freiTEXT | Peter Zemla

Der Schrank

Entschuldigen Sie, dass ich flüstere. Aber sie ist gerade an meiner Schulter eingeschlafen. Sie atmet so gleichmäßig und tief, dass ich sicher auf Ihr Verständnis zählen kann, wenn ich diesen Zustand nicht unnötig gefährde. Zwangsläufig dringt meine Stimme durch die geschlossene Schranktür nur gedämpft nach außen. Wenn ich, was ich zu sagen habe, nun auch noch in reduzierter Lautstärke vorbringe, muss das für Ihre Aufnahmebereitschaft eine besondere Anstrengung bedeuten. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie eine solche Anstrengung auf sich nehmen. Nicht jeder würde für einen in den Schrank Zurückgezogenen solches tun. Es wäre nur allzu verständlich, wenn der draußen Stehende, der sein Ohr gegen die Schranktür presst, abwinkt und dann eben nicht sagt und davongeht. Sie gehören nicht zu diesem Schlag Mensch. Sie haben Verständnis.

Was mich zu dieser Annahme veranlasst, mögen Sie sich fragen. Ich weiß, dass Sie wissen, dass ich das Schlüsselloch in der Schranktür mit einem Papiertaschentuch ausgestopft habe. Ich kann Sie nicht sehen, nicht einmal Fragmente von Ihnen. Wie also soll ich jemanden einschätzen, den ich noch nie gesehen habe? Ich versichere Ihnen, dass es weitaus verlässlichere Beurteilungskriterien gibt als die vom Augensinn gelieferten Daten.

Möglicherweise ist das ein Grund, warum ich mich in den Schrank zurückgezogen habe. Möglicherweise habe ich geahnt, mehr intuitiv gespürt als gewusst jedenfalls, als ich in den Schrank hineingegangen bin, als ich mich dem Schrank anvertraut habe, dass im Schrank andere Voraussetzungen herrschen als außerhalb des Schrankes. Dass, was ich im Schrank vorfinden werde, mir gemäß sein wird. Dass ich gewissermaßen aufleben kann im Schrank, was mir außerhalb des Schrankes nicht möglich gewesen ist.

Und dabei, das möchte ich betonen, habe ich nicht ansatzweise daran gedacht, als ich mich entschlossen habe, in den Schrank zu gehen, im Schrank jemanden vorzufinden. Wenn man sich entscheidet, in den Schrank zu gehen, damit Sie mich richtig verstehen: nicht den Schrank zu öffnen und etwas im Schrank Verwahrtes herauszuholen, sondern sich selbst im Schrank zu verwahren, rechnet man nicht mit dergleichen. Zum einen ist man mit der eigenen Entscheidung, einer weitreichenden, wie Sie sich vorstellen können, vollumfänglich beschäftigt. Zum anderen ist es ja schon abwegig genug, sich selbst in den Schrank zu begeben, wie abwegig erscheint es da erst, dass bereits vor einem jemand diesen Schritt getan haben soll. Das will einem nicht in den Kopf. Und weil es nicht Inhalt des Kopfes gewesen ist, dieser Gedanke ein gänzlich ungedachter gewesen ist, verstehen Sie, hat er zwangsläufig keinerlei Rolle gespielt.

Wichtig ist einzig die Abschätzung gewesen, ob es zu wagen sei, ob ich es mir zutrauen darf, in den Schrank zu gehen. Natürlich habe ich mir gesagt, du kannst es versuchsweise wagen. Du kannst in den Schrank gehen, dort verbleiben und dann den Schrank wieder verlassen. Du kannst, wer sollte dich daran hindern, habe ich mir gesagt, so naiv bin ich gewesen, Urlaub im Schrank machen und, wenn der Urlaub beendet ist, zurückkehren in die Gewöhnlichkeit. Das Risiko ist ein überschaubares, habe ich mir gesagt. Es wäre folglich nur leichtes Gepäck vonnöten, habe ich mir gesagt. Noch andere Dinge habe ich mir gesagt, Beruhigendes, den Puls und den Strudel im Hirn gleichermaßen Bändigendes.

Doch als ich dann hineingegangen bin, als ich die Schranktür hinter mir zugezogen habe, ist mir unverzüglich klar gewesen, dass ich dergleichen nicht gebraucht hätte. Alle Versicherungen und Absicherungen sind unnötig gewesen. Im Schrank, als ich mich an die Rückwand gekauert habe, als ich zwischen den Wintermänteln und unter den Herbst- und Winterjacken mich niedergelassen habe, die Schals und Mützen und Handschuhe beiseite geschoben habe und es mir zwischen all der für die kälteren Jahreszeiten weggeräumten Garderobe bequem gemacht habe, hat Frieden geherrscht. Ruhe hat geherrscht, eine allgemeine, vielleicht von den Mänteln und Jacken und Mützen ausgehende Dämpfung. Eine Ruhe, wie ich sie mir im Vorfeld meines Rückzuges in einer ungefähren und abstrakten Ausformung vorgestellt und ausgemalt und unter Umständen sogar ersehnt, wie ich sie aber tatsächlich vorzufinden nicht zu hoffen gewagt habe.

