20 | Gundula Maria von Traunstein

Eisverkrustetes Zweiggewirr

Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Ich bin gegangen,
hab dich zurückgelassen,
alleine.
Im Schein der Straßenlaterne
steh ich jetzt
und weine.
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.

Gundula Maria von Traunsee

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


19 | Andreas Schumacher

Hymnen an die Weihnacht

Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater
fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres
den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der Weihnachtsgeschenke –
mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und unausgesprochenen Erpressungen,
der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.
Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er
familiäre Spannungen,
mildert Vernachlässigungen,
radiert verletzende Worte.
Seine zuverlässige Erledigung allein
garantiert eine friedvolle Stimmung
am Abend des Herrn.

Einst da ich astronomische Summen verpulverte,
da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,
in ein phänomenal schwarzes Loch
sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben
und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig Euro in der Tasche
im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,
zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,
und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern
mit unendlicher Sehnsucht hing,
ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,
da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen Kunstgriffs –
du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter Aufsichtsratsgattinnen,
kamst über mich, und mit einem Mal
schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.
Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.
Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich
die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.

Wie dumm und überaus unnötig
dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der Kasse nun –
wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.
Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,
überall einstecken, was man grad so braucht,
entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.

Die Kinder werden strahlen,
ich schiebe alles ein.
Ich werde nicht bezahlen
und Superdaddy sein!

Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv, wiederkommen?
Endet nie seine Schicht?
Gottverdammter Motherfucker,
verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.
Kann denn nie einfach mal dieses ganze
elektronische Überwachungsdingens ausfallen
und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen werden?

Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –
wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.

So komm ich – mit dem blauen Bus
und leerem Sack – nach Haus am Schluss.

Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,
umsonst ist nur das Himmelreich.

Andreas Schumacher

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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18 | Sigune Schnabel

Tagschmelze

Du sagtest,
Erinnerungen wachsen im Schatten
zwischen Gesteinsbrocken.
Doch der Gipfel lag karg im Dunst,
die Luft so dünn,
dass sie von der Last der Vögel
zerbrach.

Als wir von Flüssen sprachen,
taute der Schnee in den Grund der Worte,
und deine Haare flatterten
wie Segel.

Ich pflückte das Moos
von deiner Stirn
und ließ es zwischen Felsen liegen.

Lange vor den ersten Flocken
trieben Silben
auf den Wegen
und zerfielen unter den Füßen.

Sigune Schnabel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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17 | Sophie Stroux

