14 | Katrin Theiner
Taximann
Ich fahre immer über den Stern. Jeden Morgen. Erst die Zigarette an der Siegessäule weckt mich auf. Seit 15 Jahren umrunde ich die Goldelse und dann geht es rechts ab nach Moabit, einen Stammkunden abholen – eine ganz arme Sau. Geschäftsmann. Schlaganfall. Ich bringe ihn zur Tagespflege. Kurz vor dem Haus in dem er wohnt, ist meine Tankstelle. Ich tanke voll, laufe geduckt durch die anhaltende Schlechtwetterfront und kaufe im Shop Zigaretten und einen Schwamm. Morgens, wenn ich den Motor starte und die Belüftung angeht, steigt dieser Geruch in meinen Benz. Heizung, kalter Rauch, belegte Brötchen und der klamme Dunst vieler Fahrgäste. Als hätte jeder von ihnen etwas zurückgelassen. Irgendwie motiviert mich das. Radio an, Scheiben wischen, Rückwärtsgang, los. Bald kann ich die goldene Viktoria auf ihrer Säule sehen. Sie ist so etwas wie eine Arbeitskollegin geworden. Und die Erste, die mich morgens begrüßt. Jedes Mal versuche ich so lange wie möglich ihr Gesicht anzusehen. Als würde dort eine Regung kurz bevorstehen. Wir kennen uns eben verdammt lange.
Der Geschäftsmann sitzt festgeschnallt in meinem Auto und gibt komische Laute von sich. Er trägt einen gelben Jogginganzug und weiße Sportschuhe. Seine Frau hat beim Abschied geweint. Ob er sie noch erkenne, wisse sie nicht. Ihm wird kalt sein. Ich öffne meine Lederjacke, drehe die Heizung höher. Der Rückspiegel umrahmt seine gesunde Gesichtshälfte. Schon von weitem sehe ich seine Pflegerin. Ich bremse, damit der Matsch nicht auf ihren Kittel spritzt. Mit laufendem Motor bleibe ich stehen und ziehe die Silberfolie in langen Stücken von meiner Schrippe. Die Heizung nimmt den Geruch von Kochschinken mit und pustet ihn durch den Innenraum. Beiße ab, muss weiter. Der Bus ist heute pünktlich und mit ihm das Radio-Programm: „Verdamp lang her“. Wie fast jeden Tag. Die Stimme nervt, der Akzent ist wunderbar.
Von hier fahre ich zum Alex. Immer. Wohin mich die Fahrgäste schicken, bestimmen sie, von wo es losgeht, ich. Mir gefällt die Mischung aus Routine und Unvorhersehbarem. Nach 19 Jahren am Lenkrad, erkenne ich die drei Taxi-Typen sofort. Es gibt die Gestressten: Sie haben nicht damit gerechnet, plötzlich in einem Taxi zu sitzen. Irgendwelche Umstände zwingen sie, bei mir einzusteigen. Sie winken hektisch, reißen ruckartig die Tür auf und nennen atemlos ihr Ziel. Meist sitzen sie hinten, krallen sich an die vorderen Kopflehnen und würden am liebsten selber fahren. Jede rote Ampel ist eine Zerreisprobe für ihre Nerven. Sie kramen in ihren Portemonnaies, noch bevor wir das Ziel erreicht haben und geben wenig Trinkgeld.
Ich lasse die Waschmaschine rechts liegen und fahre weiter durch den Wintermorgen. Die Scheibenwischer geben den Takt vor, Niedecken den Text.
