freiTEXT | Olav Amende

Spiegel

Stimme 1, Stimme 2, STIMME 1 & 2

I

Man sagt, es gibt im Leben eines Menschen immer wieder Momente, in denen ist der Mensch mit sich allein. / Und gleich, wie vielen anderen Menschen man nahe steht, / von wie vielen anderen Menschen man geliebt wird, / und wie viele andere Menschen man selbst zu lieben imstande ist, man ist, / so heißt es, / in diesen Momenten / ganz allein. //

Wir kennen diese Momente nicht. / Wir sind nie allein. / Wir haben uns. / Wir kennen uns / und spüren uns / so gut, wie keine zwei anderen Menschen / sich kennen / und spüren. / Mehr noch: / Wir kennen und spüren uns so gut / und intensiv, / wie kein einzelner Mensch / sich selbst spüren und kennen könnte. / Wir sind äußerlich und innerlich einander identisch! / Eins! / Wir benötigen keinen Spiegel. / WIR SIND DER SPIEGEL DES ANDEREN. //

Man nennt Zwillinge zwei Geschwister, / auf die Sekunde zur selben Zeit geboren, / die sich ähnlich oder aber, / – man nennt sie dann eineiig – / auf das Haar gleich sehen. / Wir sehen uns auf das Haar gleich. / Mehr noch: / Im Schnee hinterlassen wir dieselben Spuren. / Unsere Fingerabdrücke sind dieselben. / Unsere Iris ist dieselbe. / Und nähme man von uns DNA-Proben, / so geriete man in Bedrängnis: / WER IST WER? //

Betrachten wir uns das Wesen eines Menschen: / Wie tickt er? / Wie blickt er auf die Welt? / Was ist es, das ihm an ihr gefällt? / Und was nicht? / Was spricht aus seinem Gesicht, wenn er spricht? / Worin übt er sich in Verzicht, indem er spricht? / Und worin nicht? / Wie verhält sich sein Körper beim Laufen? / Wie beim Einkaufen? / Wie beim Erklettern / einer Eibe? / Wie beim Zerschmettern / einer Scheibe? / Wir dürfen sagen, in all diesen Momenten verhalten wir uns gleich, / spiegelbildlich, / identisch! / Ich weiß / und spüre, / wann sie den kleinen Finger ihrer / linken Hand / hebt. / Dann hebe ich ihn / und dann senke ich ihn. / Ich weiß / und spüre, / wann sie die Gabel / mit roten Linsen / zu ihrem Mund führt. / Dann führe ich die Gabel zum Mund. / Die Anzahl der roten Linsen, die sie auf ihrer Gabel transportiert, / entspricht / EXAKT / der Anzahl roter Linsen, die ich auf meiner Gabel / – unserer Gabel! – / transportiere. / Und wenn sie dann zur Toilette eilt, / eile auch ich zur Toilette. //

Es gibt Vieles, das darf die Außenwelt nicht wissen. / Nicht einmal unsere Eltern, / die wir sehr lieben, / dürfen das wissen. / Für diese vielen Momente haben wir uns eine Sprache ausgedacht, / die außer uns kein dritter / – kein zweiter! – / versteht. Das Prinzip ist simpel: / Wir nehmen uns einen Satz zur Hand, / picken uns dessen Vokale heraus / und sprechen allein mit diesen. / „e i e e i e o“ heißt: / „Dem Himmel erfriert der Mond.“ / Und „e i e e i e o“ heißt: / „Der Giebel brennt lichterloh.“ / Manches Mal / – in gewissen Situationen, in denen es gilt, nicht aufzufallen – / ist uns nach einer anderen Sprache zumute. / Auch ihr Prinzip ist simpel. / Wir nehmen uns einen Satz zur Hand, / picken uns dessen Vokale heraus und / formen mit diesen einen neuen Satz; / einen Satz jedoch, den wir nicht meinen. Wir sagen: / „Auf der Spitze des Berges ist’s nie still“, doch wir meinen: / „Trau‘ den finsteren Wegen in dir nicht!“ / Und wir sagen: „Fehlgeburt“, / doch wir meinen: „Engelsturz“, / doch wir meinen: „Erwähl‘ uns!“ / doch wir meinen: „Herr, trenn‘ uns!“!