eMMa

Die Bäckerei, vor der ich stehe, ist klein, hellgrün und in ihr windet sich die Schlange durch die wenigen speckigen Holztische, durch die Glastür und vor dem Geschäft um eine Ecke. Von oben sehen wir wohl aus wie eine Kreuzotter, die sich ihren Weg durch ein Labyrinth sucht, denke ich, eine Kreuzotter und ich bin nur ein kleiner Punkt auf ihrer Haut, die sie bald abwerfen wird. Ich mag es, zu warten, denn dabei verwandele ich mich von diesem kleinen schwarzen Punkt zu einem Chamäleon, das hier und da den Gesprächen lauscht, die Gedanken anderer mitdenkt und unsichtbar wird zwischen ihnen.
Hinter der Glasscheibe erkenne ich den alten Mann mit seiner Zeitung von gestern und seinem halben Croissant. Schon letzte Woche saß er an dem Tisch vorm Fenster. Ich beobachte die Katze, die sich normalerweise auf den Motorhauben der geparkten Autos wärmt, aber heute die Menschen, die vor der Tür anstehen, misstrauisch beäugt. Hinter mir diskutiert jemand über Blues und vor mir über den Dozenten, der ständig an seiner Brille kaut, wenn er nachdenkt – also immer – und ich merke, wie ich anfange mich einzublenden, Chamäleonfarben annehme, als mich ein Lichtreflex wieder aus der Starre holt.
Es sieht aus wie die Spiegelung der orangen Katze, aber als ich mein linkes Auge zusammenkneife, wird die Katze zu Haaren. Haare?, denke ich kurz verdutzt, und dann gewöhnen sich meine Augen an den Blick durch die Glasscheibe und ich erkenne ein Mädchen.
Ihre rottanzenden Haare sind es, die aus der Schlange hervorleuchten. Das Mädchen ist groß, größer als der Mann hinter ihr mit seinem gelben Polunder. Und sie tritt nervös von einem großen Fuß auf den anderen, zupft an ihrem T-Shirt herum und blickt sich immer wieder um. Platzangst, denke ich im ersten Moment. Aber das passt irgendwie nicht. Vielleicht ist sie eine von denen, die Warten nicht ausstehen können? Vielleicht kann sie einfach nicht stillstehen?
Wir sitzen in einer Wohnung mit grüner Tür an einem speckigen Holztisch, in den sich Holzwürmer verkrochen haben. „Meine Liebe,“ sage ich über die Erdbeeren mit Milch hinweg und sie lächelt ein dreiviertel Lächeln, ein bisschen schräg und auf keinen Fall ein ganzes Lächeln, sitzt halb auf der Stuhlkante und halb in der Luft. Dass sie nicht runterfällt, wundere ich mich plötzlich, nicke aber zu ihrer stillen Frage und gucke ihr beim Verschwinden hinterher, freue mich, dass sie unterwegs ist und irgendwo zu sein hat, während ich meine Milch mit aufgegessenen Erdbeeren trinke.
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Sie sitzt auf dem Fensterbrett mit grünem Rahmen und malt mit schnellen, weiten Strichen auf Papier. Ihre Hände sind schon schwarz und ein paar Punkte haben sich auf ihr Gesicht verirrt. Ihr rotes Haar steht wirr ab, ihr grüner Blick rennt den Pinselschwüngen hinterher. Sie sieht schön aus in dem bunten Licht mit ihren leuchtenden Haaren und mit dieser Ruhe.

Ich sitze ihr gegenüber und bewundere ihre spitze Nase und die Haare, die immer noch ein wenig nach einer Katzenspiegelung aussehen. Der Moment ist fast ein Bild, vielleicht von Rembrandt, schnelle Pinselstriche und trotzdem ruhig.

„Sind wir bald da?“, fragt sie auf dem Weg zu einer Party und ich blicke ihr hinterher wie sie vor mir verschwindet.

„Wir sind zu früh.“, sage ich langsam, aber sie hört nicht. Ich will mich nicht hetzen lassen, will den Moment genießen, bleibe vor einem Schaufenster voller Bücher, die Neuerscheinungen dieses Monats, betrachte, wie sie farblich sortiert zu einer Pyramide aufgestellt sind, verliere mich in dem Bild, und finde mich auf der Spitze der Pyramide wieder wie ich mich bereit mache, auf ihr herunter zu rutschen.

