17 | Georg Großmann
Der Nachtkrabb
(ein altes Lehrmärchen)
Kinder des Tages
hellt nicht die Nacht
mit dem Weiß eurer
Augen
das Dunkel, das die Welt
umflort
beherbergt böse
Kreaturen
gehorcht den Uhren, den
Liedern der Stunde
und klettert nicht in den Ofen
der Nacht, klettert
in den Alkoven
und macht
die Augen häutig und
still
morgen Früh, wenn Gott
will
–
meidet die Nacht
seid nicht des nachts
im Wald, auf freiem
Felde, wenn die
Geister aus dem
Nebel brechen
wenn der Nachteulenfresser kommt
und schlaflose Kinder
ins hinterste Finster
des dichtesten Waldes
verschleppt
ein Riese, man nennt ihn
den Nachtkrabb
ein tiefschwarzer Vogel
groß wie ein Stadel
geht auf gefiederten
Stelzen
greift mit gefiederten
Fingern
stößt mit seinem Sensenschnabel
rote Höllenschreie aus
schaut mit seinen Kohleaugen
dreht den Federkopf zur Seite
pickt nach euch wie ein
fallender Baum
sieht euch von Weitem
sieht euch von oben
kommt schon geflogen
hört jedes Knistern von
Zweigen
hört jedes Flüstern und
Schweigen
sucht nach den
Kindern, den
sturen
(hört auf die Uhren!)
lässt sich die
Abweichler munden
(folgt brav den Stunden!)
Nachtkrabb, gefiederter
Riese
reibt euch mit Grobsand
Wunden ins Fleisch
reibt euch das Augenlicht
aus eurem Angstgesicht
legt euch die ewige
Nacht in den
Schädel
hält euch im Dunkel
fest, dem ihr
gefrönt
schindet euch
Kinder des Tages
hellt nicht die Nacht
mit dem Weiß eurer
Augen
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13 | Georg Großmann
Mühlkreisberechnung
die Landschaft hier ist
mehrgeschossig
fiebrig, unstet
wechselt ständig
ihr Niveau
ist überall
und nirgendwo
ist Senke, Hang und
Kuppe an einem
Fleck
die Landschaft hier ist
durchstockwerkt
ist mit Wald bestockt
ist mit Wiesen bespannt
mit Häusern getupft
in denen sich weitere
Stockwerke anfügen
kleinteilig, feiner
abgestuft, filigran
erschlossener Raum
wie
eine winzige Schublade
die man aus einem Möbel-
gebirge zieht
ein Mikrokosmos
ein Setzkasten im
leuchtenden Moos
in dem wir
versteckt – in der
Nähe der Wälder, die
auch durchstockwerkt
vom
Wurzelkeller bis
zur Kronendach-
terrasse
alles verschachtelt sich
in die Höhe, dreht
sich, kippt seitwärts
kriecht in die Kerben
springt aus den Leiten
wie Erker hervor
wölbt sich den
Wolken entgegen
.
Georg Großmann
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freiVERS | Georg Großmann
Zeitzikade
die Zeit raschelt
geflügelt, wie ein
Insekt
unter der Borke
des Kosmos
ich bilde
Früchte in deinem
Traubengerüst
tropfengroße Beeren
die nach uns schmecken
ich schwimme
zerreiße das
Tuch Wasser-
linsen, welches deine
Weiherhaut bedeckt
gefranste
Salamandersonnen
perlen aus
dem Legestachel
abgetreppte
Dunkelheit, die
Nacht, ein hohes
schmales Haus
mit Erkern, Schindel-
dach und Lampions
wir leben darin
der Tag verglimmt vor
dem geschlossenen Lid
unseres Schlafzimmerfensters
die Zeit zirpt
die Zeit stirbt
wir sterben
unter der Borke des Kosmos
Es ist schon wieder Herbst
Du bist noch immer bei mir
Seit neun Herbsten.
Die Kälte kommt gekrochen
Vielleicht gelingt mir endlich
ein gebührendes
Gedicht über den
Sommer.
.
.
