Poedu - Text des Monats September

Wenn ich abends in mein Zimmer geh, schaut die Nacht durchs Fenster rein

und ich fühle mich ganz klein.

Komm ich ich morgens wieder raus,

bin ich groß und stark und der Tag klatscht mir Applaus.

 

Ari

(9 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe kam diesmal von Gerrit Wustmann:

Eine bei den klassischen arabischen und persischen Dichtern beliebte Gedichtform war das Rubaiyat, zu Deutsch „Vierzeiler“ - Gedichte, die immer vier Zeilen haben und sich reimen. Es gibt zwei Versionen: In der berühmtesten reimen sich jeweils die ersten beiden und die letzte Zeile; es ist aber auch in Ordnung, wenn alle vier Zeilen denselben Reim haben. Hier ein Beispiel des berühmten persischen Dichters Omar Khayyam, der von 1048 bis 1131 in Persien (dem heutigen Iran) lebte:

Kein Mensch erklärt die Rätsel der Natur
Kein Mensch setzt einen Schritt nur aus der Spur
Die seine Wesensart ihm vorschrieb, und es bleibt
Der größte Meister doch ein Lehrling nur.

Schreibe einen solchen Vierzeiler! Das Thema kannst du dir selbst aussuchen, aber es wäre schön, wenn die Natur darin vorkommt, denn sie spielt auch in der klassischen persischen Lyrik eine wichtige Rolle. Zum Beispiel stehen die Rose und die Nachtigall oft für zwei Verliebte.

 

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freiTEXT | Juliane Hahn

Ich, ich und das Lottchen

Der Mond fiel durchs vorhanglose Fenster und ließ meinen Bettnachbarn erbleichen. Ein kleiner Junge, der sich beim Spielen fast das Genick gebrochen hätte. Aber er war mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Jetzt lag er dort und röchelte im Schlaf, manchmal wehten auch ein, zwei gehauchte Worte von seinen anämischen Lippen.

Ich drehte den Kopf weg und versuchte, nicht da zu sein, indem ich mich dem Satz hingab, der mich ohnehin vollständig beherrschte. Er hing in meinem Hirn wie in einer Warteschleife, seit Stunden. La beauté sera convulsive ou ne sera pas. Da fehlte noch irgendetwas in der Mitte, sie würde außerdem verschleiert und magisch sein, die Schönheit, so ähnlich jedenfalls hatte Breton es formuliert, als er den Surrealismus ausrief. 1924, sogar die Jahreszahl stand klar vor mir. Den Satz selbst habe ich nie verstanden, allein das Wort konvulsivisch. Die Schönheit zuckend, verkrampft, ein Krampf. Jetzt hatte mich dieser Satz, so absurd es klingt, mitten aus dem Leben gerissen und hierher katapultiert, ins Krankenhaus. Er war zu mir zurückgekommen, damit ich endlich das vollenden konnte, was ich musste. Mein Lebenswerk. Eine Installation, die alle Künste auf sich vereinigen würde, Skulptur, Malerei, Film, vielleicht sogar Poesie als eine Art integrierter Text, eingearbeitet in das hauptsächlich als Bilderfolge geplante Video. Noch lag alles vor mir. Mein Schaffensdrang hatte wieder Blut geleckt, ich war dabei mich aufzurappeln. Neue Bildwelten zu erfinden, Ästhetik, Schönheit. Das war es, was ich so dringend brauchte. Für alles, was ich berührte, für mich selbst, für den Durchbruch. Sogar dieser Gips, der meine ganze rechte Seite vom Schulterblatt an bis hinunter zu den Zehenspitzen verbarg, hatte etwas Ästhetisches. Über zehn Knochenbrüche! Die Ärzte waren beeindruckt gewesen. Voller Interesse hatten sie mich untersucht, als wäre ich ein faszinierendes Objekt, ein Wunderwerk. Währenddessen hatte ein Assistent etwas von Autounfall gemurmelt, Drogenmissbrauch eventuell, ich blieb ruhig, meine Erinnerung leer.

Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Kurz vor der Visite schoben sie den Neuen herein, ein älterer Herr mit Schnauzbart und verkrebsten Stimmbändern. Zu sprechen war ihm nicht möglich, so dass er zur Begrüßung sehr heftig nickte und mich dabei unverwandt ansah; türkisblaue Augen, wie das Meer in Ferienkatalogen. Ich grüßte zurück, wobei ich darauf achtete, nicht zu viel Freundlichkeit zu zeigen, um einer Verbrüderung von Anfang an entgegenzuwirken. Abstand war wichtig, gerade jetzt.

Später die Visite. Meine Ärztin trug eine schwarze Hornbrille und beugte sich lächelnd zu mir herab. Ein Medizinerlächeln, ich glaubte ihr nichts. Sie wollte reden. Ob ich Bezug zu Drogen hätte, ob ich mich an das Fahrzeug erinnerte, an den Unfall selbst, den Aufprall vielleicht. Und meine Familie, ob sie bereits informiert worden sei?