Wenn Kinder bei mir mitfahren, begucken ihre kleinen Gesichter staunend die Stadt. Ich habe keine Kinder. Das passte einfach nicht. Meine Kunden sind meine Familie. Und dazu die Goldelse, der Konrad auf dem Adenauer Platz, Prinz Albrecht an der Schlossstraße und das Steinmädchen auf der Wieck-Promenade. Im Auto sind mir die Routinierten am liebsten – Typ zwei. Weil sie so unkompliziert sind. Sie fahren oft Taxi und das merkt man ihnen an. Sie steigen meist vorne ein, nennen ihr Ziel und sind dann ruhig. Taxi fahren gehört zu ihrem Alltag, sie haben die wenigen Regeln verstanden und sind entspannte Beifahrer. „Von A nach B“ ist ihr Motto und das ist auch meins. Richtung Karl-Liebknecht-Straße ist eine Baustelle. Der Telespargel lässt die Häuser klein werden. Seine Spitze steckt in dicken Wolken. Da will ich jetzt hin. Zum Taxistand in Turmnähe. Am Alexanderplatz reihe ich mich ein in die Schlange von Taxen. Frühstückspause bei Santanas „Maria“ und leichtgeöffnetem Fenster. Kauend lasse ich mich nach vorne rollen und kauend nicke ich einer jungen Frau und ihrem Begleiter zu, die vor der Beifahrertür im Schneegestöber stehen. Sie bringen den Geruch von nassen Haaren und Kälte mit ins Auto und halten verschneite Rucksäcke auf dem Schoß. Er schnallt sich langsam an. Sie hat den Platz in der Mitte gewählt. Der Platz des Schlaganfall-Geschäftsmanns bleibt frei. Ich stelle mir die drei nebeneinander vor. Verrückt. „Nach Buch“, sagt der Typ leise. 18,3 Kilometer. Ich fahre los und sehe ihre Gesichter im Rückspiegel. Die Haut des Mädchens ist dunkel. Dicke, schwarze Brauen trennen ihre Stirn von der Augenpartie. Sie sieht müde aus, hat ein nettes Gesicht. Ihre Eltern werden aus dem Süden kommen. Spanien oder Griechenland. Was will sie mit ihm? Narbiges Gesicht, Bomberjacke, dunkelblaue Wollmütze. Für eine Glatze ist es wohl zu kalt, schießt es mir am Planetarium durch den Kopf. Ich folge dem Navi und genieße die Zeit, in der die Zwei unter meiner Beobachtung stehen. Sie starren schweigend ins Schneegestöber. Er greift nach seiner Mütze, nimmt sie kurz ab und im Rückspiegel leuchtet seine goldene Kopfhaut auf. Er streicht drüber, zieht schnell wieder die Mütze auf. Das eingefallene Gesicht wird noch nicht lange so aussehen. Seine Augen liegen tief, aber in ihnen glänzt es jung. Rostock- Lichtenhagen wird ihm sicher kein Begriff sein. Da war er ein Hosenscheißer. Ich tippe auf Mitläufer, aber das macht die Sache nicht besser.
Wir verlassen die Stadt nach Nord-Ost und nehmen die glatte A10. In 19 Jahren habe ich viele Glatzen gefahren. Früher habe ich diskutiert, heute nicht mehr. Ich bin Dienstleister, kein Pfarrer. Das Mädchen hebt die Hand und streichelt ihrem Freund über ein Tattoo am Hals. Von hier sieht es aus wie eine zerlaufene Umweltplakette. Er reißt den Kopf vor, fegt ihre Hand weg. „Lass“. Sie lehnt sich zurück, reibt sich die Augen. Musik an: Taxi-Hits. „Ich fahr Taxi. Ich fahr Taxi. Tag und Nacht. Der Job ist so mies, doch ich brauch den Kies.“
Ich beschließe, sie sind Typ drei. Nicht der klassische Typ drei, aber Typ zwei und Typ eins schon gar nicht. Sie sind schweigsamer, passiver, aber gehören zu den Korrekten. Die Korrekten fahren selten Taxi, planen ihre Fahrten und bemühen sich, die Regeln zu befolgen. Oft strahlen sie Unsicherheit aus, fragen vorab nach dem Preis. Sie sind aufmerksam, achten auf den Verkehr, auf mich. Sie sind sich darüber bewusst, in meinem Raum zu sein. Und hier passt man sich an.