Die Chance, eine Ruhe, etwas in diese Richtung Tendierendes, im Kellerschrank zu finden, sollte höher sein, habe ich gedacht, als im Schlafzimmerschrank. Ginge ich in den Schlafzimmerschrank, müsste ich damit rechnen, dass meine Frau jederzeit die Tür des Schlafzimmerschrankes aufreißt, nicht um mich zu suchen, aber um etwas aus dem Schlafzimmerschrank zu holen, ein Handtuch, ein T-Shirt, eine Hose, und vorbei wäre es mit der Ruhe, habe ich gedacht. Nein: Ich habe das nicht gedacht, all das habe ich nicht wirklich gedacht. Ich habe nicht so weit gedacht, aber unbewusst habe ich dergleichen wohl erwogen. Weshalb ich mich für den Kellerschrank entschieden habe, als es soweit gewesen ist, in den Schrank zu gehen.

Als ich drin gesessen bin, nach zwei, drei Minuten bereits, habe ich gewusst, dass diese Wahl die richtige gewesen ist. Überhaupt habe ich mit einem Mal gewusst, dass alles das Richtige ist. Obwohl zugegebenermaßen nicht die beste Luft herrscht im Schrank, habe ich aufgeatmet. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das getan. Ich habe gewissermaßen die Ruhe eingesaugt in meine Lungen und bin selbst ganz ruhig geworden. Eine Zeitlang habe ich noch an der Schranktür gehorcht. Ich habe geglaubt, entfernt Schritte zu hören, die tapsigen Schritte meiner Frau, die polternden Schritte meiner Tochter. Ganz weit entfernt habe ich geglaubt, jemanden, meine Frau, meine Tochter, eine von beiden, etwas rufen zu hören, was ich aber nicht habe verstehen können. Wahrscheinlich hat es sich um eine Bagatelle gehandelt, um eine Zwecklosigkeit, um ein Rufen, das nur um des Rufens willen gerufen wird. Bald schon habe ich nicht mehr gehorcht. Selbst wenn jemand, meine Frau, meine Tochter, noch gerufen hätte, hätte ich es nicht mehr gehört.

Spätestens nach meinem ersten Tag im Schrank habe ich nichts mehr gehört, was außerhalb des Schrankes vor sich gegangen ist. Irgendwann habe ich mir eingebildet, die Haustür zu hören, den Schlüssel sich drehen zu hören im Haustürschloss, was aber eine akustische Unmöglichkeit ist. Alles, was von außen hereindringen könnte zu mir, wird durch die im Schrank herrschende Leere atomisiert, verströmt in der Leere. Man könnte sagen: Es wird nichtig. Denn so paradox es auch klingen mag: Obwohl der Schrank mit Mänteln und Jacken, mit Mützen und Schals gefüllt ist, herrscht in ihm eine Leere, die ich zuvor nicht für möglich gehalten hätte und die als eine vollkommene bezeichnet zu werden verdient. Nach drei, vier Tagen im Schrank ist mir klar geworden, dass seine vollkommene Leere das Besondere des Schrankes ausmacht. Die vollkommene Leere ist es, die den Schrank wertvoll werden lässt. Wenn ich etwas herauspule aus meiner Nase, meinen Ohren, etwas aus den Winkeln meiner Augen herausschabe, ich weiß nicht was, etwas eben, dann hört es, unmittelbar nachdem ich es aus mir herausgepult habe, auf, etwas zu sein. Alles im Schrank hört auf, etwas zu sein. Wie tröstlich diese Erkenntnis gewesen ist, immer noch ist, kann ich Ihnen gar nicht sagen.