II

Keiner versteht diese beiden Sprachen außer uns. / Das führt uns näher zusammen. / Und es schließt uns nach außen ab. / Uns erreicht keiner. / Und wir erreichen keinen. / „Ihr seid zu langsam“, / sagen sie. / „Gehen wir mit euch aus, so schafft ihr in derselben Zeit gerade einmal die Hälfte unserer Strecke“, / sagen sie. Und es ist exakt die Hälfte ihrer Strecke, die wir zurücklegen, nachdem wir gemeinsam starteten. / „Wenn wir mit euch gemeinsam am Tisch sitzen / und essen, / so habt ihr nur die Hälfte gegessen, / während wir schon fertig sind“, / sagen sie und meinen exakt die Hälfte. / „Und wenn wir mit euch Volleyball spielen, / so heben und senken sich eure Arme mit der Hälfte der Geschwindigkeit, mit der unsere Arme sich heben und senken.“ / „Ihr verfehlt alle Bälle!“, sagen sie. / „Und wer will da noch mit euch spielen?“, fragen sie. / Was sie nicht sehen: Unsere Arme heben und senken sich auf exakt dieselbe Weise! / Und wenn man unsere Geschwindigkeiten miteinander addiert, / so ergibt dies doch ihre Geschwindigkeit! / Seht ihr nicht: Wir zu zweit bilden eine Person! / Ich bin ihre Hälfte. / Und ich bin ihre Hälfte. //

WIR SIND DER KERKER DES ANDEREN … / Sie kann von mir gehen. / Und doch bekommt sie zu spüren, / was ich tue. Sie ist mir dann / ein amputiertes Bein, / das man spürt, / obwohl es einem abgenommen ist. / Gleich auch, was ich tue, / es berührt immer mich, / immer mich … / uns! / Wenn ich dich sehe, / sehe ich mich. Und wenn ich mich sehe, / sehe ich dich. / Immer nur dich! / Immer nur dich! / Ich sehe mich, / doch ich sehe mich. //

Wir wollten keinen Spiegel mehr. / Wir stellten ihn in die Ecke und schlossen den Raum ab. / Ich sperrte sie ein. / Und ich sperrte sie ein. / Doch es nützte nichts. / Wir bewaffneten uns mit Nägeln / und mit Steinen, / den Spiegel des anderen / einzuschmeißen. / Es schmerzte sehr. / Doch es brachte uns nichts. Was mich schmerzte, / schmerzte mich. / Verwundete ich mein Gesicht, / so verwundete ich mein Gesicht. / Ich schrie sie an! Ich schrie: / „Es gibt kein du!“ / „Es gibt nur mich!“ / „ES GIBT NUR ICH!“ //

Wir wollten uns einander behaupten: / Wer gibt zuerst nach, wer / ist die erste, die die Gabel / zum Mund führt, wer / ist die zweite, die / beim großen Volleyballturnier / die Arme hebt und senkt und wer / ist die erste, die / sich verlieben würde / IN EINEN ANDEREN MENSCHEN!

III

Wir mussten uns voneinander unterscheiden. / Wir mussten es versuchen. / Mit aller Kraft und Gewalt! / Mit der Liebe für dich! / Mit der Liebe für dich! / FÜR UNS! / FÜR MICH! / Wir begannen so: / Wie gewöhnlich gingen wir miteinander aus. / Wir trugen malvenfarbig / geblümte weiße Kleider und silbrige / Neun-Loch-Chucks. / Und nun gingen wir die Straße entlang und eine von uns beiden / blieb plötzlich stehen! / Und sie bückte sich! / Sie bückte sich, um etwas aufzuheben. / Einen Mantelknopf / oder ein dreibeiniges Plastiknashorn. / Während die andere nicht stehen blieb / und sich nicht bückte, / sondern weiterging, / einfach weiterging, bis auch sie dann, / einen Meter / oder zwei von ihrem Zwilling, / MEINEM ZWILLING!, / entfernt ebenfalls stehen blieb / und zu ihrem gebückten Zwilling blickte. //