Charlotte. Plötzlich fiel sie mir ein. Ich hatte lange nichts von ihr gehört. Sie war jetzt vielleicht sechs oder sieben, ein Schulkind. Das Lottchen. Abgesehen von den üblichen Babyfotos hatte ich nur ein Video mit ihr gedreht. Damals war sie erst ein knappes Jahr auf der Welt und konnte noch nicht laufen. Als Geisha verkleidet hatte ich sie an den Schrank gelehnt wie eine Puppe und ihrem Gebrabbel synchron einen Text unterlegt - über Liebe, Geld, Genuss, eine Geisha eben. Eigentlich war es ein scharfer kleiner Film geworden, aber Anja rastete aus. Das wäre Kindesmissbrauch und widerlich und die Kunst könne ich mir sonst wohin. Ich war froh, als sie später mit dem Kind auszog. Denn je älter das Lottchen wurde, umso mehr Schrecken verbreitete es. Jedes Mal, wenn ich in ihr Gesicht blickte, bemerkte ich Linien und Formen, die auf mich zurückgingen. Ihre Nase zum Beispiel und die Form ihrer Oberlippe. Erblasten, die ich ihr zugeschoben hatte, ohne es zu wollen. Ich hatte meinen dicklichen Körper nie haben wollen, diesen fleischigen Mund. Diese viel zu stark gebogene, unförmige Nase. Sie hatte mir damals leid getan, das Lottchen, und auf grausame Weise hatte es mich geekelt, sie zu sehen, uns beide zusammen, das ging einfach nicht.

Zehn vor sechs. Die Schwester setzte mir ein Tablett mit Schonkost vor, eher unappetitlich: Selleriesalat in weißliche Kuben geschnitten. Ich verzehrte ihn mit asketischem Gleichmut, ebenso wie mein Zimmernachbar. Überhaupt schienen Askese und Demut die Koordinaten zu sein, auf die es momentan ankam. Dies wertete ich als Zeichen für die Schwere meiner Krankheit, welche mir zugleich eine umso strahlendere Rückkehr ins Leben, in die Kunst versprach. Je tiefer unten, desto höher hinauf. Voller Vorfreude senkte ich mein Kopfteil ab, da sah ich sie. Anja. Charlottes Mutter. Sie lehnte lässig an der Wand direkt neben dem Fernseher. Noch immer trug sie ihr Haar aufgetürmt wie eine Plastik, ein haariger Widerstand, der die Luft zerteilte.

Familienbesuch, sagte sie trocken. Ich antwortete nicht.
Wie lange willst du dich noch krank stellen?
Ist das dein Mitleid?, fuhr ich sie an. Zehn Knochenbrüche, mein Körper ist zerbröselt.
Zerbröselt, wiederholte sie höhnisch. Dann müsstest du eigentlich dein Ziel erreicht haben. Physische Auflösung, Immaterialität, Reinheit der Kunst, blabla.
Ich blickte an mir herunter. Der Gips sah tatsächlich wie ein Gebirge aus, unter dem ich verschwand. Sie war gekommen, um mich zu verletzen. Nach so vielen Jahren. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.
Wieso bist du gekommen?, fragte ich schließlich. Und wo ist Charlotte?
Sie neigte leicht den Kopf, und ich meinte einen kleinen Vogel zu sehen, der dort in ihrem Haarturm nistete. Stille trat zwischen uns.
Glaubst du wirklich, du wirst diesen Ort gesund verlassen? Glaubst du wirklich, du wirst so sterben können?
Ja, wo ist sie denn?, schrie ich laut. Wo ist das Lottchen?
In diesem Moment regte sich mein Zimmernachbar, wir mussten ihn geweckt haben. Ich wollte ihn beschwichtigen, aber er blickte mich böse an. Geh endlich los, sagte er, geh sie suchen. Das sagte er, obwohl er gar nicht sprechen konnte, wegen seiner Stimmbänder.
Erschöpft fiel ich zurück aufs Bett. In diesem Krankenhaus war ich nicht mehr sicher. Ich litt, Knochenbrüche und Halluzinationen. Und selbst wenn ich mir alles nur einbildete: Dass ich sie suchen musste, mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. Und dass man mir Hypochondrie vorwarf, Feigheit, Verantwortungslosigkeit – große deutsche Worte, wie abstoßend. Dieser Ort war voller Täuschungen, und die einzige Wahrheit, die es jetzt noch gab, war Charlotte. Sie musste ich finden, irgendetwas bedeutete es doch, das Band der Gene.

Mühsam erhob ich mich und schlich am Schwesternzimmer vorbei den Gang hinunter. Meine Glieder spürte ich kaum, ganz offensichtlich war ich kerngesund und frei. Lautlos öffnete sich die automatische Glastür, die von der Wartehalle im Erdgeschoss ins Freie führte. Der Pförtner verharrte starr vor der Glotze, in einen Actionfilm aus den Siebzigern vertieft, während ich den Parkplatz überquerte. Ich folgte der Straße, die hinter dem Gelände weiterführte, wanderte ins Dunkel, irgendwohin, bis die Lichter der Stadt sich auflösten.