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freiVERS | Georg Großmann
Die Schönheit leerer Außenhaut
die Schattengerippe des Tages wandern über die Giebelflächen der Plattenbauten
über die fensterlosen Schiffshecke der auf Grund gelaufenen Wohnhausmaster
durchdringen die Marillenhaut, mit der die Sonne die Flächen bespannt
am Abend wächst Laternenlicht am Fuß der Rauputzklippen
Stille
Betrachtung
:
die Schönheit leerer Außenhaut
die Schönheit stiller Flächen
ich schaue durch die
Stadtschichten
durch die gezackte Form
des Ausschnitts
auf die Schildmauer
der Vorstadtburg
den Monolith
Polygon des Tagtraums
Riese
im Dämmer gekrönt vom
Kreistanz der Krähen
die Spechte
behacken die
Haut
und das Fleisch
:
graben bis
aufs Armierungsgewebe
Styropor schneit
aus den Wunden
fällt aus der gelochten
Leere
unter der ich
staunend stehe
o, die Schönheit stiller
Flächen
.
.
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freiVERS | Georg Großmann
Häutungstier
Ich bildete mir meine
erste eigene
Meinung
Meine erste eigene
Meinung bildete sich
unter der Hornschicht
Meine erste eigene
Meinung wuchs mir wie
eine innere Haut
Eine eigene Haut
meine innere Meinung
Ich streifte die
elterliche Exuvie
ab
nicht in einem Zug, sondern
zaghaft, Stück für Stück
Nun liegt sie vor mir
die Althaut
klobig und steif
wie eine Tupperware-Box
Klobig und steif war meine Haut
eine fleischige Bleischürze
ein Baukasten des letzten Jahrtausends
eine patinierte Rüstung, die kaum
Licht reflektiert
Rosafarben, nackend, weich wie
gegarte Garnelen ist
meine eigene Haut noch
Das schon
Ich schaue zurück zur
Exuvie, die wie
ein Haus, ein sicherer
Unterstand lockt
das Bekannte
der lauwarme
Pool
ich bade jetzt
kalt
ich breite meine
verletzliche Crevetten-
haut
in den schmerzhaften
Niederschlag
.
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2 | Georg Großmann
Mühlviertler Nacht
ich befinde mich in den
gestapelten, fest
verzahnten
polyedern, bin
im haus, draußen;
der dreikant-hof, huf-
schläge, leere, die weite,
der wald, der den hof nachts
belauert
drinnen; das wasser, der
saugmund der
abwasch, das
spülkasten-rauschen
draußen; das gluckern der jauche
im hochbehälter, die sprache des blasenschlagenden
dunkels
draußen läuft mein drinnen
mein kochwasser
mein zahnpastaschaum
meine ausscheidung in
den gärenden teich
während sich jemand daneben
versteckt hält und atmet und
hört und weiß, dass ich
da bin, im haus und mich sieht
in den fenstern
und lächelt
und hechelt
und herschleicht
und blicke von draußen
nach drinnen wirft
aus dem weiten
dunkel heraus in die aus-
geleuchteten polyeder
auf mein bildschirm-
beflimmertes
gesicht
.
Georg Großmann
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mosaik38 - ein bisschen Nähe
mosaik38 - ein bisschen Nähe
Herbst 2022
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INTRO
„Alle feiern“, sagt meine Mutter. „Ich verstehe nicht, wie alle feiern können.“ Sie sagt: „Ich verstehe nicht, wie alle so tun können, als ob nichts gewesen ist.“
„Ja“, sage ich. (Julo Drescowitz, S. 28)
Auch wenn es schon abgedroschen klingt und jede*r Zweite beim nächsten Satz seufzend das Intro-Lesen abbrechen wird: Wir leben in turbulenten, intensiven, bedrückenden Zeiten. Aber! Es ist schön zu beobachten, dass es Künstler*innen gibt, die sich den unterschiedlichsten Aspekten dieser lange andauernden Krisenprozesse annehmen und die diversen Implikationen auf Mikro- und Makro-Ebene thematisieren.
Aus Gesprächen wissen wir, dass viele Autor*innen von der Weltlage oder individuellen Notlagen am Schreiben gehindert werden – vielleicht findet sich in dieser Ausgabe für jeder*n von uns ein Text, der wieder Energie und Perspektive gibt.
„Schreiben braucht Gewusel“, meint Jakob Kraner im Kreativraum. Dem können wir uns nur anschließen: Der persönliche Kontakt, die geistige und körperliche Nähe, der Austausch, das Vertraute und das Neue – all das kann Kraft, Sicherheit, Vertrauen schenken. Das klingt auch im bewusst gewählten Titel der Ausgabe an.