Anderentags / unterhielten wir uns miteinander in der Öffentlichkeit / in eurer Sprache und widersprachen dabei einander. / Wir sagten immer exakt das Gegenteil des anderen. Wenn sie „Ja!“ sagte, / sagte ich „Nein!“. Sagte ich / „Schwarz!“, / sagte ich „Weiß!“ und so fort. / Wir sahen ein: / Mit dem Gegenteil auf den Satz des Gegenübers zu reagieren, / führt zu keiner Trennung. / Im Gegenteil: / Es bindet uns nur noch fester / aneinander. //

WIR MUSSTEN GETRENNTE WEGE GEHEN. / Also vertratest du dir die Beine im Garten / und du wandeltest mit einem Eis in der Hand in den Passagen. / Wir trugen schwarze Kurzblazer / und bronzefarbene Hosen. / Beide gingen wir barfuß. / Doch sie war / hier und ich / war hier. / Das erste Mal in unser beider Leben / konnten wir uns nicht sehen. / Doch auch ihr konntet uns nicht sehen, / DAS HEISST, / ihr habt uns gesehen – / mich und / mich – aber ihr saht in uns keine Zwillinge mehr! //

„Hat sie nicht auch eine Schwester?“, / fragten sie sich, als sie / dich in der Passage trafen. / Und als sie dich dann im Garten erblickten, / fragten sie sich: / „Wie mag es ihr wohl gehen, sie, / die ganz ohne einen Bruder / und ohne eine Schwester / auszukommen hat?“

IV

Ist dieser Stich zu verwinden? / Zerreißt allein der Gedanke daran dir nicht, / mir nicht, / die Stirn? / Die Brust? / Das Herz? / Das Herz? / Der Schmerz, der dich sticht, sticht mich doppelt. / Er sticht dich und damit sticht er mich. / Und damit sticht er mich. / Er sticht mich vierfach, / achtfach, / unendliche Male. / Denn voneinander getrennt sind wir Hälften einer Kugel, / die sich vierteln, / achteln, / zu nichts auflösen. //

Ihr lebt euer Leben auf der Suche nach eurer Hälfte. / Ihr findet sie oder ihr findet sie nicht. / Wir aber wurden im Angesicht unserer Hälfte geboren. / Und noch bevor wir auf die Welt kamen, blickten wir in unseren Spiegel. / Wir wussten / und wir spürten / unseren Puls in unserem Gegenüber schlagen. / Und wir wussten / und wir spürten: / Wir werden in zwei Körpern leben / als ein Mensch. / Wer könnte uns da noch trennen! / Zwischen diese beiden Körper passt kein Lufthauch. / Und zögen auch zwei Reiterarmeen an unser beider Enden, / sie müssten sich an uns verschwenden. //

i au o, ee! / e iu, aiu u! / i au! / aiu, iu! / E E U. / E E U.

 

Olav Amende

 

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Olav Amende - Mittag. Fügnis.

