freiTEXT | Everest Girard

SchICHten

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. So fängt es an. Am Hafen waren mal Fischer.
Fischfänger, die die gefangenen Fische stapelten, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Eis, eine Schicht Fisch, eine Schicht Schweiß, im Kern des Bootes. An Land vor der Schaltstation musste das Schiff also zuallererst von seinen Schichten im Kern befreit werden. Mit einer Schaufel. In den Kern zu gelangen war eine harte und kalte Arbeit. Und wenn das Schiff leer war, waren Kisten voller Fische aufgestapelt, und alles musste geschrubbt und sauber gewischt werden, damit am nächsten Tag eine neue Schicht beginnen konnte.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Mein Handy in der Hand, wische ich auf dem Display, sichte Seiten, tauche in die virtuelle Welt meines Smartphones ein, indem ich wische und wische und wische.
Da sind Bomben und da ist Hunger, da ist Gewalt und da Krankheit. Da sind Korallenriffe und da sind Zahnärzte. Descartes kommt plötzlich mit methodischem Versprechen, schon bin ich weiter.
Schicht für Schicht komme ich mir wie eine Archäologin vor, dennoch bleibe ich immer an der Oberfläche, ein Schweißfilm bedeckt langsam den Schutzfilm meines Smartphones, immer mehr Schichten trennen mich vom Kern und Algorithmen werfen mich auf mich zurück, erzählen mir meine Geschichte. Kein Eis, keine Fische.

Sitze in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Meine Schicht. Ich lese: Zwei Texte müssen aus meinem Kopf. Ein Kind hat Fieber, das andere braucht neue Schuhe. Die Texte müssen im Kopf gefangen bleiben, Schuhe bekommt das eine Kind erst, wenn das andere kein Fieber hat, dann erst können sie raus.
Ein Text kann bald geschrieben werden, weil alle schlafen, das kranke Kind hat kein Fieber, das gesunde keine Schuhe, dafür Fieber. Das Spiel fängt wieder von vorne an.
Meine Schicht endet, wenn alle schlafen.
Tief verborgen zwischen den Schichten das Wort „ich“.
Oder nicht?
Schicht für Schicht
Entdecke ich meine Schichten,
Haare, Schweiß, Schmutz, Haut, Fett, Muskeln und Knochen.
Die Frau und
der Mann,
das Diverse,
die Mutter
ohne Familie,
das Kind,
die Greisin,
der Mensch,
der Unmensch.
Das Glück, die Hoffnung, die Wut, die Angst,
der Geruch eines Neugeborenen,
die Liebe,
die Schreie,
der Wind,
das Ticken der Uhr,
die Stille.

Alle Farben ergeben schwarz, alle Schichten ergeben nichts. Ganz gleich, ob ich zwischen Schichten steckt oder aus Schichten besteht. Schon existiert ich nicht mehr und die Geschichte ist schon längst aus den Fugen geraten. Mein Ich aus Schichten nähert sich dem Nichts an.
Das Nichts und der Krieg, der in uns allen wohnt und draußen tobt. Der Krieg, der uns Angst macht. Der Krieg, der uns nackt macht. Der Krieg, der uns zermalmt.
Schicht für Schicht versuche ich das Nichts zu wärmen, wie man Wut oder Trauer Geborgenheit schenkt, damit sie schwinden. Ich packe das Nichts ein, es verschwindet nicht, es wächst.

Wir sitzen in der ehemaligen Schaltstation des Fischereihafens Rostocks. Wir frieren und wir frieren nicht in unseren Schichten.
Und Schicht für Schicht,
schichten wir
und fichten wir.
Ferner gichten wir
und lichten
und nichten.
Wir richten,
errichten,
vernichten,
bezichten.
Wir sichten,
wir gewichten
wir dichten.
Wir
verzichten
nicht.
Wir beginnen eine neue Schicht.

 

Everest Girard

 

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