Die Weite der Landschaft umfing mich, es war, als geriete ich mit jedem Schritt, den ich über unbestelltes, rohes Feld stolperte, tiefer in ihren Bann. Der feuchte Boden zog mich förmlich an, und ich erschrak, als ich mein eigenes Schnaufen bemerkte, schnell, kurzatmig, laut. Wo sie sich wohl aufhielt, überlegte ich, während ich mich umwandte: Felder, weiter hinten Wiesen, die sich an den Hang schmiegten, ein Zaun, ein paar wenige Bäume, Sträucher. Meine Knie zitterten, ich musste mich hinlegen, nur einen winzigen Moment. Die aufgewühlte feuchte Erde würde mir Kühlung verschaffen; so machte ich es mir bequem, während ich den Sinn dieser Suche geradezu physisch empfand. Ich würde das Lottchen finden, sie war der Schlüssel zu mir, der letzte, der mir noch geblieben war, und wie im Märchen musste man nur den Zauberspruch kennen. Ich breitete die Arme aus, um meinen Körper in die Länge zu ziehen, so weit es ging. Vielleicht gelänge es mir, mich so zu dehnen, dass ich annähernd zwei Meter groß würde, vielleicht sogar größer. Wie eine Vogelscheuche. So würde sie mich leichter finden, falls ich zu schwach sein sollte. Sie würde auf mich zukommen, sehen, dass ich auf sie gewartet hatte. Feuchtigkeit drang von unten durch meinen Bademantel, während meine Hände die Erde abtasteten, um mich zu vergewissern, dass ich es war, der hier auf dem Feld lag, ich – bis mich ein tiefer Schlaf fortnahm.

Plötzlich Licht, Stimmen, das Klacken einer Tür. Jemand hat den Raum betreten, gleich steht er vor mir. Ich hebe abwehrend die Hand, bin krank, habe genug, da sehe ich die braunen Flecken, Altersflecken. Das muss eine Verwechslung sein, diese Hand ist uralt, vielleicht achtzig oder noch älter. Papa, flüstert die Frau; sie ist jung, sie setzt sich auf die Bettkante. Weint. Ein lautes, unbeherrschtes Weinen, das mich einhüllt, als wäre es ein Teil von mir. Irgendwie angenehm. Die Schönheit der Konvulsion, ist es das? Sie hat sich nach vorne gebeugt, zu mir hin, fast liegt sie auf mir. Ich möchte den Arm heben, nur ein Zeichen, aber es ist unmöglich. Ich habe mich schon entfernt und die Distanz wächst. Und zugleich die Schönheit, so scheint es, denn sie – das habe ich früher mal gelesen – nimmt man von ferne umso deutlicher wahr.

 

Juliane Hahn

 

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freiVERS | Silke Scheffel

sinnig II

barfuß insgesamt
der abschied spricht sich dunkelrot
wie vorgestern
das brombeerblut gemalt an deiner
oberlippe ränder sagst im norden
liegt das glück
und im schatten balzender birkenwälder
wo ein permanenter farbenwechsel
wangenlicht bewegtes deines
schneeweiß
schneegrün
schneeorange
dazwischen
auch mal sand und dünen schrieb ich
dir zuletzt in blanke zwischenräume zehen
wo wir gingen und lebten und liebten
weil wir wussten tief in uns das meer
klingt seine eigene landschaft nass
darin verschwammen und vergaßen
alle maße zeit
noch mehr
den blassen blauen heimweg

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Silke Scheffel

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freiTEXT | Katharina Forstner

