freiTEXT | Mattia Avoledo

Frösche : Wülste

rrra – rrrrrrrrö – rrre – rre – meeh – rrere
Gurren, Schreien, Schnarren : ein heller Falz schiebt sich die Wand entlang, die Rechte nur ein Ärmel, die Linke hält einen Glitzerstein : Fugazzi lärmt es in meiner Rumpelkammer. Fleisch auf Gelb, Weiss auf Fleisch : mit Haaren. Das dümmliche gelbe Altherrengesicht sieht zum Fenster herein, schneidet einzweidrei Fratzen und zottelt mit neuem Bart ums freche Maul ab : zur Seite mit dir, alter Voyeur.
Hochschrecken : neben meinem Bett röchelt es. Fasel liegt unverändert da, Atem stossweise reinraus, mit kurzen Aussetzern dazwischen : Atemstocken. Gerüche von Schweiss und Nachtatem dringen in mein Schlafgesicht. Zwischen uns der einfache Tisch mit Stuhl, nirgends scharfe Kanten, auf dem Boden verteilte Kleider, feuchte Frotteehandtücher, meine Brille. Das Maunzen der Frösche jetzt nur noch am Rand der Bewusstseinsscheibe.

Er war mir schon am ersten Tag aufgefallen, wie er seinen breiten Körper an der Haltestange im Gang entlang schob, ohne dabei unelegant zu wirken. Ich sah beim Essen, dass er mich von seinem Tisch aus beäugte; er war einer der wenigen, die immer wieder herzhaft lachten. Nicht verhalten, nervös, leise, wie die meisten.

Die hundertachtzig Kilo heben sich nur schwach ab von der Wand, an der das Magnetbrett für Grusskarten und Besserungswünsche hängt, knochenweiss und leer, wie auf meiner Seite auch : die schwarzen Sterne der Magnete. Dann nochmals wegdösen, die Gelenke in Armen und Händen tun weh.

Sametpfötchen tatschen auf meiner Brust : hinter der dreckigen Scheibe ein Himmel und am Himmel steht ein rosa Schwert : Meine Beine bewegen sich nicht : meine Hände sind aufgeblasen und hohl wie Ballons : innen sind Gänge und Schächte und ich muss graben, graben
ich wache auf, er schläft noch, die dicke Stirn in unregelmässigen Furchen : Wülste : der Schädel frisch rasiert. Ich hieve mich hoch und stelle meinen Leib unter der Dusche ab. Kurzes Erschrecken vor dem Spiegel, du? sei tu? dann schnell heiss kalt hoch runter und ab in die Unterschläuche. Zurück ins Zimmer und Brille ins Gesicht, Handy in die Tasche, Zippen auch und Zeit ans Handgelenk. Rausgeschlichen und ab ans Zmorgebuffet: Kääs, Angge, Gipfeli, Nussbrot, Aprikosegonfi.
Die heilige Maria steht schon an der Kaffeemaschine und putzt. Ich kann sie noch daran hindern, die frische Milch wegzuschütten. Is nümme guat, weiss? Han vergiftet, sagt sie.
An den einzigen leeren Tisch setzen : Blicke vermeiden : Maria setzt sich neben mich und wir plaudern.
Später schlurft Fasel heran in seinen Riesenpantoffeln und löst sich einen kleinenschwarzen. Sein Zmorge besteht aus einer Schale Milch mit Unmengen an Caotina, Ovomaltine und Frühstücksflocken. Die Milch auf dem Suppenlöffel, die hin und her schaukelt, während er an der Spitze saugt; kleine Wellen; das feste Material schwappt erst im letzten Moment in sein grosses Maul. Wir lächeln, als Maria erzählt, wie streng sie ihr Laufhaus führe, und werden dann ernst, als sie uns aus ihren schwarzen Teddybärenaugen anblitzt.
Gell Schatz, du luagsch zu mir? Weiss, ich han viele Männer, schenke mir imme viele Sache. Wenn ich dir gebe hundert Euro, ich kann machen mit dir was ich will? Gefälltdi oder? sagt sie zu mir und lacht ihr helles Lachen.
Wir verdrehen kurz die Augen, als sie ins Raucherzimmer verschwindet, und müssen uns dann gegenseitig versichern, wie sehr sie uns doch leidtut. Ich sehe wie Gabi, die jetzt auch am Tisch sitzt, kurz schielt und dann nervös mit ihrem Tablett hin und her schabt. Ich beruhige sie: die heilige Maria erzählt jeden Tag andere Geschichten, keine davon muss wahr sein. Von den andern Tischen her spüre ich die Blicke der Mitpatient:innen. Manche urteilend, andere verwirrt, belustigt, gleichgültig, viele einfach nur traurig.