Wir bewegen uns durch verschneite Felder. Frau Paradis singt mit zarter Stimme und es wird mir egal, ob sich die Glatze ihr Leben versaut. Um das Mädchen ist es schade. Wäre sie meine Tochter, würde ich ihr die Welt zeigen. Ich würde sparen, sie verwöhnen, um ihr zu erklären, man lebt doch nur einmal. „Vas-y Joe, Vas-y fonce.“
Am Karower Teich ist die Fahrbahn gefroren. Die Glatze hat die Augen geschlossen. Die Augenlider zucken unruhig. Ich tippe ihn auf Mitte Zwanzig. Was ihn wohl zu seiner Einstellung gebracht hat und dabei das hübsche Mädchen an die Hand zu nehmen? Berlin ist groß und täglich schwimmt die bunte Jugend über meine Rückbank. Aber die beiden sind besonders. Sie ist besonders schön, er macht mich wütend. Nach Micky Reinckes Kurztrip zum Eifelturm, spielt Fredl Fesl die ersten Akkorde seines Taxilieds. Ich hasse es. Nur wegen des Textes hat es einen Platz auf meiner CD. Bei so was bin ich konsequent.
Buch liegt vor uns. Der Schnee verdeckt die graue Platte. Es ist stickig. Die Glatze legt den Arm um das Mädchen. Ihre schwarzen Haare fließen in langen Strähnen über seine Jacke und verdecken die bunten Aufnäher. „An der Kirche vorbei“, sagt sie und taucht zwischen mir und dem Beifahrersitzt auf. Ich stelle das Navi aus. „Nächste rechts.“ Zwischen kargen Bäumen taucht ein beiger Gebäudekomplex auf. Mein Hals ist eng. Ich drehe Chapins Stimme leise. „It was somewhere in a fairy tale, I used to take her home in my car“.
Ich habe es plötzlich eilig, die beiden loszuwerden. „Links am Hauptgebäude vorbei“, sagt sie, zeigt durch die Windschutzscheibe. Er greift von hinten in ihre Haare und zieht sie immer wieder durch seine linke Hand, als würde er ein Haarband entfernen. Der große Parkplatz ist leer. Mit laufendem Motor bleibe ich stehen; eine Minute, die nicht endet. Ich schwitze. Ohne dass ich den Preis nenne, reicht sie zwei Zwanziger nach vorne und öffnet mit der anderen Hand die rechte Tür, den Oberkörper über ihren Freund gelehnt. Er schaut apathisch zu. Der Zähler zeigt 37,70 Euro. Dann verschwinden beide im Winter. Ich fahre an, drehe die Musik lauter. Westernhagen ist bei mir, als der Schnee alles verwischt: „Chemozentrum Berlin-Buch“. „Nun fahr schon los, ich will nach Hause, Taximann. Nun fahr schon schneller und halt nicht dauernd an“.
Katrin Theiner
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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13 | Claudia Kohlus
Claudia Kohlus
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12 | Susanne Rzymbowski
Traumfänger 008
„Schon wieder nichts! Ich weiß langsam nicht mehr was ich machen soll“, murmelte sich Traumfänger 008 in den Bart nach einer langen Nacht, die so schwarz, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah.
Auch diesmal blieb sein Käscher leer, den er sich nun auf die Schulter packte und sich mit schweren Schritten im beginnenden Morgengrauen zurück in sein Traumschloss begab, wo nun schon der Putz abzublättern begann und der ehemals blühende Garten sich in eine Ödnis wandelte.
Was waren das früher doch noch für Jahre gewesen, in denen er vollbepackt nach Hause kam, sein Schloss hell erleuchtet, voller bunter Farben und der Garten so üppig, das er einem Urwald glich. Jetzt starb dieser langsam ab, von all den Monokulturen der vergangenen fruchtlosen Jahre, die 008 eingefangen hatte.
Ja ein Traumfänger hatte in der heutigen Zeit einfach keine Zukunft mehr! Zu gleichförmig die wenigen Fänge, die nicht mehr wachsen wollten.
Schleichend hatte der Prozess begonnen, so dass 008 die ersten Zeichen nicht erkannte, als die Träume begannen immer kürzer zu werden und langsam die Farben aus ihnen verschwanden. Schon die ganzen letzten Jahre musste sich 008 mit einzelnen Graustufen herumplagen, die zusehends dunkler wurden. Nur vereinzelt konnte er noch Beute machen, wenn er sich tagsüber auf den Weg machte, um kurze Sequenzen einzufangen, was recht schwer für ihn war, denn dies erforderte ein blitzartiges Zugreifen, was ihm nicht immer gelang.