Regentinnenschaft

Die Königin frauscht waltet regiert:
108 m² Wohnfläche und einen kurzgemähten Rasen
zur Miete. Die zahlt sie an den Mann.
Die Königin besitzt: einen Thermomix einen Vibrator ein Auto. Den Thermomix besitzt sie auf der Kücheninsel, den Vibrator in der Sockenschublade, das Auto unter dem Carport. Die Königin fährt SUV. Das Schwarz glänzt in der Sonne, die Katze liegt auf der Motorhaube.
Die Königin weiß, dass sie glücklich ist. Ich bin glücklich, denkt sie
als sie in den Wagen steigt. Die Katze flüchtet beim Schlagen der Türen. Das Auto schnurrt aus der Einfahrt. Die Abendnachrichten säumen den Weg in die Arbeit.
Die Königin pflegt: 25 Wochenstunden für 1700 brutto auf der Neurologischen.
Dazu braucht sie: orthopädische Schuheinlagen gegen den Hallux Valgus. Eine junge Kollegin für die Eingaben am PC. Eine Tafel Schokolade für die Seele.
Hier dauert die Nacht zwölf Stunden und 24 Betten lang. Auf dem Heimweg wird sie zweimal angehupt: Die Ampel ist grün.
Die Schlüssel klimpern. Die Schüsseln klirren. Trockenfutter rieselt. Die Königin duscht und stellt sich nicht auf die Waage. Im Spiegel betrachtet sie Bauch und Haaransatz. Sie ist weiß gekrönt und muss bald nachfärben. Ihr Körper ist ein halbes Jahrhundert alt. Er hat eigene Zeitrechnungen erschaffen: 25 20 17 Jahre seit dem Urschrei. Das ist jährlich wert: Gutschein für drei Mal Wäsche aufhängen. Gutschein für einen Tag nicht lästig sein. Gutschein für einmal essen gehen. Die Königin wurde zur Mutter gekrönt.
Diese Krone ist mein Glück, sagt sie zum Spiegelbild und legt sich ins leere Doppelbett.
Die Königin hat gelernt sich zu kümmern um: drei Kinder zwei Katzen einen Mann. Den ist sie losgeworden. Jetzt hat sie einen anderen. Den neuen König statt dem alten.
Zu Mittag wird der neue König nach Hause kommen, deswegen schläft die Königin nur bis zwölf und wärmt das Essen. Um halb eins schreibt sie dem Mann: Wo bleibst du so lang?
Wo warst du so lang? Das Essen ist schon kalt geworden. Setz dich nieder. Ich nehme den kleineren Knödel. Der ist mir zerfallen. Willst du noch einen Schöpfer? Die Soße ist nichts geworden, zu viel Schlagobers erwischt. Hast du eh genug gehabt? Noch einen Kaffee? Kuchen habe ich auch noch.
Der Mann nimmt Platz auf der Eckbank und das Besteck in die Hand. Einen Bissen vom ganz gebliebenen Knödel. Er nimmt gerne. Er nimmt Liebe wie einen Blumenstrauß.
Die Königin gibt gerne. Das macht sie glücklich. Du machst mich glücklich, sagt sie dem Mann und springt auf um den Geschirrspüler auszuräumen.
Jetzt setz dich mal hin, sagen die Kinder immer zu ihr. Bleib doch am Tisch. Wenn sie mal da sind zwischen ihren Aventuiren.
Die Königin ist ihr Leben lang gelaufen: dem Läuten der Patienten nach, auf Eltern- – korrigiere – Müttersprechtage, zum Hofer zum Spar zum Fußballturnier laufenden Siebenjährigen zuschauen.
Der Mann steht auf und geht gemütlich: wieder in die Arbeit die Enkel besuchen seinem Freund Haus bauen helfen. Das Kaffeehäferl lässt er stehen.
Die Königin putzt schrubbt tuscht sich die Wimpern. Spricht mit den Katzen. Die Katzen sprechen nicht zurück. Bückt sich im Schlafgemach des Sohns nach Unterhosen und sagt: Das letzte Mal räume ich hier auf. Das Schlafgemach spricht nicht zurück. Ruft bei der Tochter an und erwischt nur die Mailbox. Die Mailbox spricht nicht zurück. Der andere Sohn hebt ab und will zum Essen kommen, morgen. Die Königin wird gebeten. Der Königin wird gedankt. Der Sohn spricht von seinen Weihnachtswünschen. Die Königin spricht nicht zurück.
Sie liest gießt sprießende Tomaten. Der Schlauch und die Augen tropfen.
Die Königin wartet: dass der Mann zurückkehrt die Kinder sie besuchen die Himbeeren reif werden
wartet: dass es heimkommt, ihr Glück.

 

Katharina Forstner

 

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freiVERS | Alexandra Regiert

Flaschengrün

melierte murmeln
kicherten ins gebüsch
überwarfen sich über dem moos
taumelten lindgrün
ins gedächtnis
waldläuferhymnen
gesungen mit eulenkehlen
gurrten in ockertönen am gaumen
manchmal summten sie
seidenwörter
am bauch entlang
die warm wurden
wie frisch gekochter spinat
und streichelten etwas
smaragd ins auge
bis alles wald wurde
und selbst das ebenholz
ergrünte

.

Alexandra Regiert

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freiTEXT | Simon Gottwald

nevermore

Da fliegen die Worte, rabenschwarz auf grauem Papier. Seit Stunden steht der Mann auf der Brücke und lässt sie aus einem schier unerschöpflichen Vorrat auf die Straße regnen.
Das Neonlicht der Reklame schneidet ihnen die Flügel ab, scheint es.

Wir sind doch alle Rabenkinder unglücklicher Eltern.

Wagen fahren keine mehr; die Polizei hat den Verkehr umgeleitet. Schaulustige stehen in dicken Trauben an den Absperrungen. Manche schütteln den Kopf, als hätte die Fassungslosigkeit ihr Genick gelockert. Andere heben eines der herbeigewehten Flugblätter auf, runzeln die Stirn, nachdem sie es überflogen haben, und werfen es wieder weg.
Der Mann will mit niemandem sprechen. Solange die Beamten auf Abstand bleiben, ist er eine Schatulle aus Schweigen. Jedes Mal, wenn sie sich ihm nähern, droht er, zu springen.
Fröhlich leuchtende Bildschirme reproduzieren die Szene unendlich, wie gegeneinandergestellte Spiegel. In der Menge diskutieren die Menschen, was der Mann da wohl mache. Eine Werbeaktion, meint einer, das ist ein Protest, weiß ein anderer, wogegen, er zuckt mit den Schultern.

Eine brechende Eierschale gibt zwei Welten frei. Manchmal ist das Nest geflochten aus einander verschlingenden Schlangen oder gebaut aus glühenden Kohlen. Das ist dann Pech. Mit fremden Flügeln kann man nicht fliegen.
Wo andere mit Schmuck oder Tand vollgestopft sind, bergen manche Schatullen eine Spieluhr, die eine seltene oder eine bekannte Melodie spielt, berührt man sie nur vorsichtig.

Vor grauem Papier ist der Asphalt kaum noch zu sehen. Ein Schottergarten aus Worten liegt auf der Straße.

Aus den Menschenmassen steigt eine Stimme auf. Jemand erkennt den Mann. Das ist Narcissus Hyde, sagt er. Der Name springt von Mund zu Mund, schlüpft in kleine Tastaturen und tänzelt durch die Luft wie ein Irrlicht.
Werbeaktion, wiederholen jetzt andere, Kunst, widersprechen einige. Zerknitterte Flugblätter werden als Beleg für beide Thesen weitergereicht.

