freiTEXT | Nathalie Heimbuch

Ankündigung

„Bis bald“, hatte sie gesagt. Sie hatte mich herzlich in den Arm genommen und sich mit einem Lächeln umgedreht. Sie war die Treppe heruntergestiegen. Auf dem Treppenabsatz hatte sie noch einmal ihren Kopf gedreht, mich angesehen und ihre Hände zum Abschiedsgruß gehoben. Ich lächelte und winkte zurück, etwas anderes blieb nicht zu tun. Jedoch blieben meine Gesichtszüge vage. Mich beschlich in dem Moment ein Frösteln, ein seltsames Gefühl, untrüglich. Ich konnte nicht genau ausmachen, was es war, aber dieses Gefühl streifte mich. Erst nur flüchtig, spürte ich plötzlich umso mehr einen Schauer, welcher mich durchfuhr. Dann war sie verschwunden. Ich hörte noch, wie die Tür von unten ins Schloss fiel, hörte, wie ihre Schritte auf dem Asphalt nachklangen. Es war Sommer und die Nacht versprach laue Temperaturen, die Fenster standen auf Kipp. Gerade eben noch hatte sie mit mir auf meinem Sofa gesessen, das Glas Wein hatte sie nicht angerührt. Ich sah die Sitzspuren, die zusammengeknüllte Serviette, Krümmel einer Quiche, die ich für den Abend noch vorbereitet hatte.

Sie war weg.

Der Abend war nun ungefähr vierzehn Monate her. Ich stand in der Küche und machte mir einen Kaffee, führte die Tasse zum Mund, mit unmerklichem Zittern. Damals war es bereits spät gewesen. Als ich in der Nacht die Wohnungstür von innen wieder verriegelte, überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Ich fröstelte trotz der warmen Temperaturen noch immer und wollte mich nur noch in die Deckenberge meines Bettes stürzen. Ich schlief traumlos acht Stunden durch, ohne mich in den Schlaf zu quälen oder mich mitten in der Nacht im Bett herumzuwälzen, wie es sonst oft genug der Fall war. Am nächsten Morgen jedoch bemerkte ich direkt nach dem Aufwachen einen Anflug von Traurigkeit und rekapitulierte den gestrigen Abend. Ich war selbst verblüfft über diesen Schatten, den ich warf, denn wir hatten schöne Stunden zusammen verbracht. Die Verabredung war damals überfällig. Sie war eingespannt in ihrem Leben und ich in meinem. Längst angekommen waren wir in dieser Welt des Hamsterrades aus Terminen und Pflichterfüllung. Wir hatten alte Zeiten hervorgekramt, uns Fotos angesehen, Musik angemacht und unsere Männer ausgeladen. Der Abend sollte uns gehören. Und dennoch wusste ich, was es war. Ich wusste es eigentlich schon in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte und ich nicht vorbereitet war. Nicht vorbereitet auf diese Ankündigung eines Abschieds.

Ich hatte ihr berichtet. Vom Einleben in unserer neuen Wohnung, die größer war als die vorherige. Ich brauchte zunehmend meinen Freiraum, ein Zimmer für mich allein, in welchem ich in Ruhe ein Buch zur Hand nehmen konnte oder einfach nur auf meinem Diwan dazuliegen. Ich offenbarte meiner Freundin, dass ich mich nicht mehr über Geburtstage freue, da es mir graue vor dem Alter, vor Krankheiten und dem Nicht-aufhalten-können der Zeit. Wiederum erzählte sie mir genau so aus ihrem Leben, wie Freundinnen es tun, wenn sie sich schon lange nicht mehr gesehen haben. Ich sprach mit ihr darüber, dass wir unsere Wiedersehen zu oft beginnen mit „Es ist schon wieder viel zu lange her“ und wie der Alltag einnehmen kann. Wie wir früher, in einem anderen Leben, uns manchmal wöchentlich getroffen, Nächte durchgetanzt, unsere Tränen bei Liebeskummer getrocknet und unsere Reisekoffer gepackt hatten. Um uns in diesem manchmal alles einnehmenden Sumpf aus Anforderungen und Alltag ein Stück Abenteuer zurückzuerobern. Während des Erzählens von früher überkam mich eine Welle aus Sentimentalität. Ich sah uns beide vor mir, als Sechsjährige mit Schultüten, als verpickelte Teenager paukend über den Büchern. Wie wir uns später in diesem Spagat aus Ausbildung und Arbeit verausgabten und uns fortlaufend einen Platz in dieser Welt erkämpfen mussten.

Als ich mir ein weiteres Glas Wein einschüttete, strahlte sie plötzlich über das ganze Gesicht. „Ich muss dir übrigens noch etwas erzählen“, meinte sie auf einmal und wurde ganz rot im Gesicht. Sie berichtete mir zunächst verlegen, dann mit immer mehr Stolz in der Stimme, dass sie die Pille abgesetzt habe. Meine Freundin wurde nunmehr ganz euphorisch. Sie holte aus. Sie habe sich lange Zeit mit dem Gedanken an ein Kind schwer getan. Immer habe sie geschwankt zwischen dieser Fülle aus Lebensentwürfen und hatte ihre Entscheidung folglich aufgeschoben. Nun sei sich sich jedoch ganz sicher. Noch mehr habe ihr die Krebserkrankung einer anderen Freundin zu dieser Entscheidung verholfen, bei welcher es lange Zeit nicht klar war, ob sie überleben würde. Meine Freundin fuhr fort, dass sie etwas auf dieser Erde hinterlassen wolle. Sie sei bereit, endlich, sich dieser neuen Aufgabe zu stellen und könne es nun kaum mehr abwarten schwanger zu werden. Die Welt durch die Augen eines Kindes noch einmal völlig neu zu betrachten. Dann hatte ihr Handy geklingelt. Mit leichtem Schrecken musste sie feststellen, dass es bereits weit nach Mitternacht war und sie am gleichen Tag zum Mittagessen bei ihren Eltern eingeladen sei. „Ein paar Stunden Schlaf muss ich wenigstens noch abkriegen, sonst sehe ich am Esstisch aus wie ein Zombie!“, meinte sie lachend und nahm ihren Mantel vom Haken. „Bis bald“, hatte sie gesagt und mich fest dabei umarmt. Und war aus meiner Wohnung entschlüpft.

