2 | POEDU: Ari – Maurits – Stine

Die Wunschliste

 

Ich wünschte, ich könnte jede Sprache sprechen
Ich wünschte, dass ich alles außer nichts mache
Ich wünschte, nie mehr in die Schule zu müssen
Ich wünschte, dass ich nie im Leben egoistisch bin
Ich wünschte, dass ich mich nie verletze
Ich wünschte, dass ich keine Angst mehr vor Hunden habe
Ich wünschte, dass wir nie Hausaufgaben machen müssen

 

Ari, 6 Jahre alt

***

 

Ich wünschte, es gäbe eine Zeitmaschine.
Ich wünschte, ich hätte alle guten Bücher.
Ich wünschte, niemand beginge Straftaten.
Ich wünschte, es ließe sich alles ohne Geld regeln.
Ich wünschte, es gäbe eine mathematische Formelsprache, mit der man bei einem Streit einfach ausrechnen könnte, wer recht hat. (Davon hat bereits ein früherer Denker namens Leibniz geträumt.)
Ich wünschte, ich könnte bis Unendlich zählen.
Ich wünschte, ich wüsste alles Lernbare.

 

Maurits, 9 Jahre alt

***

 

Ich wünschte, es würde schneien.
Ich wünschte, wir bauten dann Schneefiguren.
Ich wünschte, ich könnte einen Schneeengel machen.
Ich wünschte, wir könnten Oma und Opa an Weihnachten sehen.
Ich wünschte, ich könnte meine Freunde treffen.
Ich wünschte, dass die beiden Schmetterlinge in unserer Kammer den Winter überlebten.
Ich wünschte, wir blieben alle gesund.

 

Stine, 12 Jahre alt

***

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder.
Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

 

Dieser Impuls kam von Anke Bastrop:

Poesie und Wünschen sind fest miteinander verbunden, und zwar das ganze Jahr lang. Genau genommen kennt das poetische Wünschen keinen Raum und keine Zeit, keine Bedingungen und keine Grenzen. Stellt euch also vor, euer Wünschen wäre ganz frei. Alles, einfach alles dürft ihr sagen … natürlich auch eure Herzensdingwünsche – alles ist erlaubt ...

 

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1 | Susanne Gurschler

Lichter Schauer

Ins Unbestimmte des ersten Tages geschnitten
überall Zeichen – später
Zottelhund, der um die Ecke huscht
blonde Zöpfe die Steinstiege hinauf
Teufelskralle und aufgescheuchte Krähen
wie Kohlestücke aus dem erkalteten Steinkreis am Bödele

Unweit davon der Steilvorhang, über dem sich Büschel
bauschen wie Leinen im Wind
der Untergrund nur Unwissenden gewiss
allen anderen längst ein freier Fall
ein Kiesel ein Stein Größeres weithin zu hören

Ein Baumstamm, dessen Finger sich ins Lose kletten
verödet unter der Sonne
ein anderer meinte sich zu retten
indem er seinen Kopf nach oben warf
nun hängt sein dürrer Leib über dem Abgrund
die Wurzeln zu Hörnern verformt oder Schlimmeres

Etwas windet sich durchs immer bewegliche Grieß
die Schwanzspitze wühlt im Berg das Maul voller Geröll
ersoffen darin Kiefern Tannen Fichten so viele
hinunter- und hinausgeschwemmtes Leben
über die Kante gestoßen ins tosende Nichts

Modrig das Haar auf der Holzbrücke dann
doch noch denken an Dante: ein Blick hinab
und sandblaues Wasser so nah
dass lichter Schauer durch die Spalten greift

 

Susanne Gurschler

 

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freiTEXT | Marlene Schulz

Auf der Melibokusbank

In der Nacht hatte es geregnet. Die Wiesen waren noch feucht und die Luft war kühl an den Wangen und frisch. Ein feiner Nebel zog über den Gräsern auf.
Sie gingen hoch zu der Sitzgruppe, einem Tisch und davor einer Sitzbank aus grobem Holz, mit Blick auf den weit entfernten Melibokus. Oben stiegen sie über die Bank auf den Tisch und stellten sich nebeneinander. Das Holz war zu feucht, um darauf zu sitzen. Sophia tippte wortlos den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und zeigte dann auf den Waldrand. Da stand eine Ricke mit einem Kitz. Nada nickte. Sie schauten eine Weile zu, sahen die Rehkuh aufschrecken und die Tiere davonlaufen.
Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung, sagte Sophia.
Hier im Wald?, fragte Nada.
In der Bahn. Ich bin von Frankfurt nach Darmstadt zum Nordbahnhof gefahren. Wenn du da in den Zug steigst, kommt dir die Welt viel kleiner vor. Der Zug hat zwei kurze Wagen und alles wirkt wie ein größerer Bus auf Schienen, der in die Jahre gekommen ist.
Auf halber Strecke, da waren die meisten Leute schon ausgestiegen, kam ein Mann auf mich zu, ich saß auf einem Vierer, und der fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Klar, hab ich gesagt, und da streckt der mir seine Hand entgegen und sagt seinen Namen. Ich war so perplex, dass ich ihm auch die Hand gab. Komisch irgendwie. Die hat er dann mit zwei Händen festgehalten, für mein Gefühl ein bisschen zu lang.
Hast du deinen Namen auch gesagt?
Ich hab erst mal gar nichts gesagt. Er hat dann geredet, hat gesagt, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das etwas eigenartig vorkommt. Nicht ganz gewöhnlich, hab ich gesagt. Ja, das trifft es.