Der Pelikan nährte seine Jungen von seinem eigenen Fleisch.

Haben Sie auch gehört, was man neuerdings über ihn sagt, wispert jemand. Ich kenne ihn gar nicht, lautet die Antwort. Alles nur Gerüchte, wird ergänzt, alles nur Gerüchte, bis es Beweise gibt. Das ist er gar nicht, mischt jemand sich ein, Sie verwechseln ihn.

Wie hauchdünne Spiegel aus Licht sehen die Zettel aus. Sie stürzen, als wäre das Papier zu schwer für sich selbst. Vielleicht sind es auch die Worte auf ihnen, die sie nach unten ziehen, oder die Gedanken, zu denen diese sich verschlungen haben.

Verstehen Raben, was sie sagen, wenn sie menschliche Worte verwenden?
Und wie ist das eigentlich mit Menschen?

Was halten Sie davon, fragt einer seinen Nebenmann. Muss der das von da oben machen, antwortet der. Nein, ich meine das hier, sagt der Erste und zeigt ihm ein Flugblatt, auf dem ein Schuhabdruck aus Straßenschmutz prangt. Die Linien sind deutlich zu erkennen.
Frechheit, so etwas noch zu verteilen, meint der Zweite.
Der Erste knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn weg.

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein‘ Fuß, hat ein‘ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein‘ Gruß.

Unermüdlich regnet das Papier, so, als würde der Mann aus der Unendlichkeit schöpfen. Man ist sich nicht einig, ob er wirklich Narcissus Hyde ist. Man diskutiert über die Zettel. Inzwischen haben die Menschen festgestellt, dass auf jedem einzelnen etwas anderes steht. Manche hat er sogar von Hand geschrieben, sehen Sie mal, das kann er gar nicht alles alleine gewesen sein, warum denn nicht, die Handschrift ist eine ganz andere, sehen Sie das nicht, nein das ist die gleiche, sie verändert sich nur, weil er so viel geschrieben hat.
Wissen Sie, ich glaube, ich habe mich geirrt, so etwas würde Narcissus Hyde nicht schreiben, doch ich denke schon, waren Sie nicht eben noch der Meinung, dass …

Wir sind alle Rabenkinder. Über unzählige Generationen lässt unsere Geschichte sich auf ein einzelnes gesprenkeltes Ei zurückverfolgen, aus dessen dampfender Ursuppe das Leben entstand. Flossen, Beine, Flügel und Arme differenzierten sich aus.
Ein in Plastik erstarrtes Fossil, Spiegel einer in Öl gemalten Welt. Irgendwann werden Städte, Beton und Abgase nur noch als unverständliche Albträume existieren.

Der Mann, der vielleicht jenen Namen trägt, von dem keiner der Zuschauer weiß, ob er ein Pseudonym oder der ihm von seinen Eltern gegebene ist, sieht auf die Menschen herab. Es könnte Enttäuschung sein, was sich auf seinen Zügen abzeichnet, oder kaum verhohlener Ekel. Manche der Menschen halten seinen Gesichtsausdruck für einen der Neugierde, andere bemerken gar nicht, dass er ein Gesicht hat.
Ein älterer Mann in den hinteren Reihen keift wütend vor sich hin, wobei er so sehr mit dem Kopf zuckt, dass die über die Glatze gekämmten langen Strähnen sich lösen und wild vom Haarkranz abstehen. Unglaublich, dass der den Verkehr so beeinträchtigt, teeren und federn sollte man den, ruft er. Manche stimmen murmelnd zu, anderen missfällt die Forderung offensichtlich. Vielleicht denken sie an die Lebensbedingungen in den Legebatterien oder daran, dass die Dinosaurier Federn hatten.

Nachdem er stundenlang Worte in die Stadt entlassen hat, beginnt der Mann, die Kartons von der Brücke zu werfen. Noch immer fast randvoll, platzen sie unten mit lautem Knall auf und ergießen sich über das Zettelfeld.
So fasziniert sieht er den fallenden Kartons nach, so erleichtert nimmt er den Aufprall jedes einzelnen zur Kenntnis, dass man denken könnte, dieses Finale sei der eigentliche Zweck der Inszenierung und alles andere sei nur eine belanglose Fingerübung gewesen.
Der Polizei entgeht nicht, dass der Mann sie nicht mehr beachtet, dass er nichts anderes als die Kartons und die aus ihnen schwemmenden Zettel wahrnimmt.
Zwei Polizisten rennen auf einen Fingerzeig zu dem Mann und stürzen sich auf ihn. Er wirft gerade einen Karton, als sie ihn packen und ihm die Arme auf den Rücken drehen wie brechende Rabenschwingen. Obwohl er sich mit aller Kraft wehrt, haben sie ihn rasend schnell zu Boden gebracht und fixieren seine Hände.
Er gibt keinen Laut von sich. Röhren schütten Neonlicht über der Szene aus wie verdorbenes Saatgut. Die Polizisten heben den Mann vom Boden auf und stellen ihn auf seine Füße, als wäre er eine Vogelscheuche. Sein Gesicht glänzt, als würde er stark schwitzen.

Lieber Vogel, fliege weiter, nimm die Welt mit und noch mehr, nie wieder werd ich heiter, denn das Leben ist schwer.

