5 | Claudia Dvoracek-Iby

True Colors

Abstimmung. Zuerst zählt die Prof die erhobenen Ja-Hände. Dann die Nein-Hände. Die Ja-Hände sind in der Mehrheit.
Leon (empört): Lächerlich! Wieder dieses Kinderspiel. Und das in der Maturaklasse!
Iris ((gespielt) empört): Richtig. Wir sind inzwischen achtzehn und nicht acht!
Die Prof (lachend): Engerl-Bengerl ist Tradition. Ihr werdet es auch dieses letzte Jahr überstehen.
Meine Nein-Hand schreibt widerwillig meinen Vornamen auf ein Blatt Papier. Faltet es zusammen. Wirft es in die Box, welche die Runde durch die Klasse macht. Zieht dann wenig später einen der Namenszettel. Steckt ihn schnell in die Hosentasche.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Dass er meinen gezogen hat, ist nicht möglich. Er ist nicht da. Krankgemeldet. Doch die Prof hat seinen Namen aufgeschrieben. Und ihn in die Box zu den anderen gelegt.
Dark heißt eigentlich Jonas. Ist aber Dark. Zweitens, weil er immer dunkel gekleidet ist. Und erstens wegen seinem schwarzen Labrador. Darky. Mit dem er jede freie Minute verbringt. Jeden Abend, wenn ich im Stadtpark unter der Trauerweide oberhalb des Teiches sitze, sehe ich die zwei. (Ob Dark mich wahrnimmt? Ich weiß es nicht.)
Sie laufen immer den Teich entlang. Seite an Seite. Ihre tiefe Verbundenheit ist spürbar. Schön ist das zu sehen. Die beiden Dunklen sind mir schon früher aufgefallen. Angenehm aufgefallen. Als ich noch nicht in diese Klasse ging. Vor eineinhalb Jahren habe ich die Schule gewechselt. Hatte meine Gründe.
Zuhause in meinem Zimmer. Ziehe ich vorsichtig den Namenszettel aus meiner Hosentasche. Schließe die Augen, während meine Nein-Hände ihn auseinanderfalten.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich öffne meine Augen. Und betrachte fassungslos die vier Buchstaben auf dem zerknitterten Papier: DARK.
Ich lege mich auf mein Bett, Ohrenstöpsel rein, höre meine Musik. Die aus den 80er, 90er Jahren. Derzeit True Colors von Cyndi Lauper. In Dauerschleife. Denke an ihn. Niemand würde das vermuten. Dass ich sehr oft an ihn denke. Dark und ich reden nämlich nur miteinander, wenn es sein muss. Bei Gruppenarbeiten und so. Ich, weil ich mit niemandem mehr rede, als notwendig ist. Habe meine Gründe. Und Dark, weil er ebenfalls mauert. Auf niemanden zugeht. Wird auch seine Gründe haben.
Vor einigen Monaten war er mit einer aus der Klasse zusammen. Mit Iris. Nicht lange. Nur ein paar Tage. Habe sie zusammen gesehen. Abends im Park. Ich wie immer unter der Trauerweide. Und die zwei mit Darky den Teich entlang spazierend. Habe ich ungerne gesehen. Hat aber auch null harmoniert. Die beiden Dunklen. Mit der hellblonden Iris in ihrer knallroten Jacke.
Und in letzter Zeit macht sich Lea an Dark ran. Ganz offensichtlich. Zum Fremdschämen ist das.
Mir fällt ein Gesprächsfetzen ein. Den ich zufällig mitgehört habe.
Iris (warnend) ~ Lea: Vergiss diesen Typ. Der interessiert sich nur für seinen Scheißköter. Hat mich damals glatt abserviert, weil sein Hund mich nicht mochte.
I see your true colors, höre ich. Und sehe Dark mit Darky vor mir. Seite an Seite. Wie sie den Teich entlanglaufen.
Und plötzlich weiß ich es. Weiß genau, was ich Dark schenken werde. Als sein Engerl. Sitze jetzt aufrecht auf meinem Bett. Vor Aufregung und Vorfreude. Das Projekt, das mir vorschwebt, ist zeitaufwendig. Knapp drei Wochen habe ich Zeit. Ist zu schaffen.
Dark fehlt die ganze Woche. Auch die Woche darauf. Ich sehe ihn auch nicht abends mit Darky im Stadtpark. Angeblich hat er sich wegen Grippe krankgemeldet.
Ich höre Lea (verärgert) ~ Iris: Der antwortet mir auf keine WhatsApp.
Iris (genervt) ~ Lea: Bitte vergiss endlich diesen Typ!
Ich mache mir ständig Gedanken. Dass er vielleicht vor den Weihnachtsferien nicht mehr zur Schule kommt. Und dass ich ihm mein Geschenk nie geben kann.
Doch zwei Tage vor den Ferien ist er wieder da.
Lea (laut, freudig): Hey, Dark! Was war denn mit dir los?!
Dark (leise): Ich möchte nicht reden, okay?
Verstohlen sehe ich ihn an. Immer wieder. Er wirkt verschlossen, geheimnisvoll wie immer. Aber anders als immer. Dark wirkt traurig. Herzzerreißend traurig.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien: Der Geschenkeaustausch. Die Offenbarung.