Wissen Sie, sagte er, ich habe in einem Magazin über eine Studie gelesen. Solche Analysen sind immer sehr aufschlussreich. Da hieß es, dass körperliche Berührungen von Menschen und Tieren Schmerzen lindern können und Depressionsgefühle und Ängste.
Hm, hab ich gesagt.
Ich finde das sehr beeindruckend, sagte er. Die körperliche Gesundheit kann jeder Mensch dadurch selbst beeinflussen und seitdem ich das weiß, habe ich angefangen zu sammeln.
Was sammeln Sie denn?, hab ich gefragt.
Berührungen, meinte er.
Deshalb haben Sie meine Hand vorhin so festgehalten.
Sie haben es erraten, sagte er und dabei streckte er seinen Zeigefinger gefährlich nah zu mir herüber. Glücklicherweise blieb er sitzen.
Und führen Sie darüber Buch, was Sie so am Tag gesammelt haben?, hab ich gefragt. Vier Mal Händeschütteln, drei Mal Armberührung, zwei Mal Anrempeln in der Straßenbahn im Berufsverkehr? Weihnachtsmärkte müssten da ja sehr ergiebig sein oder Demos.
Nein, wo denken Sie hin, sagte er. Ich mache keine Strichlisten, ich sammle einfach nur die Berührungen. Volksfeste sind ein guter Fundort, auch Bahnsteige. Da stelle ich mich am ankommenden Zug vor die Tür und bleibe einfach kurz vorm Reingehen stehen, während die anderen alle in die Bahn wollen. Da gibt es ganz viel Berührung, nicht immer freundlich, aber Körperkontakt von mehreren Seiten. Je häufiger, umso gesünder. Umarmungskissen gehen natürlich auch, sagte er. Oder Gewichtsdecken. Aber so etwas habe ich nicht zuhause. Ich mag es lieber natürlich, so von Mensch zu Mensch. Und wissen Sie, was die herausgefunden haben?, fragte er.
Die Forscherinnen meinen Sie?
Forscherinnen?
Ja, die Forscher stecken ja sowieso im Wort, sagte ich. Sie machen mich neugierig, was die entdeckt haben.
Ach so, sagte er, und ja, stimmt. Die haben herausgefunden, dass es gar nicht auf die Länge der Berührung ankommt. Da gibt es keinen Unterschied, ob es um zehn Sekunden geht oder um eine Stunde.
Okay, sagte ich.
Aber noch interessanter ist, sagte er, wo die Berührung am wirkungsvollsten ist.
Irgendwie war ich plötzlich alarmiert und dachte so bei mir, hoffentlich ist das jetzt harmlos. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt, wo das sein wird, auf Herzhöhe oder direkt unterm Bauchnabel oder am Hintern, und dass der mir dann die Stellen genau an sich zeigt und hoffentlich nicht an mir.
Am Kopf, sagte er da.
Am Kopf, hab ich dann wiederholt und war erleichtert.
Kurz vor der nächsten Haltestelle stand er dann auf, guckte mich an und sagte: Hätten Sie etwas dagegen?
Gegen was?, hab ich gefragt.
Nur eine kleine Berührung, so von Stirn zu Stirn, also von Kopf zu Kopf. Für meine Sammlung.
Für Ihre Sammlung, hab ich gesagt.
Ich sammle doch Berührungen.
Ja, das sagten sie, sagte ich. Er stand ja da so vor mir und ich, ich hab gesessen. Von mir aus kann der ja sammeln, was er mag. Ich bin auf jeden Fall für gesunde Sachen, und dass da einer für sich selbst sorgt und alles, finde ich wirklich super. Der kann vor jeder Zugtür stehen bleiben und warten, bis alle eingestiegen sind und beim nächsten und übernächsten Zug nochmal das Gleiche, von mir aus den ganzen Tag und meinetwegen auch die Nacht, alles fein, aber stell dir vor, dich will auf einmal jeder Mensch am Kopf anfassen, da wirst du doch verrückt von diesem ganzen Kopfgetatsche.
Und was hast du gemacht, fragte Nada und guckte mich von der Seite an. Ich schaute auf den Melibokus.
Hast du’s gemacht? Nada kräuselte die Augenbrauen und legte den Kopf ein wenig schief. Hast du nicht, sagte sie. Oder?
Ich hab ihm gesagt: Tut mir leid, aber ich habe da einen ganz schlimmen unsichtbaren Ausschlag am Kopf, ich möchte sie auf keinen Fall anstecken. Ich mag Ihre weitere Sammlung nicht gefährden.
Da hat er seine flache Hand auf den Mund gelegt und große Augen bekommen, ist dann sofort aus dem Vierer raus auf den Gang und weg war er.