Der 12-Uhr-Glockenschlag weitet sich in der Stadt. Vom Friedhof bis zur Seniorenresidenz, die der stilvoll gekleidete Gruftie-Altpunker mit Sisters of Mercy im Ohr zum Beginn seiner Schicht betritt; von der Kleingartenanlage, in der der ehemalige Vorstand die beiden fremden Spaziergänger auf sicherer Distanz hält, bis zum Wasserturm, auf dessen Gesims sich ein weißes Täubchen niederlässt und dabei von niemandem erblickt wird. Der 12-Uhr-Glockenschlag schwebt über den versteinerten Wellen des Marktplatzes und auf diesem steht heute eine Gulaschkanone in Grün. Betrieben wird die grüne Gulaschkanone von einer Rentnerin – einstige Köchin in einer Oberschule oder einem Kindergarten oder in einem VEB-Großbetrieb, der Papiersackfabrik vielleicht. Unterstützt wird sie von ihrer Enkeltochter. Gerade ist Pause. Das Mädchen übt sich im Radschlagen. Sie schlägt die Räder quer über den gesamten Marktplatz, so lange, bis ihr schwindelt und sie in Folge dessen aufs Hinterteil fällt. Da hupt ein von rechts kommendes Auto einem Kontrahenten von links hinterher und bremst nicht ab. Morgen wird das in den „Groitzsch-Pegauer Nachrichten“ nachzulesen sein, wenn es diese noch gäbe. Im Blumenladen haben sich die alten Frauen zum Schwatzen versammelt, während der Florist das Kleingeld zählt, das sie ihm in die Tasche seiner Schürze stecken und eine ihrer Freundinnen nebenan beim Metzger an der Theke zur Aufbesserung ihrer Rente Metthalbbrötchen zubereitet, sehr zur Freude zweier junger Männer. Am Rathaus klopft ein Lehrling Steine – ein Quadratmeter ergibt eine Stunde, schätzt er und blickt auf das Trassierband in zwanzig Meter Entfernung. In der Zwischenzeit ruft sein Großvater zwei durch die Anlage des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ e. V. streifenden jungen Männern entgegen: „Was gibt es hier Interessantes?“ Die Stille, die zwischen dieser Frage und der Gegenfrage: „Was gibt es für Sie Interessantes?“ klafft, ist das Echo des 12-Uhr-Glockenschlags, der Moment, in dem sich das Täubchen auf das Gesims des Wasserturms niederlässt oder sich von diesem erhebt, der Gruftie-Altpunker aus seinem Ledersakko in den weißen Kittel schlüpft, die ehemalige Großköchin den Kanoneninnenraum umrührt, ein Besucher der Groitzscher Buchhandlung hinter einer Reihe Schulpflichtlektüre ein verstecktes Buch entdeckt und das Mädchen ein Rad zu viel schlägt.

Zwei Arbeiter der Stadtreinigung sitzen in ihrem Wagen und schlürfen Erbsensuppe. Das Mädchen stellt sich an den Rand der Dreierstufen und lunzt zu den Schreibenden auf der Parkbank. Einer der beiden schaut mal hin, mal weg, mal hin, bis er endlich begreift, dass das Mädchen darauf wartet, dass er ihr zuguckt, wenn sie über die Stufen jumpt. Gut, schaut er eben wieder hin. Das Mädchen grinst, beugt sich zurück, der Lehrling erhebt den Fäustel, die Arbeiter pusten auf ihre Löffel, das Mädchen springt. Der ehemalige Vorstand des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ verschließt seinen Schuppen und murmelt, während sich das Täubchen in die Luft erhebt, der Pfleger über die Hand eines alten Mannes streicht, sich einer der beiden jungen Männer auf der Bank eine Faser Mett aus den Zähnen zieht, und das Mädchen auf dem Bauch landet. Es feixt. Die Großmutter rührt noch einmal die Kanone um.

Im Buchladen holt einer der beiden Schreibenden Prousts „Auf der Suche nach der usw.“ hervor. Die Verkäuferin tritt heran und sagt: „Ach, der. Der ist hier hängengeblieben.“ Der 12-Uhr-Glockenschlag verhallt, das Weiß der Taube löst sich ins Weiß der Wolken und die ehemalige Großköchin reicht ihrer Enkeltochter eine Schüssel mit Erbsensuppe.