Der Tschüffel schlägt unnötig laut auf dem Gong herum und stolzt durch den langen Gang, dieser Mannsgoggel. Ich schenke ihm ein müdes Lächeln, ich Opportunist. Wir trinken unsere Kaffees aus, räumen Geschirr und Besteck weg und schlurfen in den grossen Raum rüber, wo jeweils die Therapien stattfinden. Es heisst Koordinationsgruppe, also eine halbestunde lang zuhören, wie alle einzeln herausbröseln, was sie so zu tun habenwollenmüssen an dem Tag, und die Pflege, die dann jeweils sagen darf, dies oder jenes falle sowieso aus, das sei später, dieses früher, und dann geht das Spiel von vorne los bei der oder dem nächsten. Hier läuft die Uhr nach einer eigenen Zeit ab, wie Gabi immer sagt. Oder war es umgekehrt?
Hier: das ist die UPK Basel; sind, nicht ist; Mehrzahl. Die meisten sagen immer noch puk. Das gefällt mir. Die Stadt wollte mit dem neuen Akronym verhindern, dass man puk sagt, es wurde zu einem stehenden Begriff: puk, wie Wäbstüübli, puk, wie Burghölzli, wie Waldau, är isch indr puk, hesch ghört? Sie isch widr indr puk glandet, s het jo müesse sowit ko, sisch nüm so witergange. Ich bin also in der puk, und ich bin nicht das erste Mal da.

Lange schwarze Haare und Blut, Laken, Imperatrix Furiosa fährt ihren Laster durch die Wüste, Tom Hardy schluckt Sand, am Boden leere Blister Temesta, Cymbalta, Stilnox, Strähnen, eine Bong, beschlagen, ein junger Mann, hinten lange Haare, vorne ganz kurz, unregelmässig, ein Rasiermesser, Schnitte zwischen den Büscheln Haaren und auf der Stirn, keine tiefen, ein Bildschirm zeigt einen Sturm. Und er ruft einen Namen, nochmals. Beine zittern, kalter Schweiss, heisser Atem, reiben, es ebbt ab und flutet an und er treibt weg und wird wieder angespült. Küsten der Verzweiflung. Dann Wasser aus dem Maul : kein Schluck. Türrahmen konkav eine Kurve, versucht sich festzuhalten : auf Watte gehen. Blööterliwasser im Kopf, Piksen in Ohren, Lidern, im Nacken : Reissen unter der Haut. wen anrufen? Vatermueterkind, vier gewinnt : wer nicht wagt : wo war er gleich? Ah, kann nicht schlucken. Reinsteigern. Rein steigern. R einsteig ern.

Aber das war ja früher gewesen. Jetzt machen wir einen Spaziergang über das weitläufige Areal, vom Froschtümpel zur Orpheus-Statue und zurück zum Kranich, dem kleinen Restaurant in der Mitte des Areals.

Bäume, Ziegen, Katzen, Hühner, Hasen, Meerschweinchen und Schafe gibt es hier. Auf den Weglein gehen, hinken, tanzen, krabbeln, schieben, stelzen die Patient:innen und Angestellten, die Ärzt:innen, die Depressiven, die Schizophrenen, die Manischen, die Süchtigen, die Psychotischen, die Traurigen und die Euphorischen, die Alten und Jungen, die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, die Gärtner:innen, die sogenannten Kranken und Gesunden auf Gottes grosser Erde. Früher habe ich gedacht, ich gehöre nicht hierher, ich bin nicht krank. Das hat mein Vater gesagt. Aber jetzt gehöre ich hierher, gehöre zum Raucherzimmer mit gelber Tapete, zur Aromatherapie, zur Medikamentenausgabe, zum Plaudern mit den Leuten in der Forensischen, durch den Gitterzaun durch, zum nächtlichen Geschrei und zu den Tränen.
Ich gehe neben Herr Fasel und höre ihm beim Plappern zu. Er erzählt mir von seinen Katzen, die in einem teuren Katzenhotel untergebracht sind, während er in der Klinik ist. Er erzählt mir von seiner Mutter, die immer für ihn eingekauft hat. Er ist um die fünfzig; seit er mit Mitte zwanzig eine Invalidenrente gesprochen bekommen hat, hat er die allermeiste Zeit zuhause verbracht, mit seinen zwei Katzen, vor dem Computer. Er hat Siedler gespielt und online gechattet. Seine Mutter wohnte in der Wohnung auf demselben Stock. Als sie vor kurzem starb, musste er selbst einkaufen gehen und ass so viel, dass er irgendwann nicht mehr aufstehen konnte und beinahe auch starb. Nach der Notfallaufnahme und den Wochen im Spital, in denen erst das Wasser aus seinem Körper herausgearbeitet wurde, musste er wieder gehen lernen, dann war er auf der psychiatrischen Krisenintervention und jetzt war er hier. Er will abnehmen und er will Sex haben. Er hat schon früh gewusst, dass er schwul ist, hat sich geoutet, aber noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Als er in mein Zimmer verlegt wurde, meinte ich, er solle doch Grindr installieren. Er schrieb wohl mit einigen Männern – ich weiss nicht, ob er auch je einen davon getroffen hat. Herr Fasel lacht viel und öffnet dabei seinen breiten Mund, so dass man seine wenigen verbliebenen Zähne sieht. Für einige Patient:innen ist er die wichtigste Ansprechperson hier. Er ist einfühlsam und kann gut zuhören, besser als viele der Psycholog:innen. Wie hatte er ein Vierteljahrhundert so isoliert überlebt? Hat er sich in einem Traum versteckt? Sich fallen gelassen, sich entschieden, einfach nicht zu landen?