Während ich über ein Jahr später meinen Kaffee im Stehen in der Küche trank, überkam mich erneut ein Frösteln, ein inneres Nagen. Was nach unserem letzten Zusammenstoß folgte waren ein paar SMS und Sprachnachrichten, in welchen sie mich über ihre eingetretene Schwangerschaft unterrichtete und sie begeistert über das Kennenlernen anderer Schwangerer im Yoga-Kurs für werdende Mütter erzählte. „Lediglich die Morgenübelkeit könnte man mir vom Hals halten, die brauche ich nun wirklich nicht“, meinte sie süffisant. „Aber ansonsten ist es eine ganz tolle Erfahrung!“, rief sie aus. Ihre Textnachrichten waren seitdem gepflastert mit bunten Herzemoticons und Babybauchbildern.

„Und bei Dir so?“

Meine Welt wirkte mit einem Mal wie geschrumpft. Banal erschien es mir plötzlich, über Filme, welche mich begeistert hatten, mit meiner Freundin zu sprechen oder wie gut der Kaffee in dem neuen Café schmeckte. Meine anstehende Wurzelbehandlung erschien mir so unbedeutend wie der Besuch meiner Schwiegereltern im Harz. Alles, was aus meinem Mund kam, klang hohl, lasch, nicht-der-Rede-wert. Mein Leben, so wie es mir entsprach, schien ausgefranst, konnte es nicht mehr fassen, nicht mehr in Worte kleiden. Aber was genau machte mein Leben eigentlich aus? Welche nennenswerten Punkte gab es, um sie in Gesprächen mit ihr hervorzuheben? Es schien, als hätte ich auf diese Frage keine Antwort mehr. Mir war, als wäre mir mit einem Mal der Boden unter den Füßen weggezogen. Als wäre ich mir meines Platzes im Leben nicht mehr sicher, als steckte ich im falschen Film. Plötzlich waren da diese Grauzonen. Wie sie drückten, wie sie sich in meinem Kopf mehr und mehr ausbreiteten, eine schrille, leise Angst mich überkam bei dem Gedanken an meinen nächsten Geburtstag. Meinem Mann drohte ich, den Tag bloß nicht an die große Glocke zu hängen. Dieser fest im Leben stehende Mensch, mit dem ich viele Jahre meines Lebens bereits teilte, beäugte mich mit einer Mischung aus Sorge und Stirnrunzeln, wenn ich fortan in Embryohaltung ganze Wochenenden zubrachte. Hilflos stand er daneben, wie ein Statist, tätschelte allerhöchstens unbeholfen meinen Kopf. Fast tat es mir leid ihn so zu sehen.

Beim Tippen einer Nachricht an meine Freundin suchte ich auf einmal angestrengt nach einem gemeinsamen Nenner, wenn wir sonst Stunden mit Rotwein in der Küche über den Sinn und Unsinn des Lebens sinniert hatten. Wie ich mich dabei ertappte, sei es beim Zähneputzen, beim Meeting mit Kollegen, sitzend im Wartezimmer einer Arztpraxis: Ich muss ihr noch antworten. Und es auf den nächsten Tag, die nächste Woche verschob. Sie wiederum schlug ebenfalls kaum noch Treffen vor. Die Monate zogen ins Land. Während der wenigen Telefonate, in welchen sie mir vom Geburtsvorbereitungskurs und Bekannten, die ebenfalls Kinder erwarteten, berichtete, verstummte ich immer mehr. Bis selbst die wenigen Verabredungen, die wir vereinbarten, immer öfter abgesagt wurden und auch die Nachrichten aneinander weniger wurden. Bis diese schließlich ganz aufhörten.

Warum sich immer etwas ändern muss, dachte ich mir. Weshalb das Leben nie still steht. Warum man sich immer so sehr darum bemühen muss gesehen zu werden. Ich stellte die Kaffeetasse ab. Mein Mann war bereits außer Haus. Ich entkleidete mich. Ob es wohl ein Mädchen oder ein Junge geworden ist. Ich verkniff mir den Mund. Ich hätte nachsehen können, in irgendeinem der SocialMedia-Profile, aber ich hatte mich dort abgemeldet, der oberflächliche Austausch dort war mir zuwider. Entziehen wollte ich mich, lossagen. Von all diesem Verabschieden und Losgelassen-Werden. Die Entfremdung hatte bereits eingesetzt, nachdem sie von ihrem Kinderwunsch erzählt hatte. Ich hatte es schon da kommen sehen. Das Leuchten in ihren Augen hatte ihr jedoch die Weitsicht genommen.

Der Dielenboden knirschte unter meinen Füßen, ächzte schwerfällig. Ein schwaches Sonnenzittern schien durch die großen Fenster und warf einen blassen Streifen an die Wand. Ich stieg unter die Dusche, der Tag kündigte sich an. Ich musste heute noch viel erledigen.

Das Weinen hob ich mir auf für den Abend. Später, wenn die Dinge getan waren, würde ich mich auf den Diwan legen. Ganz lang würde ich mich machen, an die Decke starren und auf die Tränen warten. So lange wie es eben dauern würde.

 

Nathalie Heimbuch

 

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