Zuerst hatte er begonnen die Einkaufsmeilen abzugrasen, die mit ihren Klängen und bunten Neonleuchten, den ein oder anderen zu einem kurzen Tagtraum verführten, zumindest in den Anfängen. Leider blieb sehr bald auch hier nur noch ein Abschalten und gab für 008 einzig runde durchsichtige Blasen her, die sofort zerplatzten, wenn er seinen Käscher über sie zu stülpen versuchte.
Auch die Staukolonnen, auf die er sich spezialisierte, gaben kaum noch eine Ausbeute. Lag es an den immergleichen Tönen, die aus den Radios drangen oder doch eher an den nicht enden wollenden Telefonaten mit Tastaturgeklapper?
Kein Mensch schien mehr zu träumen. Die Augen waren geradeaus gerichtet und so trüb wie ein umgekippter Teich. Was sollte 008 nur machen? Er fing an in die Bibliotheken zu gehen, die spärlich besucht und erhaschte zumindest dort ein Bündel gelenkter Visionen. Ja, damit musste er sich mittlerweile zufrieden geben! Und selbst die Spaziergänger im Wald waren ausgerüstet mit Stöcken, Walkie-Talkies und Schrittzählern, die ein Verweilen unmöglich machten. Selbst in den Kindergärten fand er keine Träume mehr!
008 wurde über all dies immer trauriger und fing nun selbst an einem Schatten zu gleichen, zumal er nun rund um die Uhr auf den Beinen war, in seinem Bemühen einen Traum zu ergattern. Auch musste er feststellen, dass es keine Bilder mehr gab, ganz so als ob diese von einer imaginären Hand ausradiert würden.
Wie sollte 008 in seinem Traumschloss weiter existieren können bei dieser Entwicklung?
Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf und begab sich unter Anstrengung all seiner Kräfte immer wieder auf die Suche. Seinen Käscher bestückte er mit immer feingliedrigeren Maschen, damit selbst der noch so kleinste Traum nicht verloren ging.
Und als ob seine steten Bemühungen und seine Not erhört wurden, begab es sich, dass eine große Sonnenfinsternis sich über das Land legte und Tag und Nacht einfach verschlang, so dass selbst alle Energiequellen zum Stillstand kamen. Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt, der alles Bisherige lahm legte.
Die Menschen waren nun gezwungen ein Feuer zu entfachen, um so schutzlos sich selbst ausgeliefert, ein Licht zu erspähen. Und es geschah das Wunder: Im Prasseln der Glut, im Lodern der Flammen, im Knistern der Kerzen lud es sie wieder zum Träumen ein. Voller Freude und Dankbarkeit entzündete Traumfänger 008 daraufhin ein riesiges Feuerwerk, dass es nur so am Himmel blitzte.
Denn schließlich war es ja seine Aufgabe, das Denken zu bewahren!
Susanne Rzymbowski
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11 | Johanna Wieser
ich sah aus dem Fenster
und erwartete
etwas ganz anderes
Johanna Wieser
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ZZZ 5/12 | Arne Kohlweyer
Arne Kohlweyer wurde 1981 in Wolgast (Insel Usedom) geboren und wuchs in Berlin-Hohenschönhausen auf. Er studierte Filmregie an der FAMU in Prag, sowie zuvor Fotografie in Graz, Literaturwissenschaften in Frankfurt/Oder und Filmtheorie in Göteborg. Arne ist zweifacher Teilnehmer von Berlinale Talents und Alumni des Torino Film Labs. Er hat bereits mehrere Kurzfilme und TV-Auftragsproduktionen als Autor und Regisseur realisiert und werkelt gerade an seinem Langfilmdebüt.
Arne ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Sandbankräuber" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.