 

Olav Amende

 

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freiTEXT | Olav Amende

95 Jahre: Stimmen

I

Lange hatte das Haus im Schlaf gelegen, sagt er. Lange dichtete es die Zeit nach draußen ab. Eine alte Dame kam zu uns. Sie stieg durch das Treppenhaus. Sie sprach: Es hat sich nichts verändert. Es ist dieselbe Farbe. Es ist dasselbe Holz, das meine Hand streift. Es wäre das Gefühl von damals, wäre ich noch …

Die Musikerin zieht eine Etage tiefer. An die eierschalenfarbene kahle Wand klebt sie ein Notenblatt mit dem Titel Mondschein-Walzer.

Über den Pflaumenbaum klettern Kinder auf die Garagendächer, ernten Holunder. In dem Sonntagskuchen duften Blüten.

Die Stille im Dachstuhl. Das Knarren der Treppe.

In der Badewanne schaukelt das Löschwasser. In die Badewanne, in den Eintopf rieselt das Stroh.

Im Keller bricht ein Rohr. Nun treffen sich die Nachbarn wieder. In Ketten schöpfen und reichen sie sich die Eimer von Hand zu Hand.

II

Leipzig, den 02. Juni 1923
Das Mitteldeutsche Braunkohlen-Syndikat beabsichtigt nach den in doppelter Ausfertigung beifolgenden Plänen auf dem an der Richterstraße in Leipzig-Gohlis gelegenen Flurstück Nr. 3587/3588 ein Beamtendoppelhaus zu errichten.
Wir erlauben uns dazu erläuternd folgendes zu bemerken: Das Haus soll aus Erdgeschoss, zwei Obergeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bestehen und je zwei zus. also acht Wohnungen enthalten und gänzlich unterkellert werden. Die Trennung der Wohnungen in den einzelnen Geschossen geschieht je durch zwei Leichtwände mit entsprechend ausgefülltem Zwischenraum. Es sind zwei Haustreppen aus Eiche mit unterseits verschalten und verputzten Läufern vorgesehen, die an den Eingangsseiten liegen …

Das Kind legt sich flach auf die Steine im Keller. Es presst die Hände fest an die Ohren. Eine Welle erreicht es. Eine Welle, so rot, so warm – viel zu heiß.

Das Holz der Stuhllehne quillt. Von der Diskokugel im Garten löst sich ein Paillettenstreifen. Aus einem Handtäschchen baumelt eine Perlenkette.

Der Professor trägt neue Schriften heran, legt sie auf den schwankenden Stapel.

Durch die Dachrinne drückt sich der Regen.

Der Nachbarschaftsverein GOASE präsentiert Hoppel – eine Skulptur von Matthias Garff. Es wird Kaffee und Kuchen geben!

III

Es war eine Bucht für Gestrandete wie mich, spricht er. Für Menschen, die sich aus dem Geschehen fallen ließen, um zu sich zu kommen; um zu ruhen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle …

Durch eine schmale Klappe schiebt sich eine orangene Katze.

An den Fenstern flackern Kerzen, in die Wand sickern Klänge. Jedes Haus lebt, sagt er.

Im Waschhaus kochen sie die Zuckerrüben. Ein Mädchen zieht den Löffel aus dem Zuber.

Ein Besucher des Gartenfestes zieht ein Buch aus einer Kiste.

IV

Das Knarren der Treppe. Es scheint mir dasselbe zu sein wie vor 80 Jahren. Damals setzten wir uns in den Garten, vor die Stechpalme. Jene, vor der wir auch heute stehen. Wir Kinder setzten uns vor die Pflanze und spielten Doktor. Denn die Palme stach.

Die Welle kommt. Die Welle brennt sich in den Stein. Ein Walzer verhallt.

Die Kirschen fallen. Die Birnen fallen. Die Äpfel, Zwetschgen, Pflaumen fallen.

Der Vater reißt die Tür auf. Vom Volkssturm desertiert. Das Mädchen erinnert sich an einen Verschlag in der Schräge des Daches.

Lange kratzt der Arzt am Kalk der Badewanne, dann winkt er ab. Er entfernt die Gardinenstange, stößt auf hohlen Ziegel, blickt ins Freie.