Umso überraschter bin ich gewesen, einen Moment lang bin ich natürlich zuerst erschrocken gewesen, dann überrascht, als ich eine Hand nach mir greifen gefühlt habe. Dass es sich nicht um eine von meinen gehandelt hat, ist für mich außer Frage gestanden. Aber wer hat sich außer mir noch im Schrank befunden? Ist es überhaupt möglich, habe ich mich gefragt, dass die Leere des Schrankes, jemanden, der nicht ich bin, zulässt? Ich habe dieser Frage nicht auf den Grund gehen können, denn die Hand, eine zarte, eine schmeichelnde Hand, hat mir über die Brauen, durchs Haar gestrichen, ist die Konturen meines Gesichts nachgefahren. Ich hätte Ich muss doch bitten sagen können. Schluss damit hätte ich sagen können. Ich hätte die Hand packen und von mir weisen können als etwas Widriges, dem Inneren des Schrankes Zuwiderlaufendes und Zuwiderhandelndes, aber ich bin dazu nicht in der Lage gewesen. Die Hand hat mir etwas in den Mund gesteckt, einen Drops mit Himbeergeschmack. Vielleicht hat sie ihn in einer der Mantel- oder Jackentaschen gefunden, vielleicht ist er darin vom Besuch des Weihnachtsmarktes übrig geblieben. Wie dem auch sei: Der Drops hat, ich gebe es zu, herrlich geschmeckt.

Natürlich ist die Hand nicht nur Hand allein gewesen. Natürlich hat, was einen Körper darüber hinaus ausmacht, zur Hand gehört, wie ich, im gleichen Maße wie die Hand mich tastend erkundet hat, tastend erkundet habe. Am Ende unserer Erkundungen haben wir uns umschlungen gehalten. Ich hätte fragen können, wie lange sie, es handelt sich, ich muss das nicht weiter erläutern, um eine sie, bereits im Schrank hockt, was sie bewegt hat, in den Schrank zu gehen, ob sie die Bedingungslosigkeit des Schrankes in der gleichen Weise wie ich empfindet. Aber das ist überhaupt nicht nötig gewesen. Alles, was gesagt werden kann, ist hinfällig geworden, verstehen Sie? Alles jemals Gesagte, alles, was zu sagen sich noch aufdrängen könnte, ist im Schrank nicht länger von Belang.

Hallo? Hören Sie mich?

 

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Peter Zemla

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freiVERS | Lucia Baierl

8-Uhr Bus

Ein Bus gefüllt mit leeren Menschen fährt eine graue Straße hinab in eine bunte Welt
Die Dunkelheit von außen leuchtet innen im blau und gelb der Wolken hell
Schlafende Augen sind auf nichts gerichtet, das monotone Schweigen ist zu laut für ein Gespräch
Bewegt sich einer wird es übersehen,
kaum registriert, wenn einer fällt.

Kein Armbanduhrenticken weckt die Menschen, die müden Zeiger drehen sich nicht
die Zeit hat sie noch nicht eingeholt
sie wartet draußen vor dem Fenster.

Die Straße wird jetzt schmaler, die Türen springen auf und die Welt springt in den Bus
Sie schnappt sich Zwei oder Drei und frisst sie auf
dann schreit sie einmal laut durch die Lippen eines Motors oder einer Fahrradklingel,
dann sperrt der Bus sie wieder aus
die müden Augen zucken kaum.

Doch die Zeit hat sich hineingeschlichen und gelb besiegt das blau
und einer nach dem anderen flimmern die Menschen auf wie kleine Glühlampen
Denn die Straße ist zu Ende und der Bus verstirbt gemeinsam mit dem ersten Ticken der Zeit.
Er spuckt die Menschen auf die Straße und verblasst im Meer aus leeren Hüllen
Denn die Welt schreit hier noch immer und trübe Augen sind geblendet von grellen Farben

Sie blinzeln zweimal oder drei,
dann fangen sie an, sich zu bewegen,
während das grau von ihren Schultern tropft
wie Wachs von einer Kerze.

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Mosaik

Ich trage den Pullover meines Vaters
und denke, er weiß nicht, wer ich bin.
Er weiß nicht, dass ich in den Pullover passe
und dass ich weiß, wie man ihn richtig wäscht,
ohne dass die Wolle steif wird und anfängt zu kratzen.

Ich trage die Ohrringe meiner Mutter
und denke, sie weiß nicht, dass ich jetzt blond bin
und keine Angst mehr im Dunkeln habe
und dass ich mit ihrem Auto das Fahren gelernt habe.

Ich hänge ihr Portrait an meine Wand
und denke, ich weiß nicht mehr, wer sie ist
damals war sie Mama
Ich weiß, wie ihre Halsbeuge klingt,
und wie ihre Stimme quietscht
wenn sie Musicals singt

Heute ist sie meine Mutter
ich habe ihre Nase geerbt und ihre Pflanzen
ich fotografiere sie mit der Kamera meines Vaters
stelle das Bild auf seinen Schreibtisch
und denke, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

 

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Lucia Baierl

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freiTEXT | Martin Brandstätter

Tims Rückgrat

Tom und ich waren beste Freunde. Wir hatten einfach so viel gemeinsam. Wir liebten beide Star Wars, The Rolling Stones – vor allem Gimme Shelter – und wir gingen gerne raus ins Freie. Draußen kann man so zwanglos miteinander reden; man kann die Umgebung wahrnehmen und genießen und unsere Schrittgeschwindigkeit war aus irgendeinem Grund immer im Einklang und genau richtig. Es war einfach perfekt. Auf solchen Runden redeten wir allerdings nicht nur über schöne Sachen, sondern auch über traurige.