„Emma!“, rufe ich und drehe mich in ihre Richtung, aber sie ist weg und sie antwortet mit einem „Komm doch!“ zwei Straßen weiter, sie wartet nicht.
(Sie will so schnell wie möglich da sein, wo auch immer)
Ich bleibe noch einen Moment vor dem Schaufenster stehen, blicke auf die Buchrücken und erkenne einen meiner alten Freunde, der sich irgendwie zwischen all die neuen Bücher geschlichen hat.
„Sofern sie Emma hießen…“, sage ich leise zu den Buchdeckeln, vielleicht verstehen sie mich ja. Vermutlich wissen sie mehr über Emmas als ich.
Ich wende mich ab und folge mit einem leisen Seufzen Emma, die schon lange um zwei Ecken verschwunden ist.
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"Emma“, sage ich und sie blickt auf, sucht aber mit ihren Händen weiter hektisch nach Schlüssel oder Handy oder was auch immer sie sucht.
„Emma“, sage ich, „Wir haben noch Zeit. Lass uns doch einen Tee trinken.“
Sie schüttelt nur den Kopf und richtet ihren grünen Blick wieder auf die Kommode. „Wir sollten pünktlich sein, man weiß ja nie.“
„Aber Emma…“, setze ich an, sie aber hebt ihre Sonnenbrille hoch und sagt: „Ich hab sie, wir können los!“
-
Sie ist nie da.
(Bald da sein, heißt nur, nirgendwo jetzt zu sein.)
-
„Emma“, sage ich, „Emma, weißt du, dass du bei Morgenstern eine Möwe bist?“
Und sie blickt zu mir, während sie sich schminkt.
„Eine Möwe? Findest du?“
Ich betrachte sie, diesen dünnen Menschen, der immer rennt, mit seinen wilden roten Haaren und diesem selten eingefangenen, so grünen Blick. Sie lächelt nie ganz, nur dreiviertel, aber in ihren Bewegungen liegt trotz der Ruhe unserer Wohnung eine Ungeduld, die selbst die Schminke nicht verbergen kann. Ich schüttele den Kopf.
Sie lacht und verschwindet mit einem Augenaufschlag durch unsere Tür mit der abblätternden grünen Farbe und ein paar Flecken fallen auf den Boden als sie zuschlägt, fast wie der Regen unter Tannenbäumen. Ich betrachte Emmas Abwesenheit in dem Raum und die grünen Schuppen auf der Fußmatte.
„Nein, du bist keine Möwe“, sage ich in die Leere der Wohnung und die Wohnung hört zu. „Dich gibt es so nicht bei Morgenstern.“
-
Wir laufen eine gepflasterte, sich wellende Straße entlang. Ich suche irgendein Museum oder eine Galerie, von der ich zuvor gelesen habe, bin euphorisiert vom Pulsschlag der Stadt und ihren grellen Farben und freue mich über jeden Grashalm.
Emma geht vor mir, obwohl sie nicht weiß, wohin ich will, läuft in falsche Straßen und um falsche Ecken. Ich versuche, mich nicht aufzuregen, warum rennt sie nur weg, ich habe doch eine Karte dabei, klein, besser als nichts, aber so wirklich gelingt es mir nicht, denn ihr stummes „Sind wir bald da?“ dröhnt in meinem Hinterkopf als säße es in meinem Ohr.
Ich sage nichts, sie sagt ja auch nichts, aber als ich das Museum dann endlich finde, hat sie nach paar Minuten alles gesehen und wartet ungeduldig im Cafe.
Ich bleibe lange bei den Bildern von diesem Amerikaner stehen, Rosen, betrachte sie mit Emmas Ungeduld, die ich nicht abschütteln kann, und ärgere mich.
„Emma,“ flüstere ich dem Rosenzyklus zu, „Emma ist schuld.“
Aber die Rosen aus Amerika schweigen und Emma schweigt auch.
-
In der Bibliothek mit den zu großen Tischen und dem braunen Teppich, in der man sich nicht einmal traut zu husten, weil alles so leise und trocken ist und man fast an der Stille ersticken kann, lese ich in einem Gedicht von der „Koexistenz des Widersprüchlichen“ und denke sofort an uns, Emma.
(Das ist unser Problem.)
Und die Frage, ob wir bald da sind, so oft du sie auch stellst, könnte ich dir erst beantworten, wenn ich dieses Meer sehe. Aber Emma, dahin wirst du mit mir nie gehen, denn du wirst vorher um eine andere Ecke biegen, Morgenstern nicht sehen und nicht warten, ich kenne dich, du wirst wegrennen, nur um anzukommen, egal wo, aber nicht am Meer, nicht mit mir, nicht bei mir.
Und du bist einfach nicht aus Morgenstern, eMMa, so sehr ich mir das wünsche. Dort wirst du nie sein. Du wirst immer eine anwesende Abwesenheit bleiben.
Und du bist keine Emma wie sie in Büchern steht. Du bist eine eMMa und nie da.
-
„Bitte?!“
„Was?“ Ich schrecke auf.
„Was Sie wollen?“, fragt der Verkäufer mit der Pastellschürze.
„Ich,“, das Chamäleon löst sich auf, „Ein Croissant bitte. Und ein Pain au Chocolat.“ Und das eine Auge sieht das Mädchen plötzlich wieder, meine Emma für ein paar Minuten, wie sie bezahlt, ihre Tüte nimmt und aus dem Cafe hastet.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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16 | Maximilian Michl