10 | Nico Feiden
blaunachtschatten
zwischen diesen zeilen,
schneekuppeln außerhalb der fenster
der atmende wein,
dekantiert von aschefingern,
die an wortfetzen
verbrannter gedichte hängen
(auch im Winter will man nicht frieren)
der normadenmond
wandert von fenster zu fenster
in der blauschimmernden Bergennacht
die wege hinunter ins dorf
verscheint,
eiszackenkronen an den dachrinnen
verkünden die herrschaft
eines neuen königs
der herbst ist tot
lang lebe der winter!
meine küsse wehen
nicht mehr durch die
haare der huren
von neapel
ein rotschatten
entmündigt den abend,
im Korkweinboden des Glases,
man raucht die Nacht
bis zum Filter.
noch trinkt man den wein
dieses jahres
in zu schnellen schlücken
bis die mitternachtswende
ein vergangens jahr
auf das etikett schreibt
Nico Feiden
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09 | Steffen Roye
Kairo
Das hat man nun davon, denkt Joschi. Da lässt man den BMW vorbeiziehen, um ihn nicht zu behindern. Und wird dann vom nachfolgenden Verkehr selbst behindert. Bekommt keine Chance, sich wieder in die Überholspur zu fädeln, denkt Joschi und schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad.
Sie ziehen vorbei. Sie ziehen vorbei, eine andere Liga, eine andere Welt plötzlich. Er hat den Fuß mehr auf der Bremse als auf dem Gas, verfluchter Mist. Er hat einen tschechischen Laster vor sich, den die Steigung merklich anstrengt. Der Verkehr: dicht, aber flüssig. Jedenfalls auf der Überholspur. Wie schön, denkt Joschi und schaltet in einen niedrigeren Gang. Sie fahren dicht auf dicht, als ließen sie sich abschleppen. Der Abstand immer gerade so klein, dass niemand aus der Kriechspur, der Deppenspur ausbrechen kann. Joschi weiß selbst, dass sie gut daran tun, den Sicherheitsabstand auf ein Maß zu kappen, das kein auf die Fahrbahn brechendes Wild vorsieht. Dass das Unwahrscheinliche als das Unmögliche genommen wird. Genommen werden muss. Denn schlimmer, denkt Joschi, schlimmer als ein Unfall wiegt, jener Dumme sein zu können, der dem anderen Gelegenheit gibt, die Deppenspur, die Sonntagsfahrerspur zu verlassen und sich einzufädeln. Weil dieser andere – weil Joschi! - zwangsläufig nicht sofort Tempo aufnehmen kann und den Gutmütigen, den Gutmenschen, den Sicherheitsabstandshalter ausbremst. Nach ihm die Sintflut. Oder der Stau.
Joschi ist sich der Aufspaltung bewusst: fluchend, sich ärgernd über jene, die den blechernen Schulterschluss üben, und gleichzeitig wissend, dass er, einmal auf die andere Seite zurückgekehrt, diesen Schulterschluss, das Aufschließen, das Dichtmachen diesmal ebenso -- na ja, egal.
Wäre er aggressiv – wie Stanke, sagen wir mal – würde er einfach den Blinker setzen und die Spur wechseln, wie die Lastfahrer es tun. Wie der Tscheche es tun könnte. Und nicht tut. Blinken und wechseln, alles in einem, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. Stanke wäre längst auf und davon. Jürgen Stanke, der alte Sack, hätte sich im KingKong längst an dieses Mädel rangemacht. Auch wenn er mindestens zwanzig Jahre älter ist als sie und Joschi. Auch wenn er längst abgemeldet sein sollte, der Gruftie. Joschi hingegen wartet auf eine Gelegenheit. Wenn er sich mit seinem Bier an die Bar lehnt und das Mädel beobachtet, wie es allwöchentlich mit den Freundinnen ins KingKong kommt, wie es sich manchmal von Kerlen ansprechen lässt, einladen lässt, was auch immer, dann ruft er sich zur eigenen Rechtfertigung ein Foto aus einem Bildband vor Augen, ein Krokodil, das man für einen Baumstamm halten könnte, der im Fluss treibt, und im Hintergrund die Abenddämmerung und etwas unscharf eine Gnuherde, die Tiere in der ersten Reihe mit abgespreizten Vorderläufen im Schlamm. Das Krokodil, sagt Joschi sich dann, kann warten. Irgendwann ist der Druck der nachrückenden Herde so groß, dass die vorderen Gnus aus ihrer Unschärfe und in den Fluss gedrängt werden und in panischer Angst ans andere Ufer streben. Dann wird, was man für einen Baumstamm halten könnte, aktiv und hält auf die Tiere zu, packt eines und zieht es unter Wasser, reißt es mit schnellen kreisenden Bewegungen auseinander, obwohl, wie die Bildunterschrift verrät, mehr Gnus durch die eigene Panik zu Tode kommen als durch die Krokodile.
