Blick konzentriert auf den Schotterweg gerichtet. Wir beobachteten belustigt, wie er erfreut in die Hände klatschte, sich bückte und Steine in seinen Rucksack legte. Im Scherz klatschte ich später wie er in die Hände, hob einen großen Kieselstein auf, rief, „Ein Schatz, jaja, ein Schatz!“, und schenkte ihn Marie.

Vor drei Tagen läutete er spätabends bei uns, minutenlang. Als ich schließlich ärgerlich öffnete, fuchtelte er aufgeregt mit einem Brief in der Hand und rief:

„Der Willi kommt sich verabschieden, jaja, dem Willi wurde die Wohnung gekündigt, wieder einmal, was weiß ich warum, denn der Willi hat immer die Miete bezahlt, jaja, und ..“

„Dann wünsche ich dem Willi alles Gute!“, unterbrach ich ihn, wich seinem fassungslosen Blick aus und schloss die Tür.

Marie tat er leid, sie legte ihm am nächsten Tag den großen Kieselstein von mir vor die Tür.

Wir sahen ihn nicht wieder. Gestern waren zwei Polizisten bei uns, die sich erkundigten, was wir über den Mann wussten, der neben uns gewohnt hatte und den sie in der Donau gefunden hatten, tot, ertrunken, hinabgezogen von einem Rucksack voller Steine.

Seitdem beschäftigt Marie die Frage, ob auch unser Kieselstein im Rucksack gewesen ist.

Claudia Dvorazek-Iby

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