Darstellung gemeinsamer Topologie (geometrisch, mäandrierend)

Wenn du ziehst
dann geb ich Druck
sanft, folgend deinem Weichen

Das, was du willst
wollt’ ich bereits
umriss schon erste Zeichen

Wenn wir wo sind
sind wir ein Tanz
umkreisen gemeinsam

Weil wir wer sind
sind wir sonst einzeln
alleine, nicht einsam

Dann, wenn mein Kreis
den deinen deckt
in filigranster Passung

Trinke ich gierig
aus dir Kraft
und geb dir dafür Fassung

Du lässt dich
setzen, fassen
uns: klinken ineinander

Ich: berste schier vor Kraft
wir: waren Kreis,
werden Mäander

Deine Facetten brechen Licht
umgeben dich mit Funkeln
nur

neben dir
bin ich bei mir
Ich möchte, dass wir schunkeln

Maximilian Michl

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15 | Claudia Maria Kraml

zwischenstation

stummes wispern ferner zeiten
allegorie dem raureif gleich
lässt zurück des frühlings leiden
das neuer namen kenntnis weicht

alte lettern voll der mären
erwachend hoffnung leicht zerspringt
aufenthalt nicht um zu währen
kälte bald durch rückgrat dringt

wo der winterwind mit flocken
blasse straßen nachts durchfährt
und zerreißend hell der glocken
luftbotschaft einlass begehrt

und engelsschwert geformt aus stahl
vor des trubels froher schar
erdolcht der grenzen flieh’nde qual
rettet zukunft übers jahr

funkelnd blick wie kieselsteine
bleibt in traumes mut besteh’n
geflüstert wort es ist das meine
verweile doch du warst so schön

Claudia Maria Kraml

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14 | Katie Grosser

Treue Häfen

Mein Blick, er geht weit in die Ferne
Zum Horizont, so groß und klar
Wo Sonne nachts im Sterben Sternen
Das Leben schenkt, ein ewig Kreis
Auf sanften Wellen gleiten Schiffe
Mal links, mal rechts an mir vorbei
Sie tragen Menschen, große, kleine
Die Jungen, Alten, Menschheit ganz
Ein jeder ist auf seiner Reise
Und viele jagen eines nur
Der Hunger groß nach Abenteuer
Ist ihrer Segel starker Wind
Ich seh sie fremde Länder finden
Und bis auf tiefsten Meeresgrund
Sich kämpfen nur mit purem Willen
Sie segeln auch durch stärksten Sturm
Erschreckend groß sind die Gefahren
Doch trotzig bieten sie die Stirn
Der Horizont ist nicht das Ende
Er kann für sie nur Anfang sein
Mein Kahn, auch er treibt stets nach vorne
Folgt meinem Segel, das ich setz
An altbekannte, treue Häfen
Ich spür nur Regentropfen sanft
Ich weiß, das Meer, es geht noch weiter
Auf Wegen stets der Sonne nach
Und manchmal denk ich, was wohl wäre
Wenn ich drauf schlüge meinen Kurs
Und doch mit leichtem Herz ich winke
Den vielen Abenteurern nach
Gönn ihnen Glück und ihre Spannung
Und würde doch nicht tauschen woll’n
Denn treue Häfen sind mir lieber
Bekannte Küsten freu’n mein Herz
Das dann vor Freude schlägt auch höher
Wenn lange Reise sicher schließt
Der Horizont mag weit und riesig
Das Meer selbst gar unendlich sein
Mein Glück liegt mitten in mir selber
Am Steuer sitz nur ich allein