 

Marlene Schulz

 

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freiVERS | Torsten Siche

letztlich nutzlos die Kraft
in den Fingern die Melodie
klebt an den Lippen kostbar
wie Brausepulver einst
und immer übrig geblieben
als jede jeden zum Essen rief

keine Vögel kommen vorbei
trotz Herbst keine Not auf dem Spielplatz
hocken die Krähen im Sand zwischen den Fingern
zerrinnen die Krümel eine Spur hinter der Scheibe
verschwimmen die Lippen zum Sumpf
da wo einst Wärme war und Wimpernschlag

kein Igel im Laub kein Scharren
im Dickicht lauert kein Trost
von der Schaukel tropft es
Tränen zäh oder zögerlich
nichts drängt sich auf
oder will willkommen sein

kein getretener Hund streunt
vor deiner Tür klafft keine Wunde
kein Wimmern hinter der Wand
nur das Kinderlachen scheppert
im Fahrstuhl hinab

 

Torsten Siche

 

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freiTEXT | Carolina Reichl

Plus, Minus, Notizen

mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn

 

Carolina Reichl

 

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freiVERS | Magdalena Resch

EINS

Blätter kitzeln einander
und tanzen im
Windestakt
durch den
Nebelnieselregen.
Ader für Ader.
Wie oben so unten.
So halten die vergrabenen
Wurzeln
die flatternde
Leichtigkeit
die mit einer
nadeldicken Ader
an der Starrheit des
Stammes hängt.
EINS.

 

Magdalena Resch

 

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freiTEXT | Jan David Zimmermann

Onkel Fritze

Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche

Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.

 

Jan David Zimmermann

 

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freiVERS | Dörthe Huth

In Gesellschaft des Wassers

Du betest für Regen
in der Hoffnung
dass er singt
wie ein krächzender Vogel
während der Dürre des Sommers
im Tanz der Tropfen fühlt sich
das Leben leichter an
glaubst du
umschlossen von dumpfer Stille
halte ich das Gleichgewicht
und spiele toter Mann
mit geöffneten Augen
fixiere ich die Wolken
damit die Vorzeichen
nicht aus dem Blickfeld verschwinden
die schweren Wolken ziehen vorüber
Regen fällt nicht.