Die Nacht zuvor konnte ich kaum schlafen. Immer wieder habe ich mir mein Werk angesehen. Und ja, ich bin zufrieden damit. Es ist so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich finde es gelungen. Aber wie wird Dark reagieren? Wird er meine Botschaft finden? Sie verstehen?
Es wird laut in der Klasse. Sämtliche Engerl wollen ihre Geschenke loswerden. Iris drückt mir rasch etwas (einen Mini-Notizblock) in die Hand. Nickt mir kurz zu. Und ist auch schon wieder weg.
Ich sehe zu Dark. Der auf seinem Platz sitzt und in sein Handy schaut. Ich traue mich nicht, zu ihm zu gehen. Überwinde mich schließlich. Lege mein in Packpapier gewickeltes Geschenk vor ihn hin. Er sieht auf. Sieht mich an. Er hat blaugrüne Augen.
Ich (leise, mich räuspernd): Ich habe deinen Namen gezogen.
Dark (leise, mein Geschenk in seine Hände nehmend): Es ist ziemlich schwer.
Er löst das Papier. Schaut auf mein Geschenk. Schaut lange darauf. Schaut wie erstarrt. Auf Darky in klein. Ich habe ihn aus Ton modelliert. So gut ich es konnte. (Und ja, ich kann modellieren. Ist meine Leidenschaft. Das Modellieren und Töpfern.) Habe ihn dann brennen lassen. Danach mit Acrylfarben bemalt. In jenen Farben, in denen ich Dark und Darky sehe. Wenn sie Seite an Seite den Teich entlanglaufen. In schönen, kräftigen Blau-Grüntönen. Um den Hals habe ich der Darky-Skulptur ein dunkelblaues Halsband gebunden. Mit einer versteckten Botschaft.
Dark steht abrupt auf. Sieht mich an. Tieftraurig. Verlässt schnell und wortlos, mein Geschenk in seinen Händen, das Klassenzimmer.
Lea hinter mir (laut): Was ist denn mit dem los? Spinnt der jetzt total?
Ich (leise, betroffen): Ich – ich weiß nicht …
Zuhause. In meinem Zimmer. Um 22:13 Uhr. Läutet. Plötzlich. Mein. Handy.
Dark: Kaya?
Ich (sprachlos): –
Noch nie hat Dark mich angerufen. Noch nie hat Dark meinen Namen gesagt.
Dark (leise, stockend): Kaya, es tut mir leid. Dass ich – dass ich einfach abgehauen bin heute. Diese schöne Skulptur von Darky. Die war mir – momentan zu heftig. Weißt du, er – ist vor zwei Wochen gestorben.
Ich (stotternd, betroffen): Oh nein. Das tut mir so leid! – Ich hätte ihn nicht modelliert, wenn ich das gewusst hätte …
Dark (verwundert): Wie – du hast ihn selbst modelliert? Wahnsinn. Du hast echt Talent.
Ich (wieder sprachlos): –
Und dann. Dann reden wir miteinander. Wir reden und reden. Ohne peinliche Pausen. Bis weit nach Mitternacht. Kann danach lange nicht einschlafen. Fühle mich so leicht. Fühle mich wie ein neuer Mensch. Denke an Dark. An all das, was wir einander erzählt haben. Einander anvertraut haben.
Dark ~ mir: Dass Darky in seinen Armen gestorben ist. In der Tierklinik. Altersschwäche. Organversagen. Dass Darky für ihn so viel mehr als nur ein Hund gewesen ist. Dass er ihn als Welpe vor 14 Jahren geschenkt bekommen hat. Von seinem Vater. Am Tag, bevor der Vater ins Krankenhaus musste. Und dann nie wieder nach Hause gekommen ist. Lungenkrebs. – Dass ich die erste bin, der er das erzählt. Dass ich die erste bin, der er es erzählen will.
Ich ~ Dark: Dass ich mit ihm fühle. Alles nachempfinden kann. Weil auch ich jemanden verloren habe. Anna. Meine (einzige/beste) Freundin. Seit der ersten Volksschulklasse. Anna. Der ich nicht helfen konnte. Die vor eineinhalb Jahren gestorben ist. An einer Überdosis. Abends. Allein im Stadtpark unter der Trauerweide. Dass ich darum die Schule gewechselt habe. Weil Anna mir dort so furchtbar gefehlt hat. – Dass er der erste ist, dem ich davon erzähle. Dass er der erste ist, dem ich es erzählen will.
Dark ~ mir: Dass er mit mir fühle. Alles nachempfinden kann. Dass er mich gesehen hat. Jeden Abend. Im Stadtpark unter der Trauerweide. Wenn er mit Darky unterwegs gewesen ist. Dass er sich oft Gedanken gemacht hat. Warum ich immer dort bin. Allein. Dass er aber nicht aufdringlich sein wollte. Und sich auch nicht getraut hat. Mich anzusprechen.
Dark ~ mir: Dass er abends das dunkelblaue Halsband von meiner Darky-Skulptur runtergenommen hat. Dass er auf der Rückseite des Halsbandes gelesen hat, was ich eingraviert habe. True Colors. Dass er daraufhin den Cyndi Lauper-Song gehört hat. Mehrmals. Dass er verstanden hat. Dass er seinen ganzen Mut zusammengenommen hat. Und mich angerufen. – Dass er mich sehen möchte. – Ob ich ihn am Abend bei der Trauerweide treffen will?
Ich ~ Dark: Ja.