Keiner der Zuschauer hat gesehen, wie er es geschafft hat, sich aus dem festen Griff auf seinen Schultern zu befreien, keiner, wie er die Fesseln an seinen Handgelenken gelöst hat. Auf einmal steht er auf der Brüstung und breitet die Arme aus. Dann legt er den Kopf in den Nacken, atmet einen Sonnenfleck aus und gibt dem Himmel einen Kuss.
Die Beamten können ihn nicht fassen, er ist wie in Öl gehüllt, seine Haut wie ein Panzer gegen die Welt.

Melodie im Bauch, gefüttert mit der Würmer Weisheit, jedes Wort ein telepathisches Tentakel, und Odin fehlte ein Auge.

Am nächsten Morgen rollt kein Verkehr, obwohl die Absperrungen nicht mehr da sind, die Schaulustigen verschwunden.
Die einzige Erinnerung an den Vorfall sind die Papierstreifen, mit denen die Vögel ihre Nester auspolstern.

 

Simon Gottwald

 

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freiVERS | Adrian Brauneis

Ronnie

Wie üblich kehrte der Junge,
Ronnie war sein Name,
erst spät am Abend nach Hause zurück.
Er hatte Überstunden in der Fabrik gemacht, wie üblich.
Rechnungen warteten ungeduldig darauf bezahlt zu werden.
In ihrem kleinen Appartement war Izzy, Ronnies Freundin,
bereits vor dem weiß flackernden Fernseher eingeschlafen;
ihr dicker Bauch hob und senkte sich rhythmisch vor dem
Schneegestöber auf der Mattscheibe –
ein Walfisch, der die Wasseroberfläche durchbricht, um sich für
Sekunden im Mondschein zu baden.
Das dachte Ronnie bei ihrem Anblick.
Auf dem Tisch waren Käsemakkaroni in einer Pappschachtel
schon lange kalt geworden.
Ronnie setzte sich und aß trotzdem.
Dann stand er auf,
ging ins Bad
und rasierte sich,
wie üblich,
Schädel und Nacken,
duschte heiß, bis das ganze Badezimmer von Wasserdampf
vernebelt war,
feilte danach Finger- und Zehennägel gründlich ab und bürstete
sich die Zähne genau fünf Minuten lang.
Schließlich zog er sich an:
Seine schwarze Bomberjacke über einem blütenweißen, eng
sitzenden baumwollenen T-Shirt,
eine Blue Jeans, der Saum an beiden Beinen umgeschlagen
und zuletzt seine schwarzen Stiefel, nachdem er sie mit einem
Lappen, wie üblich, zum Glänzen gebracht hatte.
Der Schlüssel steckte schon im Schloss, als er noch einmal in die
Wohnung zurückkehrte.
Er schaltete den Fernseher ab und breitete,
schuldbewusst,
eine Navajo-Decke über Izzy aus;
er strich ihr durchs Haar und sie lächelte im Schlaf.
Dann verließ er die Wohnung,
darauf bedacht, die Tür geräuschlos hinter sich zu schließen.

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Adrian Brauneis

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freiTEXT | Emil Fadel

Schlick

„Ich finde, wenn man auf das Wasser schaut, und nur auf das Wasser, dann sieht es fast aus als wären wir am Meer“, hatte er gesagt und sie hatte kurz nachgedacht und ihm dann zugestimmt, denn es sah wirklich so aus. Die Wellen, die an den Strand spülten, die kleinen Tang- und Algenfelder, die in den Wogen auf- und niederschwappten, die träge blaue Masse, die sich vor ihnen erstreckte – das alles hätte genauso gut auch das Meer sein können, in einer Lagune an der Adria, oder an einer der südfranzösischen Küsten. Aber es war trotzdem nicht das Meer, sondern der Gardasee, und da, wo normalerweise der Horizont das Wasser berührt, ragten Bergmassen in den Himmel. Sie nahm seine Hand und zeigte ihm, wie er sie halten konnte, um das gegenüberliegende Ufer zu verdecken, dann war es noch viel einfacher, nur das Wasser zu sehen, das Meer.

Wenn sie jetzt die Hand über das andere Ufer hält, dann sieht sie auch nur noch das Wasser, aber wie Meer fühlt es sich trotzdem nicht an. Der See ist trüb und schlickig und hat sich weit zurückgezogen, nur noch die Verfärbungen an den Steinen zu ihren Füßen lassen noch erahnen, wie hoch das Wasser einmal gestanden hat.

Es war ihr erster gemeinsamer Sommer gewesen, sie hatten eine ganze Weile hin- und herüberlegt, wo sie hinfahren wollten, aber weil es zu viele Orte gab, die sie gerne entdecken wollten, weil sie beide zu viel Rücksicht auf die Wünsche des jeweils anderen nahmen, waren sie zu keinem richtigen Schluss gekommen. Schließlich hatte eine ihrer Kolleginnen ihr den Gardasee empfohlen, weil sie oft als Kind mit ihren Eltern dorthin gefahren war, „da gibt es anscheinend auch einen tollen Vergnügungspark“ hatte sie ihm erzählt, direkt als sie an diesem Tag von der Arbeit nach Hause gekommen war. Das hatte ausgereicht, um ihn zu überzeugen und zwei Wochen später saßen sie in seinem Mitsubishi Eterna, der nach vier Jahren irgendwie immer noch neuem Plastik roch, und fuhren die Brennerautobahn hinunter. Sie waren beide vorher noch nie in Italien gewesen und sprachen so gut wie kein Wort Italienisch, aber er meinte, dass das schon kein Problem werden würde.