Katie Grosser

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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Eine lohnenswerte Reise

Ein alter Passagierdampfer. Dahinter zahlreiche Segel von anderen Schiffen vor einem Himmel, der aussieht wie vergilbtes Papier. Die ersten Assoziationen von Abenteuer und Entdeckergeist, historischer Romantik und Realität werden nicht enttäuscht werden: Matthias Engels legt mit Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun einen ansprechenden (literatur-) historischen Roman vor. Gut recherchiert, gut arrangiert.

"Kurz nach Neujahr 1882 erreichte ein junger Mann nach seiner Überfahrt von England den Hafen von New York. Längere Planungen und vielfältige Korrespondenzen waren der Reise vorausgegangen und wenn alles gut liefe, würde sein Aufenthalt ein großer Erfolg werden."

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"Kurz nach Neujahr 1882 schiffte sich ein junger Mann für die Überfahrt von Bremerhaven nach New York beim Norddeutschen Lloyd ein. Wie aus heiterem Himmel hatte sich die Gelegenheit geboten und er hatte nicht gezögert, sie zu ergreifen."-

Fast zur selben Zeit brechen zwei der wichtigsten Figuren der Literaturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts zum selben Ziel auf: Amerika. Was für den einen eine Luxusreise zu Lesungen und Konferenzen werden soll, ist für den anderen die letzte Hoffnung der heimatlichen Tristesse des (noch) nicht entdeckten Schriftstellers zu entfliehen. Die Ausgangslage von Oscar Wilde und Knut Hamsun könnte kaum unterschiedlicher sein.

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"Für die Wohlwollenden, Geduldigen & Unentbehrlichen"

 

Auf 450 Seiten entwirft der Buchhändler Matthias Engels ein Parallelportrait zweier Herren, die unabhängig voneinander ihre Erfahrungen in der Gesellschaft und im Literaturbetrieb gemacht haben. Wilde trifft wichtige Personen des Zeitgeschehens, die weniger die Handlung vorantreiben als das intellektuelle Interesse der LeserInnen bedienen - mitunter wähnt man sich in einem Bill Bryson-Roman, wenn man in einem der zahlreichen Exkurse von Edison die Glühbirne erklärt bekommt oder lernt, was Chirologie ist:

"Lassen Sie uns nun die Finger getrennt vom Rest der Hand betrachten:
Der erste Finger wird als Diktator, Gesetzgeber, als Zeiger des Ehrgeizes angesehen. Wenn dieser Finger ungewöhnlich lang und fast gleich dem zweiten ist, sind alle diese Tendenzen sehr ausgeprägt. [...]
Der Charakter wird maßgeblich durch den Daumen abgebildet: [...]
Je kürzer und dicker die Partie um den Nagel ist, desto unregierbarer ist das Temperament dieser Person. Solche Menschen haben keine Kontrolle über sich selbst und werden beim kleinsten Widerspruch in blinde Wut verfallen. Diese Erscheinung wurde auch als Mörderdaumen bekannt, weil viele, die einen Mord in einem verrückten Anfall von Leidenschaft begangen haben, diese Art von Daumen besaßen."

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Hat man diesen ersten Teil überwunden und weiß man nach etlichen Wiederholungen ausführlich, welche Kniebundhosen der groß gewachsene Wilde zu welcher Oberbekleidung und Frisur getragen hat, so konzentriert sich der Rest des Buches auf die interessanten Biographien der Autoren und der ihnen nahestehenden Personen. In den Details, die konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden, bekommt man einen Überblick über das Zeitgeschehen und den Zeitgeist eines ausgehenden Jahrhunderts und erfährt ganz nebenbei, wie sich Häftlinge in britischen Gefängnissen damals die Zeit vertrieben haben.