„Ich suche in mehreren Sprachen, für eine Sammlung, sage ich, und bin umgeben von wackeliger Sprachigkeit“ – Franziska Füchsl (S. 65) führt uns in einen Schwerpunkt im [foej tõ], der uns schon lange ein Anliegen ist. Wir sind überzeugt, dass der Austausch zwischen den Sprachen nicht nur die möglicherweise wackelige Sprachigkeit festigt (und aber auch wackeliger macht), sondern auch die Distanz zwischen Menschen verringert. Und wenn wir in unseren Zeiten etwas brauchen, dann ist das „ein bisschen Nähe“ – wenn vielleicht auch räumlich getrennt.
euer mosaik
Inhalt
stets notbeleuchtet
Maja Goertz – Hinter der Deadline
Georg Großmann – Laternenfische
Helmut Blepp – Nachtarbeiter
Simon Scharinger – woanders
Es pocht
Anna Krauß – einmachglasvollwelt.
Tsovinar Hakobyan – Palermo
Clara Maj Dahlke – Imago
Julo Drescowitz – Grillfest
kein Sound?
Sascha Bruch – Das Schweigen häuten
Zoe Dackweiler – Der Verschleiß des Körpers (Einflussgrößen) – Zoe
Natalie Campbell – Läuterung
Kunststrecke von Veronika Klammer
BABEL – Übersetzungen
Das Thema unseres Feuilletons – nämlich Mehrsprachigkeit – steht hier bei BABEL in guter Tradition immer schon im Mittelpunkt, ohne sich aktuellen Trends anbiedern zu wollen. Schließlich ist Mehrsprachigkeit unser tägliches Geschäft – wenn es auch stets in einer deutschen Übersetzung mündet. Verstehen, Verstand, Verstandenwordensein, Verständigen oder Verständigthaben – unser Anliegen ist die Verständigung, obgleich wir uns der bescheidenen Wirkmacht unserer Rubrik bewusst sind. Also bitte, habt Verständnis, wenn wir euch in die Verantwortung nehmen! Stellt euch vor den Spiegel und lest die folgenden Gedichte laut im Original, damit ihr erahnt, wie groß die Welt eigentlich ist – und wir so klein.
[foejәtõ]
„Written in a Kloster, it natürlich turned out to be a book of erotic poetry.” – Wovon der chilenische Autor und Übersetzer Tomás Cohen hier spricht – oder auch: wie er spricht – ist ein Beispiel für Mehrsprachigkeit. Zahlreiche Positionen zu diesem weitreichenden Feld wollen wir hier versammeln: Die Zugänge von Übersetzer*innen, die Ansprüche von Verlagen, spannende neue Projekte, individuelle Herausforderungen. Herausgekommen ist eine klarerweise unvollständige Sammlung an Positionen, die das weite Feld öffnet und mehr Fragen aufwirft als sie beantworten will. Ein Gebilde aus „wackeliger Sprachigkeit“, wie es Franziska Füchsl in ihrem Intro formuliert.
Kreativraum mit Jakob Kraner
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>> Infos, Leseprobe und Bestellen
mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft
mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft
Winter 2022
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INTRO
Wir wohnen seit zehn Jahren im bedruckten Papier.
Literaturzeitschrift.
Eine Zeitschrift mit Zukunft.
Hier wollen wir alt werden.
Man macht das eigentlich nicht, aber wir hoffen auf Milde aufgrund unseres Alters: Wir haben uns für diesen Einstieg einer Textstelle von Pia Schmikl (S. 20) bedient und an unsere Situation angepasst. Es ist nämlich so, dass wir dieser Tage das zehnjährige Jubiläum der mosaik1 feiern. Und es ist auch so, dass wir traditionell lieber nach vorne als zurück blicken. Vor zehn Jahren haben wir das nicht gemacht: Niemand hat sich überlegt, was wir dereinst beim 10-jährigen Jubiläum wohl machen sollen. Und so feiern wir unseren ersten runden Geburtstag etappenweise: In dieser Ausgabe findet ihr ein paar wenige, ausgewählte Texte, die uns besonders in Erinnerung geblieben sind. Im Herbst werden wir mit euch allen gemeinsam ein mosaik-Fest feiern. Und dann fällt uns sicher noch weiterer Jubiläums-Schabernack in diesem Jahr ein.