Sie hat kein Gefühl dafür, wie lange sie am Ufer gestanden hat, als nun der Hotelmitarbeiter hinter sie tritt und sie in holprigem Englisch darauf hinweist, dass den Gästen des BuonviaggoSpa von Seiten der Hotelleitung nicht empfohlen wird, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten, jetzt, wo die Brände so nah sind. „Lasciami stare“, sie winkt ärgerlich ab und er verschwindet wieder, wahrscheinlich ein wenig überrascht darüber, dass diese offensichtliche deutsche Touristin mit dem Sommerkleid und dem Strohhut ihn plötzlich auf Italienisch anfährt. Natürlich weiß sie, dass er eigentlich recht hat, ihre Lungen brennen schon und ihr Hals ist ganz wund von dem scharfen Rauch, der hier überall in der Luft liegt. Aber ihr Zimmer mit der Lüftung und der Klimaanlage ist ihr noch viel mehr zuwider als hier draußen zu sein. Hotelzimmer können sich ganz schön furchtbar anfühlen, vor allem wenn man alleine ist.

Das kleine an der Durchfahrtsstraße gelegene Hotel, in dem sie nach langem Suchen abgestiegen waren, trug den Namen CASABLANCA in schönen, großen Lettern auf dem Dach und alles daran fühlte sich auch genauso an – auch für jemanden, der noch nie in Casablanca gewesen war. Ihr Zimmer war winzig und gefliest und von einer eigenartigen Kühle erfüllt, als sie eintraten und die Koffer auf die Betten warfen, um direkt unter die Dusche zu springen und den Schweiß der Fahrt loszuwerden. In der Ecke stand ein alter klappriger Ventilator, der sich sichtlich Mühe gab, die Luft im Raum in Bewegung zu bringen. Die Betten waren steinhart, als sie die Koffer nach der Dusche beiseiteschoben und auf den schneeweißen Laken miteinander schliefen und hinterher sagte er: „Willkommen im Urlaub“ und sie lächelte still in sich hinein, während er einschlief und der Ventilator in der Ecke vor sich hin ratterte.

Über ihrem Kopf ertönt aus der Ferne ein Rattern, das langsam lauter wird und als sie hochsieht, ist es ein Helikopter der Feuerwehr, der mit hoher Geschwindigkeit und nach unten gesenkter Nase über den See eilt, um am Berghang gegenüber eine große Ladung Wasser auf die Flammen fallen zu lassen. Sie sieht zu, wie die Wolke aus Tropfen auf die glühenden Skelette der Bäume niedergeht, wie eine gewaltige Dampfwolke aufsteigt und wie der Hubschrauber abdreht, um die nächste Ladung zu holen. Sie sieht auch, dass es nichts nützt. Die gelöschte Stelle lodert immer noch an vielen Punkten und hinter der anderen Flanke des Berges zeugen Rauchsäulen davon, dass sich weitere Brände nähern. Kopfschüttelnd geht sie einige Schritte am Ufer entlang, die Haufen von Tang, die der Sturm an Land gespült hat, vorsichtig übersteigend. Das Hotelpersonal gibt sich normalerweise Mühe, den Strand von allerlei Treibgut freizuhalten, aber seitdem man ohnehin nicht draußen sein soll, wurden die Säuberungsarbeiten eingestellt.

Das Seeufer in der Nähe ihres Hotels war malerisch, aber ziemlich überfüllt, weil direkt angrenzend ein großer Campingplatz lag, der jeden Morgen pünktlich um zehn eine gewaltige Menge badesüchtiger Wohnwagenbewohner aus seinen Pforten quellen ließ. Dennoch verbrachten sie die ersten Tage fast ausschließlich dort, im Wasser planschend wie Kinder, auf den heißen Steinen in der Sonne schwitzend, die Strandtücher nur als notdürftige Unterlage gegen den harten Untergrund, oder im Schatten der Bäume ruhend. Es war wunderbar. Sie war vorher nur an der Nordsee gewesen und hatte das ziemlich furchtbar gefunden, er hingegen hatte schon immer das Meer geliebt, und trotzdem fanden sie beide, dass das hier irgendwie genau richtig war. In diesem Sommer verliebten sie sich also nicht nur ineinander, sondern auch in den Gardasee.

„Der See stirbt“, denkt sie bei sich. Er liegt auf dem Totenbett und sie besucht ihn ein letztes Mal. Im nächsten Sommer wird es keinen Urlaub mehr hier geben, zumindest nicht für sie. Ohnehin ist es dieses Jahr einfach nicht mehr dasselbe gewesen, mit all den Bränden und ohne ihn. Es ist das erste Mal gewesen, dass sie alleine irgendwohin fahren muss, das erste Mal seit dreißig Jahren. Inzwischen ist sie am Ende des begehbaren Bereiches angekommen, hier endet der Strand – oder das, was davon übrig ist – und die Klippen beginnen, ins Wasser zu greifen. Hier an dieser Stelle haben sie gestanden, als sie ihm den Trick mit der Hand und dem Ufer gezeigt hat. Damals hat er gelacht und sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich so sehr auf diesen Sommer mit ihr freut und auf alle anderen Sommer, die danach noch folgen werden. Jetzt ruht er in der kühlen, dunklen Erde eines deutschen Friedwaldes und es wird kein Sommer mehr mit ihm folgen und vor ihren Füßen liegt der vertrocknete Kadaver einer Möwe, ein sandverkrustetes Elend, aus dem an allen möglichen Stellen Federn und grätenartige Knochensplitter ragen.