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Doch während die Biographie von Wilde nach der Rückkehr nach Europa immer mehr nach unten zeigt, kann jene von Hamsun nur nach oben gehen. Während ersterem der offene Umgang mit seiner Homosexualität zum Verhängnis wurde, veröffentlichte letzterer mit Hunger jenes autobiographisch angehauchte Werk, das ihm erstmals die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bescherte. Doch jeder Ruhm ist vergänglich. Dass Hamsun seine Literaturnobelpreismedaille Joseph Göbbels schenkte, wird ihm nach dem Krieg und am Ende des Buches ebenso zu Fall bringen.

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behutsam Erfundenes

 

Engels hält die Freiheit des historischen Erzählens hoch. Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun ist kein populärwissenschaftliche Nacherzählung, wie Engels im Nachwort festhält: "vielmehr nimmt er sich die Freiheit, mit den (oft widersprüchlichen) Quellen zu spielen und diese zu einem So-könnte-es-gewesen-sein zuzuspitzen". Es ist dies eine Herangehensweise, die in den letzten Jahren unter anderem Michael Köhlmeier mit Zwei Herren am Strand populär gemacht hat.

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Insbesondere das geschichte Arrangement von Briefen, Zeitungsartikeln und sonstigen historischen Quellen fällt auf: Gekonnt vermitteln kurze geographische und meterologische Berichte am Anfang der Dokumente einen Überblick über die Ausgangslage. Trotz der Episodenhaftigkeit, die eine inhaltlich motivierte Konzentration auf einzelne Abschnitte bedingt, werden die einzelnen Details durch die verbindende Prosa gefühlvoll und mit exakter Sprache zu einem flüssigen Ganzen verwoben.

10.08.1888 - Kopenhagen, Dänemark

55°40'25.262" Nord | 12°34'05.329" Ost

Ein kräftiges Tief vom Nordatlantik verdrängt warme Luft aus dem Süden und über Russland. 46° Fahrenheit.

Der Feuilleton-Redakteur der Politiken, Edvard Brandes, saß mit einer Hinterbacke auf der Kante seines Schreibtisches und sprach aufgeregt auf einen Gast in seinem Büro ein, der im Lehnstuhl ihm gegenüber Platz genommen hatte. [...]
"Behrens", sagte er, "Können Sie sich denken? Als ich heute Morgen an der neuen Ausgabe arbeitete, kam ein junger Norweger und wollte mit mir sprechen. Und natürlich hatte er ein Manuskript in der Tasche! Aber das interessierte mich anfangs weniger als der Mensch selber."

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Die heiklen Passagen ist Unterhaltung und legere Bildung zugleich, verbirgt sich jeodch hinter einem unnötig sperrigen Titel. Der offensichtliche Rechercheaufwand macht sich bezahlt, die abwechslungsreiche Gestaltung rechtfertigt den Umfang - dem kleinen Ein-Frau-Verlag Stories & Friends ist ein auch äußerlich schönes Buch gelungen, das eine Nische für bibliophile und literaturbegeisterte LeserInnen füllt.

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Lisa Viktoria Niederberger & Josef Kirchner

Beitragsbilder (c) mosaik


13 | Simone Scharbert

Nachts III

und stocken einen satz nach dem anderen stecken im
neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für einen
moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus konkav
und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der röhren

führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr
stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns
während wir schulter an schulter gehen klappen unsere
schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier

unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an
schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten
verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir
nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten

Simone Scharbert

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


12 | Natalia Fastovski

Verlorene Welt

Wir sind gefangen
in dieser Welt
mit einem kaputten Herzen,
verloren in Atemzügen,
die keine Zukunft haben.
Verzweifelt pulsieren
unsere Adern
und wir hauchen
uns gegenseitig Leben zu,
denn solange die letzte
Blüte noch blüht,
ist nicht diese Welt
und nicht unsere Liebe
verloren.

Natalia Fastovski

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.