Und jedes Mal aufs Neue ist Joschi erschrocken. Ist erschrocken über die Assoziationen, die ihm zur Rechtfertigung herhalten müssen. Er will niemanden unter Wasser zerren und zerreißen. Doch wenn es nicht bei einem Bier, bei einem Cocktail, bei einem Tanz bleiben soll, will die Sache überlegt, geplant sein.
Joschi fährt auf, als könne er den Laster die Steigung hinaufschieben. Er schaut in den Außenspiegel. Keine Chance. Nur Überholprofis auf der linken Spur.
Stanke! Joschi erinnert sich - er hat ja Zeit auf der Sonntagsfahrerspur, der Schneckenspur! - er erinnert sich, wie Stanke einmal in großer Runde seine Urlaubserlebnisse in Kairo schilderte. Wie die Straßen unpassierbar schienen, eine Stoßstange an der anderen, ein Ineinandergeschiebe von Blech, aus allen Richtungen und zu allen Farben der Ampeln, und wie er, Stanke, sich das Spiel eine Weile fasziniert anschaute und dann auf Anraten eines einheimischen Touristenführers einfach loslief, wie er gar nicht erst nach einer Lücke spähte, sondern sich seine Lücke schuf, wie er einfach auf die Straße trat, wie die Autos nichts anderes von einem Fußgänger erwarteten und hupend auswichen, wie er auf der anderen Seite ankam. Unversehrt.
Und so, genau so, macht Stanke es auch mit den Mädels im KingKong, dieser Arsch, denkt Joschi.
Ob Joschi auch? Ob seine Zeit nicht irgendwann überschritten ist? Ob die Herde nicht irgendwann den Fluss passiert hat, ohne dass, was man für einen Baumstamm halten könnte, zugepackt hat?
Die Schlange der Überholenden nimmt kein Ende. Joschi brodelt. Ist wütend. Auf die da und auf das Krokodil und auf das Mädel im KingKong und auf die Gnus und auf Stanke sowieso und auf den verfickten tschechischen Lastfahrer und auf sich. Setzt den Blinker. Wechselt einfach die Spur, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. So wie Stanke in Kairo über die Straßen geht. So wie Stanke im KingKong fünfundzwanzig Jahre jüngere Mädels anbaggert. So wie das Krokodil eines der Gnus packt und unter Wasser auseinanderreißt.
Von hinten eine Hupe. Scheinwerfer im Rückspiegel. Vor ihm eine Staubwolke. Eine Herde Gnus. Brechen aus der Savanne neben der Autobahn, ihm direkt vor die Motorhaube. Bremsen. Vollbremsung. Hinter ihm ein Krokodil, stattliches Exemplar, die Gnus im Blick. Es bäumt sich, es hechtet, hechtet einfach durch die Heckscheibe.