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Dörthe Huth

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freiTEXT | Dana Schällert

Denk mal

Niemals hätte sie das gedacht.
Wo sie doch so gegensätzlich sind.
Gegensätzlicher kann man gar nicht sein, denkt sie. Denkt sie.
Sie denkt. Allein das ist bemerkenswert, denkt sie. Das muss ER gewesen sein. Denk mal, denkt sie.
Man kommt wohl nicht drumrum, wenn man sich in wen verliebt, der ein Denkmal ist. Sein Sein ist die Arbeit, denkt sie. Er arbeitet Tag und Nacht, denkt sie, während sie nichts tut. Rumsteht. Rumsteht und nichts tut, außer Kleider zu tragen. Mal dick und warm, mal luftig und kühl, gemustert oder uni, es bleibt Stoff, aus dem keine Träume sind.
Sie hat weder Augen noch Mund, ihr ganzer Körper verharrt im Status der Andeutung. Ihre Hand ist leicht erhoben und nicht voll gestreckt, eine Geste von Eleganz und Überdruss, sie hat sie nicht selbst geformt. Formwerk anderer ist ihre Haltung, ihr ganzer Leib, Kunststoff wie die Gewänder, ihre Kugelgelenke drehen sich um eine Welt, die eine Glasscheibe ist. Dahinter steht sie nämlich, in einem Zwischenraum. Hinter der schmalen Stellwand, die ihren Rücken umsäumt, liegt die kunstlichtbeschienene Verkaufsfläche, gefüllt von Aufreihungen kleidförmiger Identitätsvorschläge in den Farben der Saison, deren verkaufsträchtigstes Exemplar sie selbst als Botschafterin zu tragen auserkoren worden ist. Das ist ihr Platz. Hier. Vor unsichtbarem Hintergrund, hinter besagter Scheibe. SALE steht vor ihrer Stirn. Es könnte ihr Name sein.
Schaut ihn an. Augenlos, hirnlos, wortlos. Schaut ihn an und denkt auf einmal.
Denk mal, sagt etwas an ihm. Wie er abgehoben da oben steht auf dem Turm anderer Figuren mit der Kelle in der Hand. Sein Körper ist vom Schuften gebogen, auch steht er nicht aufrecht und stolz wie sie, die innen hohl ist, sondern schräg, als könnte ihn bereits ein leichter Wind hinfortreißen. Sein metallener Blick aber ist so fest und stark wie die Hände, die die Kelle umgreifen, wie die weit gespreizten Beine, die in den Boden gegossen scheinen, weil sie es sind. Seine Kleidung ist nicht aus Stoff, das ist in Bronze gegossener Marmor. Das ist ewig, das ist nicht Saison, das ist die stehengebliebene Zeit. Das ist Geschichte, genau wie seine unmoderne Kopfbedeckung, die was mit seiner Arbeit zu tun haben muss. Niemals wird ein Wind ihn hinfortwehen, denkt sie. Niemals. Das ist Geschichte. Was war, steht fest. Stünde ich dort, ach, aber ich bin ja hinter Glas, ich bin ja …
Sie weiß, er schwarz. Er weiß, sie nicht. Nichts weiß sie. Aber denk mal, sagt er wohl, denkt sie. Denk doch mal. Denk, was sein könnte. Du könntest sein. Ich könnte sein. Alles könnte anders sein. Wir könnten sein. Könnten abhauen, denk doch mal. Und sie starrt hinaus, Gedanken verloren, die sie gerade gewann und sehnt sich. Ich bin ja …, ich könnte ja … Denk mal, sie sehnt sich. Steht hinter dem Glas des internationalen Modekonzerns und sehnt sich. Nach mehr. Nach Wahrheit. Nach Körper und Schweiß und Sex und Luft. Nach Veränderung. Denkt, dass er längst müde sein muss. Von so viel Arbeit. So viel Geschichte, die in seinen Adern zur Ewigkeit gefror, dass sie kein Hirn mehr zum Denken bringt. Wie sie, so harrt er aus, vor Bewegung längst steif geworden, steif wie sie, denkt sie, die sie nie in Bewegung kam. Hart und starr, beide, da muss es was anderes geben, denkt sie. Es muss mehr geben.
Wie käme Regung in meine Beine?, denkt sie. So wie das Denken in mein Hirn kam? Aber wie war das? Wie war das nur? Und wie könnte …? Liebe, denkt sie, Hoffnung, vielleicht, Glaube, oder was in der Art. Denk mal, ich habe ein Herz, denkt sie. Erkennt es aufgeregt, auf einmal, spürt den Rhythmus der Popmusik im Store kräftig in sich verzweigenden Adern pulsieren. Starrt hoch zu ihm, fragt sich: Und du? Könntest du? Willst du? Heut ist Ausverkauf. Rufen wollt ich dich, denkt sie, aber hab keine Worte, denkt sie, tastet nach den stummen Lippen und erstarrt, als sie merkt, dass sie sich bewegt hat, als sie merkt, wie die Kugeln rotieren, wie der Boden rotiert. Und als die Glassplitter auf die Straße klirren, da dreht er plötzlich, erschrocken hat er sich, dreht da oben den Kopf, ein Riss durchzittert den Stein, die Kelle schöpft Mut im Fall. „Jetzt!“

 

 

Inspiriert von der Skulptur „Turm der Arbeit“ von Jürgen Weber in der Innenstadt von Salzgitter Lebenstedt (Deutschland). Diese visualisiert die Stadtgeschichte Salzgitters. An ihrer Spitze steht der „Probennehmer“, eine große männliche Figur mit einer Gießkelle in der Hand. Umsäumt wird das auf einem Platz stehende Monument von Geschäftshäusern, in denen vor allem internationale Modekonzerne residieren, deren Schaufenster sich zum Platz hin öffnen.

 

Dana Schällert

 

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freiVERS | Helmut Blepp

Novizen

Leben verstehen
den Dunst durchschauen
lieben ohne Not
Frost aufhalten

Einfach zuhören
bei triefendem Himmel
sich zurücknehmen
angesichts der Trauergesänge

Dauer ruht
in den Irrwegen
zwischen Tag und Nacht
Hilfe im warmen Wort

Da draußen
suchen sie uns
und wir suchen mit
noch unbeholfen

.

Helmut Blepp

.

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