Unbekannte Arbeiter kommen, stellen ein Gerüst auf, verschwinden.

V

Dann kam der Tag der Aktivierung. Wir mussten erwachen.

Durch das Beet streichen die Hühner. Im Feuer knackt das Holz. Der Musiker legt das Kinn auf die Violine.

Am Baugerüst rankt die Erbse. Am Baugerüst rankt der Wein. Die Pappeln bilden neue Triebe. Die Kätzchen platzen. Die Samen fliegen. Wirbelnder Schnee im Sommer.

Nachts stehen brennende Kerzen in den Fenstern des Paares, das die Partei nicht außer Landes lässt.

Auf dem Balkon positioniert sich der Schauspieler.

Unter einem weißen Laken steckt ein lehmfarbenes Wesen. Die platten Füße schauen heraus. Ein Dutzend Menschen haben sich unter bunten Wimpeln im Vorgarten versammelt. Ein Kind spielt Tischtennis mit seinem Vater. Ein Bewohner des Hauses steht auf dem Zaunpfeiler, ruft Sonntagsspaziergänger herbei. Wir dürfen Ihnen präsentieren: Hoppel! Das Laken wird gelüftet; ein Widderkaninchen blickt in die Runde.

VI

Wir entrümpelten die Keller und füllten den Lkw mit Heizkörpern, Waschmaschinen, Benzinkanistern, Autobatterien, Rohren, Fahrrädern, Fernsehern, Matratzen. Wir brachen Wände auf, entfernten die Zäune.

Da platzt die Frontscheibe, da bricht das Rohr, da explodiert…

Ein Kind schwingt sich an den Wäschepfahl. Rost splittert. Der Pfahl zerknickt.

Die alte Frau schiebt den Bohnerbesen hin und her.

Der Arzt schiebt dem Arbeiter ein Päckchen Kaffee in die Manteltasche. Dieser holt die Westantenne aus seinem Barkas. Wir stellen sie unters Dach, sagt er. Das wird flimmern, aber du kannst empfangen.

In den Wintern zieht das Paar in das warme Zimmer der einstigen Magd. In den umliegenden Zimmern glänzen Eiskristalle.

VII

Im Flur hängen hundert Drucke, Zeichnungen, Aquarelle. Hundert Menschen drängen sich. Mit Pinseln streichen sie die Buchstaben auf das Plakat, stellen die Hollywoodschaukel auf die Straße.

Guter Mond, du gehst so stille …

Die Kinder zeichnen mit Kreide Gesichter auf die Platten. Durch die Ritzen des Dachbodens dringt die Flugasche. In den Gärten faulen die Zaunbretter.

Ein Arbeiter der Hausverwaltung erscheint. Er zieht einen Ziegel ins Dach, dann geht er.

Ein Mann wischt sich den Ruß aus dem Gesicht.

VIII

22. September 1939. Betrifft Luftschutzmaßnahme.
In dem uns gehörenden Doppelgrundstück, N22, Richterstraße 4-6, beabsichtigen wir einen Durchbruch der Brandgiebelmauer im Keller vornehmen zu lassen. Es soll damit eine Verbindung zwischen beiden Häusern im Alarmfalle geschaffen werden, damit ohne Gefahr eine beiderseitige Hilfe gewährleistet ist.
Wir bitten um Veranlassung und Genehmigung.

Auf den grünen Stuhl steigt die orangene Katze. Staub erglänzt. Die Katze öffnet die Klappe, verschwindet.

Die Hausgemeinschaft versammelt sich zu einem ersten Plenum.

Im Treppenhaus hallen die Stiefel. Im Treppenhaus schlägt sie den Bohnerbesen gegen die Leiste. Im Eingang klappert der Briefkasten.

Ich habe den Ochsenkopf unter das Dach gestellt, sagt der Arzt. Ich habe ihn durch den Schornstein gezogen, antwortet der Assistent.

