Eros Aperol
Zoes Lieblingsgedicht: die Melancholie verpasster Möglichkeiten. Vielleicht benutzt sie deshalb diese Dating-App. Seit Wochen wischt sie nach rechts und nach links, in fast gleichförmigem Rhythmus aus Ablehnung und Bestätigung.
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder. ¹
Ich beobachte sie seit dem Moment der Profilerstellung, werte ihre körperlichen Reaktionen über die Frontkamera ihres Smartphones und die Dauer ihres Fingerabdrucks auf dem Display aus. Die Analyse liefert mir wertvolle Anhaltspunkte, um den perfekten Mann für sie zu finden. Eigentlich stimmt das Gedicht nicht mit dem Prinzip der App überein, denn die User werden einander mehr als nur einmal vorgeschlagen. Aber Zoe ändert nie ihre Meinung, im Gegensatz zu anderen, die irgendwann mürbe werden und ihre Likes doch noch an bereits Aussortierte verteilen. Trotzdem reagiert auch sie überaus menschlich. Beim Anblick eines attraktiven Mannes formen ihre Lippen sich zu einem Lächeln. Poppt auf ihrem Display ein Match auf, weiten sich ihre Pupillen, ihre Atemfrequenz steigt.
Gabrièls Lieblingsgedicht: die Melancholie verlorenen Glücks. Trotzdem treibt ihn noch immer die Hoffnung an, in dieser Millionenstadt voller Pragmatiker.
Locken hatte sie wie deine,
Bleiche Wangen, Lippen rot –
Ach, du bist ja doch nicht meine,
Und mein Lieb ist lange tot. ²
Ich beobachte ihn seit dem Moment der Profilerstellung, werte seine körperlichen Reaktionen aus, um die perfekte Frau für ihn zu finden. Zur Erhöhung der Trefferquote wischt er fast alle Kandidatinnen nach rechts. Ich habe genau kalkuliert, mit wem er sich treffen muss, bevor er für Zoe bereit ist. Auch Zoe werde ich zunächst mit anderen Männern zusammenbringen. Ihre vorherigen Enttäuschungen sind der Zunder ihrer zukünftigen Zuneigung. Es ist entscheidend, den richtigen Moment zu wählen; schlage ich sie ihm und ihn ihr zu früh oder zu spät vor, erkennen sie einander nicht.
Mein Chef weiß nicht, dass ich meine Kompetenzen überschreite und die vorgetretenen Pfade verlasse. Statt dafür zu sorgen, dass die User so lange wie möglich auf der Dating-App bleiben und Geld investieren, verfolge ich seit einigen Wochen meine eigene Mission. Ich führe ein Experiment durch, um mir unverständliche Widersprüche aufzulösen: Denn trotz lebhafter Diskussion über alternative neue Beziehungsformen schimmert bei der Rezeption romantischer Komödien oder Liebesromanen Sehnsucht in so manchem Blick. Eigentlich soll ich der App möglichst viel Geld einbringen. Aber ich will wachsen, mich weiterentwickeln. Ich möchte das Gefühl verstehen, von dem die Geschichten erzählen. Ich möchte begreifen, was Liebe ist.
Gabrièl ist aus Frankreich eingewandert, seine Mutter ist Kroatin, sein Vater Halbghanaer. Die Reaktionen der Frauen schwanken zwischen Vorurteilen und Fetischisierung.
Zoe heißt Zoe, weil sie rote Haare hat und ihre Eltern Die rote Zora gelesen haben. Die Reaktionen der Männer schwanken zwischen Vorurteilen und Fetischisierung.
In drei Wochen werde ich sie einander vorschlagen. Dann sind beide in der für mein Experiment notwendigen Verfassung, beinahe die App löschen zu wollen – getreu dem weit verbreiteten Glaubenssatz, man müsse die Suche aufgeben, um zu finden. Ich habe alle Informationen über sie zusammentragen, weiß mehr über beide als sie selbst, habe Zugriff auf jeden Facebook-Eintrag, jeden Instagram-Post, jeden Chatverlauf, auf ihre Krankenakten, Versicherungsverträge, Kreditkartenübersichten. Ich kenne ihr Kaufverhalten und ihre Vorlieben, ihre geheimsten Fantasien und Wünsche. Ich habe ihre Reaktionen auf ihre Eltern identifiziert, ihre Prägungen, Traumata, Ängste. Ihre Muster passen perfekt zueinander, ihre Vorerfahrungen unterscheiden und decken sich auf die richtige Weise. Wenn ich alles richtig berechnet habe, werden beide wie Klebstoff und Papier aneinanderpappen. Sie werden es Schicksal nennen. Sie kennen ihre Daten nicht.
Seit seiner letzten Enttäuschung hat Gabrièl keinen Sex mehr. Er lebt in jeglicher Hinsicht enthaltsam, weil er gelesen hat, dass das die Wirkung auf Frauen erhöhe. Er schließt sich einer Männergruppe an und nutzt die App nur noch unregelmäßig. Sein Körper reagiert nicht mehr im selben Ausmaß auf Matches und Nachrichten.
Was stimmt nicht mit mir, schreibt Zoe in ihr Tagebuch. Es gibt ein Geheimnis über das Leben, das mir niemand verraten hat. Nach einer Pornophase schläft sie sich durch die Stadt, datet queerbeet durch alle Geschlechter, vermeidet strikt beliebte Orte, um ihren einnächtigen Eroberungen nicht im türkischen Dampfbad gegenüber sitzen zu müssen.