Und gleichzeitig blicken wir weiter in die Zukunft – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es warten spannende Projekte auf uns: Bücher, Kooperationen und neue Ideen! Aber gleichzeitig hat sich auch nach zehn Jahren wenig an der prekären Situation des Projektes mosaik geändert. Wir arbeiten gerne und nur von Idealismus getragen – hinterfragen diese Praxis aber immer öfter und fragen uns, wie es weitergehen kann.
Bevor wir jetzt aber selber zum Partycrasher oder zur Spaßbremse werden, wünschen wir euch viel Freude mit dem neuen Heft. Aber nicht vergessen: „Lesen ist eigentlich asozial.“ (Stefanie Stegmann, S. 82)
euer mosaik
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Inhalt
Spezial: 10 Jahre mosaik
Stell dir vor, du kommst nach einer Lesung ins Gespräch: Was es bräuchte, wäre eine stärkere Förderung junger und neuer Autor*innen, am besten mittels einer Zeitschrift! Man beschließt die Gründung einer solchen. Gefühlt drei Tage später feiert man das 10-jährige Jubiläum.
Wir sind keine großen Freund*innen von Sentimentalitäten, aber wir erinnern uns in dieser Ausgabe sehr gern zurück, haben Wegbegleiter*innen des mosaik gefragt, an welche Texte sie sich erinnern, welche hängen geblieben sind – und präsentieren eine nicht repräsentative Auswahl auf den ersten Seiten. Nur original auf kariertem Papier (wie bei mosaik1). Viel Freude mit dem bisschen Nostalgie.
Wellengang oder Geflüster
Pia Schmikl – Ein Fisch kennt keine Angst vor dem Ertrinken
Georg Großmann – Altokumuli | Einige Pilzarten
Stefanie Nebenführ – Das Haus
Sigune Schnabel – Kindheit
Giovanna-Beatrice Carlesso – Der Hase rennt
dringende seelenstoffe
Elke Steiner – ich schenke dir mein natternhemd
Christina König – Gegenüber
Jimmy Brainless – Der Eiswürfel
Ronja Lobner – mein letzter rest
halb Wunschvorstellung
Leo Lemke – Der Wasserwandler
Signe Ibbeken – Kurz vor Glücksstadt
Hannah Beckmann – Dunkel, Linie, Dunkel
Vera Hohleiter – Fundstücke
Anja Bachl – Kaleidoskop
Kunststrecke von Ursula Wimmesberger
BABEL – Übersetzungen
Miklós Radnóti, geboren am 5. Mai 1909 in Budapest, war ungarischer Dichter jüdischer Abstammung. Sein Werk war beeinflusst von der tschechisch-ungarischen Avantgarde und dem französischen Expressionismus. Seine Tätigkeit als Handelskorrespondent im Unternehmen seines Onkels legte er 1930 nieder, um Ungarische
und Französische Philologie zu studieren. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband ‚Pogány köszöntő – Heidnischer Willkommensgruß‘.
Der zweite Gedichtband wurde aufgrund des Vorwurfs der Obszönität verboten und brachte ihm beinahe eine Haftstrafe ein. In den frühen 1940er Jahren wurde er zur Zwangsarbeit eingezogen und schließlich nach Bor im heutigen Serbien deportiert. Bei einem Gewaltmarsch Anfang November 1944 kollabierte er nahe der österreichisch-ungarischen Grenze und wurde mit 21 anderen Mithäftlingen hingerichtet. Sein Leichnam konnte später in einem Massengrab identifiziert werden. Bei sich trug er ein Notizbuch mit seinen letzten Gedichten. Darunter den hier vorliegenden Zyklus ‚Razglednicák‘.
Miklós Radnóti – Homály / Dämmerlicht
– Két karodban / In deinen Armen
– Razglednicák / Razgledinicen
[foejәtõ]
Wo findet (denn eigentlich) Literatur statt? Im Kulturteil setzen sich diesmal gleich mehrere Texte mit möglichen, neuen und sinnstiftenden Orten der Literatur, von Lesungen, von Gesprächen über Kunst auseinander: Raoul Eisele bewandert den urbanen Raum, Hartmut Hombrecher und Martin Peichl beleuchten jeweils innovative Ideen und Umsetzungen von unabhängigen Lesereihen, Stefanie Stegmann berichtet im Interview von ihrer zwischen/miete – Lesungen in WGs!
Kreativraum mit Friedrich Rücker
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