Der Sturm tost. Das Glas des Gewächshauses flattert. Fetzen einer Folie fliegen durch die Luft, verfangen sich in den Büschen. Ein Baum kippt, eine Scheibe platzt. Hoppel wankt. Regen fließt über das schwarze glänzende Auge des Kaninchens. Die Skulptur fällt. Die Haut bricht, die Platten knacken, das Linoleum birst.

IX

Ein Chor hebt an: …

Die Musikerin streift winters durch das Gestrüpp. All these things happen in one second and last forever. Sie tanzt zur Violine am Feuer.

Die Gräser und Quecken wachsen. Aus dem Nichts erscheinen Birken, Kastanien.

Der Sturm hebt die Blätter vom Stapel, durch die Zimmer wirbeln die Schriften.

Der Putz bröckelt von den Wänden.

X

Die Stille unter dem Dach.

Dann brennen alle Häuser. Dann explodiert der Garten. Dann reißen die Bomben Krater so breit wie das Kinderzimmer, so weit wie Schlafsäle, so tief wie … Die Pappeln beben. Der Druck reißt das Geäst in die Höhe.

Das Holz der Stuhllehne reißt. Das Holz des Stuhlbeines bricht.

Ein windschiefer Schornstein. Die Hausverwaltung antwortet schriftlich: Es besteht keine Gefahr.

XI

Was wir uns wünschen, ist Gemeinschaft. Was wir wollen, ist Geborgenheit.

Leise dringen die Klänge des Walzers ins Gemäuer, während sie unten im Garten die Tafel aufbauen, zum Essen laden.

Im Wind rauschen die Pappeln. Ein Huhn pickt ein Korn. Eine Elster schiebt sich durch die Birke.

Der Schauspieler wendet sich nach links, wendet sich nach rechts. Seine Worte hallen im Garten:

Mephistoteles sich umsehend: Doch wie? – Wo sind sie hingezogen? / Unmündiges Volk, du hast mich überrascht! / Sind mit der Beute himmelwärts entflogen; / Drum haben sie an dieser Gruft genascht! / Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepatscht. / / Beim wem soll ich mich beklagen? / Wer schafft mir mein erworbenes Recht? / Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, / Du hasts verdient, es geht dir grimmig schlecht!

Sie schlagen ein Loch in die Wand, reichen die Korbmöbel aus der alten in die neue Wohnung; dann mauern sie die Wand zu.

XII

Vier Menschen machen sich im Garten an alten Paletten zu schaffen. Sie hebelt mit einer Zinkenhacke die Leisten ab; er klopft die Klötzer von den Brettern – die Klötzer landen in der Feuerschale. Ein Dritter zieht die Nägel aus den Brettern. Im Hintergrund sägt der Vierte. Sein Sohn spaziert zwischen den Tomatenpflanzen. Eine Schaufensterpuppe mit elfenbeinweißer Haut und kahlem Haupt sitzt im mohnroten Kleid auf dem Gerüst und hält ihnen eine Perlenkette entgegen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle, / Daß ich ohne Ruhe bin!

Sie schaufeln den Phosphorbrei in die Eimer. Die Kinder tragen den brennenden Schutt aus den Häusern. Mit Wasser, Sand, Erde löschen sie die Flammen ab.

Eine alte Frau holt Post aus dem Briefkasten. Jeden Tag öffnet sie ihn, zur selben Stunde.

Vom Blech der Eimer tropft das Wasser auf die Dielen. Die Frauen nehmen die verstaubte Wäsche vom Dachboden, hängen sie in die Flure.

XIII

Das Haus schläft. In seinem Schoß ruhen die Kinderträume. Da kehrt der Vater mit Bonbons fürs Töchterchen nach Hause. Da packt ein Paar seine Koffer. Da gesellt sich eine alte Dame mit Postkarten zu ihrem Gatten. Bedächtig schleichen die Seelen durch die Räume. An den Fenstern verlöschen die Kerzen.

 

Olav Amende

 

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