Das meiste hat Fasel mir zwischen Schlaflosigkeit, Raucherzimmer und Spaziergängen erzählt. Manchmal schreibt er Gedanken und manchmal schreibt er andere Dinge auf. Ich habe nie etwas davon gelesen. Ich will auch schreiben.
Es gibt viele Menschen hier, die schreiben. Es wird viel geschrieben. Die Ärztinnen schreiben Rezepte und Notizen, die Psychologen schreiben mit und malen kleine Kringel am Rand ihres Blattes. Die Sozialarbeiterin schreibt sich ein paar Informationen über die Arbeitssituation auf. Reintegration, Arbeitsmassnahme, Arbeitsversuch.
Die Enten tauchen zwischen den Fröschen im Teich, zwischen der Grütze und dem langen Farn. Kleine Inseln zum Verweilen. Schreiben wogegen?

Fasel hat sich besonders mit zwei Mitpatienten angefreundet, die nicht mehr auf der Station waren, als ich ankam. Ich habe ihn nach seinem Austritt einmal besucht, der Gestank nach Katzenklo hat die Stimmung noch trister gemacht. Seine Wohnung befand sich in einem dieser unwirklichen Hochbauten am Rand der Stadt, mit sechzehn Stockwerken oder mehr. Er sass mit den beiden Freunden, Yannis und Mirko, auf dem Balkon, sie tranken Bier, kifften, riefen mit unterdrückter Nummer in der Klinik an, um die Pflege dort zu nerven und swipten auf Tinder, beziehungsweise Grindr. Dann erzählten sie mir, wie sie den Abend zuvor gemeinsam im Puff gewesen waren. Yannis und Mirko hatten zusammen eine Prostituierte gefickt, sie sagten immer wieder gefickt, betonten das -fi-; Fasel hat dabei zugesehen. Yannis war ganz aufgeregt beim Erzählen, sein Kopf dunkelrot, er habe nicht mehr aufhören können, bis die Nutte nicht mehr konnte, dabei kratzte er sich den Schorf von den Unterarmen. Seine Brustmuskeln spannten am Shirt. Fasel sah mich ratlos an. Mirko war erst Anfang zwanzig, ich wusste nicht, wieso er mit den beiden viel Älteren abhing. Er meinte, am Geländer mit Katzennetz stehend, wir könnten uns jetzt einfach da hinunterstürzen, vom Balkon, aus dem zwölften Stock. Niemand widersprach. Ich spürte ihre Langeweile und ihre Verzweiflung, ein Kloss und ein Puls im Hals, es tat mir weh und ich war froh, nicht wie sie zu sein, und ich hatte Angst, ich könnte wie sie werden, und es tat mir leid, dass ich so dachte und fragte mich, ob ich so denken dürfe, und ich war dankbar, Freunde und Familie zu haben, die für mich da waren. Die stabil waren. Die drei lachten und meinten, sie wollen mich jetzt ins Bordell mitnehmen, oder zumindest zum Koksen oder zum Schwimmen am Rhein. Ich winkte ab, ich müsse wieder zurück in die Klinik und sowieso … Yannis meinte, es sei alles nur Spass. Mirko lachte leise und aus seinem hübschen Jungengesicht strahlten zwei blaue Augen, die ich nicht zu deuten wusste. Fasel sah mich an, sein breites Maul zog sich zu einem entschuldigenden Lächeln auseinander. Ich hoffte, dass er sich nicht wieder in seiner Wohnung einsperren würde. Das sagte ich ihm beim Abschied. Er sagte, er wisse es noch nicht. Ob er unter den Menschen bleiben möchte.

 

Mattia Avoledo

 

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