Steffen Roye
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08 | Simone Scharbert
Vakuum, greifbar
gestern vielleicht morgen oder umgekehrt inmitten kaum noch fixierbarer koordinaten gestikulieren hände einzelne finger streichen streifen die zeit zwischen uns ein tag nach dem andern und wie er vergeht ohne das rücken der zeiger oder digitale veränderung zwischen null bis neun ein greifbares vakuum unsere körper austauschbare hüllen für atemwege und stoffwechselprozesse bleiben manchmal eher selten ein waches stück haut
Simone Scharbert
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07 | Clara Heinrich
Harmonie
Es ist still. Außer. Tick. Tack. Tick. Tack. Das ist die Küchenuhr. Bisschen tiefer klingt das Tropfen aus dem Wasserhahn. Patsch. Patsch. Geräusche, die meinen monotonen Alltag begleiten. Ich sollte mein eintöniges Leben vertonen. Kann ein Leben eintönig sein? Es fühlt sich so an. Dabei ist meines mindestens zweitönig. Da gibt es das Ticken, das Tacken und das Patschen als ständige Begleitung meines Herzschlages, der wie ein Metronom über allem wacht. Das ist wiederum nur meine Wahrnehmung, weil das Schlagen des Herzes mir lauter vorkommt als die Uhr da hinten in der Ecke. Die geht bestimmt genauer als mein Herz, keine Sorge. Ich fühle aber anderes. Ich ticke eben anders. Der Zweite Ton in der Zweitönigkeit ist greller, lauter, schriller, nicht monoton und gleichmäßig wie Wasserhahn und Küchenuhr. Mein Herz gibt den Takt auch diesmal vor. Es ist ja schließlich Metronom. Mein Metronom. Wie das wunderschöne, dunkelrote hölzerne, das früher neben dem Klavier stand. Nur schneller, panischer, hektischer. Hektisch trifft es gut. Der Atem hört aufs Herz. Er wird flacher. Schneller. Alles wird schneller. Schneller und Greller. Zu viel für mich. Bis ich irgendwann verkrampft zu Boden sinke, dem zu schnell nachgebe und heule bis nichts mehr geht. Die Tränen sind so laut, wie es zuvor still war. Bevor die Panik kam. Mich einfach wie ein Tsunami überrollt hat. Das passiert oft. Ein paar Mal am Tag. Ich bin so etwas wie eine wandelnde Symphonie mit dem Paukenschlag. Oder ist mein Leben die Symphonie und ich der Paukenschlag? Nein, das bestimmt nicht. Dazu haue ich zu wenig auf die Pauke. Das Pauken liegt mir nicht. Also bin ich die Symphonie und das Leben der Paukenschlag? Egal. Jedenfalls wäre ein Dirigent sehr notwendig. Oder eine Dirigentin, versteht sich. Davor sollten meine Instrumente aber noch gestimmt werden. Die klingen falsch. Irgendwie nicht harmonisch. Die Harmonie fehlt insgesamt. Nicht nur beim Ticken, nicht nur beim Tacken. Irgendetwas ist falsch. Insgesamt eben. Nackt kommt man auf die Welt. Sind die Instrumente dann schon gestimmt oder sind sie noch gestimmt? Meine waren bestimmt nie gestimmt, ich war schon immer verstimmt. Deswegen vergreife ich mich auch so oft im Ton. Der ist dann zu streng, zu wütend, zu traurig. Zu, auf jeden Fall mit zu davor. Die Stimmlage stimmt dann nicht. Ich bin schief, ausgerutscht, nicht richtig. Auf die schiefe Bahn geraten. Wobei das dann ja nicht meine Schuld wäre, wenn die Instrumente schon bei der Geburt verstimmt waren. Aber das sagt mir niemand. Niemand sagt mir, du bist die Nadel, die alle Platten verkratzt und hat dann eine Lösung parat. Nein, so sind sie nicht. Und trotzdem geben sie den Ton an. Sie sagen, sei nicht traurig. Traurig?, wiederhole ich dann tonlos. Ich werde immer leiser, die Panik immer lauter. Aus dem nichts wird sie laut. Immer jeden Tag. Sie holt mich ein. Jagt mich, so wie eine Note hinter der anderen herjagt. Sie gehört zu mir, die Panik. Könnte (m)ein Komponist mal eine Pause setzen? So ein Zeichen würde mein Leben erleichtern. Die Pauken, die brauche ich gerade nicht. Was bin ich nun? Wo sind die, die mich hinbiegen und stimmen sollten. Tick. Tack. Tick. Tack. Patsch. Patsch. Die Panik ist weg, die Eintönigkeit zurück, doch ich weiß, der zweite Ton wird wieder kommen.
Clara Heinrich
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06 | Sigune Schnabel
Eingemachtes
In Einmachgläsern
ruhen die Sommer.
Nur kleine Schüsseln
füllst du
mit Erinnerungen,
damit wir durch den Winter kommen.
Du hast die Schale entfernt,
und Momente liegen weich
in meiner Kehle.
Auf meinen Lippen:
das letzte helle Wort
in einer fremden Sprache.
Sigune Schnabel
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