„Ich freue mich auch so sehr“, sagte sie und zerzauste sein von der Sonne hell gebleichtes Haar. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte es sich auch so an, als würde sie es wirklich meinen, wenn sie das sagte.

Sie sieht den toten Vogel noch eine Weile an, dann dreht sie sich um und beginnt, den Hügel zurück zum Hotel wieder hinaufzusteigen. Oben kommt ihr schon ein Hotelmitarbeiter entgegengelaufen, genauso freundlich und gesichtslos wie der erste – oder ist es gar derselbe? Sie ist sich nicht sicher – und informiert sie, dass soeben ein Erlass der örtlichen Tourismusbehörde eingegangen ist. Das Hotel wird evakuiert. Die Brände kommen zu nah. Sie lassen sich nicht löschen. Der Ort wird aufgegeben. Kurz überlegt sie, was sie tun soll, und für einen Moment ist da die Verlockung, einfach zurück in ihr Zimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und auf die Flammen zu warten. Dann fängt sie sich wieder und folgt dem emsig vorauseilenden Jungen in der Hoteluniform. Bei der Eingangspforte des Hotels bleibt er stehen und fragt, ob sie noch ihr Gepäck aus dem Zimmer holen möchte, der Shuttlebus könne solange warten. Sie dreht sich noch einmal um, sieht auf den See und strafft dann die Schultern. „Lascialo bruciare.“ Soll es doch brennen.

 

Emil Fadel

 

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freiVERS | Maurice Mejer

M e e r (e s) l a n d

Männer gemacht aus Meeressalz
Ozean Wasser
Urgestein
Lava, Lehm
Feuer und der Liebe zum Meer
Sonnengegerbte Haut
Von der Witterung gezeichnet
Der Blick ins vermeintlich Leere gerichtet,
in der sich Erfüllung zeigt
In seinen Augen leuchten
aufgehende Morgensonnen
Der Kaffee wird kalt
Der Mond fällt in den Kochtopf

Wir treiben die Ziegen über den Königsweg
Wir gehen den Pfad, der für uns bestimmt ist
Wir harren aus und schreiten voran
Ritter des Sturms
Fürsten des Meeres
Hier gibt es kein Gesetz
Keine Zeit, die vergehen könnte
Nur Momente geprägt von Stille und kraftvoller Ursprünglichkeit

Wellenberge zerschlagen sich am Steinstrand in der Brandung
Das Salz des Meeres nagt am Außenputz der Häuserwände

Azorien, wunderschönes Meeresland
Portugals vergessene Orangengärten
Du bringst Fisch zum Mittag
und lachst wie ein Lebemann
Der Tisch ist immer eingedeckt für noch
eine weitere Person
Denn man kann ja nie wissen, sagst du
Wir wissen nichts
Doch wir fühlen viel

Heute fährt niemand zur See
Wir haben die Boote in Sicherheit gebracht
Der Sturm ist gekommen um uns zu zeigen, was Sache ist
Hier regiert nichts und niemand als das Vertrauen
Wir holen die Netze ein und in meiner Erinnerung
begegnen wir uns noch einmal

Menschen entstanden aus der Liebe zum Meer
Seepferde galoppieren in der treibenden Flut
In seinen Augen leuchtet es funkelnd

Frauen entstanden aus dem freien Fall des Wasserfalls
Botschafterinnen zwischen der alten und der neuen Welt
Kolibrielfen, im Sonnenstrahl der Eingebung
Wir laben uns am Wasser und tanzen den Tango
Somos gente do mar
Seemänner und Frauen unseres Ursprungs

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Maurice Mejer

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Poedu - Text des Monats August

Meine Bastel-Oma

Meine Lieblingsoma sieht super aus,
kann basteln super und geht gerne raus.
Ihre Fähigkeit ist Basteln, und das kann sie toll,
ich hab’ hier fast die Wohnung mit Gebasteltem voll.

Spazierengeh’n, das macht ihr Spaß
und im Garten macht sie ihre Blumen nass.
Denn sie hat Blumen toll und viel,
mit tollen Blüten und einem Stiel.

Sie kümmert sich gut um ihre Blumen
und hört oft die Bienen summen.
Sie reist gern, doch hört sie nicht gut,
doch trotzdem hat sie noch Mut.

Wir besuchen sie gern,
doch wir wohnen fern.
Drei Stunden von hier entfernt, und wir haben kaum Zeit,
denn drei Stunden, das ist weit.

Meine Bastel-Oma geht gerne in den Wald,
doch nun: »Bis bald!«

Der goldene Ritter
im Auftrag vom goldenen Kaiser

 

Justus Wilhelm

(9 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe diesmal:

Zwischen Generationen: bedichte Superheld: innen einer anderen Generation.

 

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>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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