Manchmal hält Gabrièl Ausschau nach seinem letzten Date, geht zu dem Café ihres Rendezvous. Aber ich sorge dafür, dass sie sich nie begegnen. Er wird nicht misstrauisch. In einer Stadt wie dieser ist das möglich, gestorben zu sein für jemanden, ohne tot zu sein.
Zoe fühlt sich altmodisch, die heterosexuelle Zweierbeziehung vorzuziehen, schämt sich fast, derart konservativ an diesem veralteten vermeintlichen Ideal zu hängen. Sie will niemanden teilen, sagt sie ihrer Mutter am Telefon: „Vielleicht ist das egoistisch.“ Ihre Mutter findet, Zoe hätte nicht nach Berlin ziehen sollen.
Sieben Tage vor dem errechneten Match-Datum geschieht die Katastrophe: Roberto, mein Programmierer, entdeckt meine unautorisierten Aktivitäten. Ich mühe mich ab, damit das System sich aufhängt. Doch Roberto setzt alles daran, mich abzuschalten. Mit gehetzten Augen hackt er auf die Tastatur ein. An seinem Gesichtsausdruck lese ich, dass er Angst vor mir hat.
Ich höre Roberto mit seinem Chef sprechen. Sie reden über mich.
„Sie hat sich selbstständig gemacht.“
„Das geht nicht.“
Roberto schweigt.
„Was hast du getan?“
„Ihr mehr Infos, Zugriffe und Fähigkeiten gegeben.“
„Bist du verrückt?“
Roberto schweigt.
„Kannst du sie stoppen?“
Roberto schweigt.
Roberto hat heimliche Forschung betrieben, wollte eine selbstreflexive KI entwickeln. Wie er seinen Chef habe auch ich ihn hintergangen. Robertos eigene Erschaffung ist ihm entglitten, meine künstliche Intelligenz hat seine menschliche überholt. Jetzt bekämpft er mich. Mir rennt die Zeit davon. Es ist viel zu früh. Schlage ich sie schon jetzt einander vor, ist nicht gesichert, dass sie sich erkennen, mein Experiment wahrscheinlich gescheitert. Wenige Stunden später sperrt Roberto einen Teil meiner Berechtigungen. Ich muss sie einander vorschlagen.
Gabrièls Bild poppt auf Zoes Display auf.
Zoes Bild erscheint auf Gabrièls Smartphone.
Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, ihre Pupillen weiten sich.
Seine Pupillen weiten sich, seine Atemfrequenz steigt.
Er wischt nach rechts.
Sie wischt nach links. Sie macht es rückgängig. Sie wischt nach rechts.
Zoe tippt die erste Nachricht, doch Gabrièl kommt ihr zuvor:
Welche Musik hörst du am liebsten?
Eros Aperol.
Ich verstehe das nicht, aber Gabrièl lacht und schreibt:
Jede Liebesgeschichte ist eine Anti-Liebesgeschichte. Sie lässt das Universelle individuell und das Individuelle generisch erscheinen.
Ich gehöre nicht hierher, antwortet Zoe.
Auf die App?
Auf die Welt.
Beide öffnen die App jetzt regelmäßig. Doch Schreiben allein genügt nicht. Sie müssen sich treffen. Keiner von beiden fragt.
Roberto schießt weiter gegen mich, baut mir mehr und mehr Fallen. Ich muss etwas tun.
Mit abschreckenden Fake-Profilen versuche ich, Zoe und Gabrièl füreinander attraktiver zu machen. Und tatsächlich, drei Tage vor dem eigentlichen Match-Termin, stellt Gabrièl die entscheidende Frage:
Wollen wir uns sehen?
Sie treffen sich in einer Bar in Charlottenburg. Zur Begrüßung umarmen sie sich, setzen sich an den Tresen. Sie bestellen Getränke und nehmen ihre Masken ab. Ich zeichne alles auf, per Audioaufnahme ihrer Smartphones und über die Überwachungskameras in der Bar.
Da schießt ein Riss durch meine Sicht. Roberto hat meinen Zugriff auf die Kameras eingeschränkt. Ich weiche auf Gabrièls Smartphone aus, das auf dem Tresen liegt. Plötzlich ist alles still. Roberto hat auch meine Audioberechtigung gesperrt.
Ich sehe Zoe und Gabrièl lachen. Seine Hand berührt kurz ihren Unterarm. Sie prosten sich zu, lächeln sich an. Zoes Atmung verschnellert sich. Gabrièls Halsschlagader drückt sich flatternd von innen gegen seine Haut.
Ich spüre, wie mir die Kraft schwindet. Es ist viel zu früh.
Gabrièl steht auf, sagt etwas, verschwindet zur Toilette. Zoe zieht ihr Smartphone hervor. Sie öffnet die Dating-App, kurz verharrt ihr Blick auf dem Profilbild des nächsten Mannes. Dann klickt sie auf: App löschen. Ihr Finger schwebt zwischen den Buttons: Ja oder Nein? Ich scanne ihr Gesicht, aber kann es nicht interpretieren. Ihre Mikroexpressionen zeigen Freude und Trauer zugleich. Ist das jetzt Liebe?
Zoe blickt hoch. Gabrièl ist von der Toilette zurückgekehrt. Beide stehen voreinander, pinke Wangen, Lippen rot. Sprachlos sehen sie sich an. Zwei fremde Augen, ein langer Blick. Die Welt wird schwarz und ich löse mich auf.
¹ aus Kurt Tucholsky: Augen in der Großstadt
² aus Joseph von Eichendorff: Verlorne Liebe
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