 

Claudia Dvoracek-Iby

 

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15 | Claudia Dvoracek-Iby

„Die gerade Linie ist gottlos“
– Friedensreich Hundertwasser

wir  biegen  und  wir  knicken  wir  formen  unser  lineares  Leben
zu   einem   kompakten   Viereck    um   und   alles    scheint   nun
geregelt  alles  scheint  nun  geordnet  sogar  eine Sonne scheint
zu   scheinen   in    unserem   kantigen  Sein   denn   vom   oberen
vom  rechten Eck   ausgehend   strömt   kontinuierlich  Wärme  in
unseren  Raum  und  gerade  deshalb  erscheint es uns  unrichtig
dass   nachts   immer  einer   von   uns   laut  weinen  muss   dass
nachts  immer   einer  von  uns   abwegige   Wörter   rufen   muss
Wörter  wie  Wellen  Winter  Berge  Schnee

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Claudia Dvoracek-Iby

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freiVERS | Claudia Dvoracek-Iby

momentan

momentan
brauche ich nur
die paar Momente
um auf meine weiße Wand
zu starren

und die Momente davor
um auf dich
um auf dich
um auf dich
im Sonnenlicht
zu schauen

mehr braucht es nicht
um deinen Schatten
um deinen Schatten
um deinen Schatten
auf meine weiße Wand
zu bannen

mehr brauche ich nicht
momentan

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Claudia Dvoracek-Iby

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mosaik40 - auf zehenspitzen über das parkett

mosaik40 - auf zehenspitzen über das parkett

Sommer 2023

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INTRO

„Hoffnung ist ein komisches Ding. […] Wenn du dir deine Hoffnungen genauer besiehst, wirst du vielleicht schockiert feststellen, dass sie in Wirklichkeit eine große turmähnliche Struktur aus Walknochen sind.“ (Margarita Athanasiou, aus dem Englischen von Jonas Linnebank, S. 36)

Wir setzen große Hoffnungen in diese Ausgabe. Es ist zwar eine Jubiläumsausgabe, aber irgendwie sind wir wenig zum Jubeln aufgelegt. Zum Teil liegt das sicher an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die uns beschäftigen. Dann haben wir aber auch einiges an Arbeit, strukturieren intern um, teilen Verantwortlichkeiten neu auf, planen einen Umzug u.v.m.

„Und dann natürlich Texte, die alles vergessen lassen. Buchstaben erfühlen. Wörter im Gesamten. Es ist auch ein Einlassen, verlangt Offenheit, Aufmerksamkeit.“ (Sinnlichkeit*, S. 54)

Dieses Erfühlen, dieses Einlassen auf Texte, auf andere Lebensrealitäten und auf das jeweilige Gegenüber – das soll auf keinen Fall abhanden gehen; trotz allem Stress, Druck, Niedergeschlagenheit, Frust und was wir alle immer wieder – ob wir es wollen oder nicht – fühlen und womit wir in unserem Alltag sonst so konfrontiert sind. Rücksicht und Umsicht, die Menschlichkeit an sich, sollen uns in Tagen wie diesen nie abhanden kommen – auch wenn das bedeutet, manchmal nachts „auf Zehenspitzen über das Parkett“ (Michael Spyra, S. 24) zu schleichen.

Viel Freude mit dem Einlassen auf diese – sinnliche – 40. Ausgabe der mosaik.

euer mosaik

 

Inhalt

Umrandungen

Larissa Seide – Der Wassermann
Stefan Ebner – ich habe heute laut gedacht
Leonie Höckbert – Bahnansage für niemanden
Claudia Eilers – Hinter Glas

Trennungen

Sarah Hensel – Pass auf
Anna Fišerová – Aufspaltung
Lena Schätte – Husten
Muri Darida – Insomnia II
Michael Spyra – erste Inversion

Dazwischen

Charlotte Milsch – Kratzende Schleifen auf Sand
Paul Schömann – Wiedersehen
Selina Holešinsky – Die Welt von innen
Kea Lisanne Hinsch – Schneemagnetisch
Gloria Ballhause – Zäune

Kunststrecke von Levi Pritz
BABEL – Übersetzungen

Tote Körper als Handpuppen, ein Rucksack aus menschlicher Haut, ein Turm aus Walknochen, ein Gartenzwerg auf dem Kopf: Befremdlich, ja makaber, und doch hochpräzise und zutiefst poetisch sind die Bilder, die uns in den Texten der BABEL-Auswahl begegnen. In drastischer Sprache erzählen sie von Angst, Verlust und Tod, brennen sich in ihrer grotesken Metaphorik in unser Gehirn – und bleiben doch nicht ohne Ironie und sogar Leichtigkeit.

Margarita Athanasiou – Fear / Angst; Hopes / Hoffnung (Englisch)
Shai Schneider-Eilat – */* (hebräisch)

[foejәtõ]

Sinnlichkeit spielt bei der Erstellung, Erfahrung und Vermittlung von Literatur eine große Rolle. Literatur kann mit den Augen gelesen, mit den Ohren gehört, mit den Fingern erfühlt und noch auf viele andere Weisen erlebt werden. Wirken Texte, wenn sie mit mehreren Sinnen in euch eindringen, anders? Wenn ja: inwiefern? Lässt sich die Textwahrnehmung von einem Sinneseindruck in einen anderen „übersetzen“? Wenn ja: Was macht das mit einem Text?

Kreativraum mit Tara Meister

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freiTEXT | Claudia Dvoracek-Iby

Im Rucksack

Anfangs fanden wir ihn amüsant. Ehrlich gesagt lachten wir uns halbtot nach der ersten Begegnung mit ihm.

„Ich bin der Willi “, hatte er gesagt, ein zappeliger, älterer Mann, den ein riesiger, grauer Rucksack nach hinten zog. Dünn war er und klein, kleiner als Marie, die zu mir an die Tür kam, um zu sehen, wer da bei uns Sturm geläutet hatte.

„Ich bin der Willi, jaja“, zwinkerte er unruhig, „und der Willi hat die Wohnung neben euch gemietet, jaja, und da wird er ganz alleine wohnen, jaja, weil niemand mit ihm sein will - was weiß ich, warum! Aber!“ hob er den Zeigefinger, „Aber dafür besitzt der Willi viele, viele Schätze, und da drinnen“, wies der Finger Richtung Rucksack, „da sind neue Schätze. Die hat der Willi vorhin gefunden, an der Donau, jaja, und jetzt“, verbeugte er sich leicht, „muss sich der Willi verabschieden und seine Schätze auspacken!“

Einige Tage später fand ich ihn im Stiegenhaus vor, als er dabei war, seinen gigantischen Rucksack aus dem Lift zu zerren.

 „Jaja!“ keuchte er, als ich anbot, ihm zu helfen.

Mit vereinten Kräften zogen wir den Rucksack, der unglaublich schwer war, vor seine Wohnungstür. „Sind da Steine drinnen?“ scherzte ich.

„Jaja!“ rief er ungeduldig, sperrte fahrig die Tür auf, rief „Komm rein, komm rein!“, öffnete flink gleich im Vorraum den Rucksack. Es waren tatsächlich Steine darin, verschieden große, gewöhnliche Steine. Er nahm einen runden, hellen in die eine, einen flachen Stein in die andere Hand und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem großen Zimmer auf.

 „Komm rein!“ rief er wieder, lief in den Raum, legte die Steine behutsam auf einen Tisch zwischen unzählige andere. Sie lagen überall, bedeckten den Boden bis auf ein paar freigelassene Pfade, stapelten sich auf zwei Bänken, in Regalen - massenhaft Steine, wohin ich auch blickte.

„Jaja, das sind meine Schätze!“ rief er in trotzigem Tonfall, während er unermüdlich Nachschub aus dem Rucksack holte und arrangierte. „Wenn kein Mensch den Willi leiden mag, ihm die Katze wegläuft, ihm die Pflanzen eingehen - was weiß ich, warum! Was bleibt da noch? Steine! Jaja!“

Und er erklärte, dass die besten Steine an der Donau lägen, er die allerbesten aber in der Donau vermute, nur könne er leider weder schwimmen noch tauchen. Dann streichelte er ehrfürchtig einen Stein nach dem anderen, beschrieb und lobte wortreich jedes Fleckchen an ihnen. Erst nach geraumer Zeit schaffte ich es, ihn zu unterbrechen und zu gehen.

„Ein Spinner! Und furchtbar anstrengend“, teilte Marie meine Meinung, die ihm wie ich eines Tages beim Rucksack-Schleppen behilflich war und seinen Steinschwärmereien ebenfalls nur mit Mühe entkommen konnte. Sie erfuhr unter anderem, dass er, der Willi, sich oft wundere, dass er anscheinend der einzige Mensch war, der erkannte, wie schön, wie einzigartig, wie seelenvoll so mancher Stein am Wegesrand war.

„Dieser Verrückte passt absolut nicht in unser Haus“, sagten auch die anderen Mieter untereinander und zum Hauseigentümer. Nach weiteren Begegnungen, bei denen unser neuer Nachbar ungefragt und detailreich von seinen neuesten Schätzen erzählte, gingen wir ihm aus dem Weg, machten auch nicht mehr auf, wenn er an unserer Tür war.

Einmal sahen wir ihn beim Spazieren gehen an der Donau. Er nahm uns nicht wahr, ging an uns vorüber, seinen Blick konzentriert auf den Schotterweg gerichtet. Wir beobachteten belustigt, wie er erfreut in die Hände klatschte, sich bückte und Steine in seinen Rucksack legte. Im Scherz klatschte ich später wie er in die Hände, hob einen großen Kieselstein auf, rief, „Ein Schatz, jaja, ein Schatz!“, und schenkte ihn Marie.

Vor drei Tagen läutete er spätabends bei uns, minutenlang. Als ich schließlich ärgerlich öffnete, fuchtelte er aufgeregt mit einem Brief in der Hand und rief:

„Der Willi kommt sich verabschieden, jaja, dem Willi wurde die Wohnung gekündigt, wieder einmal, was weiß ich warum, denn der Willi hat immer die Miete bezahlt, jaja, und ..“

„Dann wünsche ich dem Willi alles Gute!“, unterbrach ich ihn, wich seinem fassungslosen Blick aus und schloss die Tür.

Marie tat er leid, sie legte ihm am nächsten Tag den großen Kieselstein von mir vor die Tür.

Wir sahen ihn nicht wieder. Gestern waren zwei Polizisten bei uns, die sich erkundigten, was wir über den Mann wussten, der neben uns gewohnt hatte und den sie in der Donau gefunden hatten, tot, ertrunken, hinabgezogen von einem Rucksack voller Steine.

Seitdem beschäftigt Marie die Frage, ob auch unser Kieselstein im Rucksack gewesen ist.

Claudia Dvorazek-Iby

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