Tom und ich lernten uns kennen, als wir beide circa 6 Jahre alt waren; er lief aufgebracht aus seinem Haus – das Haus seines Vaters – und da rannte er einfach in mich hinein. Die Wucht, mit der er mich rammte, war so groß, dass ich sie paradoxerweise nicht spürte. Nach einer kleinen Schnupperstunde hatten wir das Gefühl, dass wir uns öfter sehen mussten. Wir verstan-den uns irgendwie auf Anhieb und das lag nicht nur daran, dass wir beide jeweils ein Star Wars T-Shirt anhatten – bei ihm war Han Solo drauf und ich hatte Chewy. Und so schlossen wir einen stillen Vertrag miteinander ab; jedes Mal, wenn es ihm schlecht ging, konnte er zu mir kommen und wir würden entweder spielen, reden, spazieren gehen oder alles auf einmal tun.

Tom wohnte in einem kleinen Städtchen, dessen größte Attraktion eine kleine Brücke über einem Bahngleis war, denn sonst gab es nur Traktoren und Trägheit in dem Ort. Die Brücke war immer unser Spot zum Zurückziehen, wenn er gerade nicht zu Hause bei seinen Eltern sein wollte. Seine Mutter war eine einfache Hausfrau und sein Vater arbeitete hart als Maurer in einer ortsansässigen Baufirma. In den zehn Jahren, die ich Tom jetzt schon kenne, merkte man, wie sich der Rücken seines Vaters verformte und seine Gedanken abstumpften. Umso mehr musste sich seine Mutter bemühen, die Familie auf ihren Schultern zu tragen.

Toms häufigstes Gesprächsthema – neben Star Wars und den Rolling Stones – war sein Vater. Er muss ein sehr strenger Mensch gewesen sein, aber Tom fand immer Entschuldigungen für das Verhalten seines Vaters. »Alles hat irgendwie einen Grund«, sagte er meistens, um eine Rechtfertigung zu geben. Ich versuchte immer ihn davon zu überzeugen, dass das Verhalten seines Vaters nicht in Ordnung sei, aber er antwortete immer darauf: »Du hast ihn noch nie getroffen; du kennst ihn gar nicht!«

Tom hatte recht. Ich kannte ihn wirklich nicht, aber trotzdem machte es die Verhaltensweise des Erwachsenen nicht besser. Es war für mich unverzeihlich. Manchmal wenn wir uns in solche Streitereien hineinsteigerten, standen wir einfach stillschweigend auf der Brücke und beobachteten die Züge, die unter uns hindurch fuhren. Er schaute den Zügen mit einer gewissen Faszination, die ich nicht immer teilen konnte, hinterher, aber ich tat trotzdem so als würde ich die selbe Bewunderung haben wie er, da er ja mein Freund war.

Tom und ich gingen an einem sonnigen Sonntag eine kleine Runde durch die Landschaft. Nach-dem er aus dem Haus seines Vaters gestürmt war, konnte ich nicht nein sagen zu ihm. Irgendwie verhielt er sich aber anders als sonst. Er wollte nicht wirklich reden; er starrte nur zu Boden. Als wir auf der Brücke ankamen, fragte ich, was los sei, aber er schloss nur die Augen und verharrte so eine lange Zeit. Ich war derweil etwas hilflos, da ich ihn noch nie so erlebt hatte und ich nicht wusste, was los war.

Tom entschloss sich irgendwann seine Augen zu öffnen und er zog sein Hemd hoch und drehte sich mit dem Rücken zu mir. Eine große, längliche Wunde zog sich quer über seinen Rücken. Sie war noch ziemlich frisch. Ich war sprachlos und er sagte nur: »Mama hat auch eine.«

Tom und ich hörten den 12Uhr-Zug näher kommen. Tom setzte sich auf die steinerne Brüstung und ich sagte nur: »Pass bloß auf. Du könntest fallen.« Und er antwortete darauf: »Alles hat irgendwie einen Grund.« Als ich diese Worte hörte, packte mich ein seltsames Verlangen. Ich spürte, wie ich jegliche Kontrolle über meinen Körper verlor. Der Zug kam näher. Ich näherte mich Tom. Der Zug kam näher. Ich stand hinter Tom. Der Zug kam näher. Ich fasste Toms Wunde an. Der Zug kam näher. Ich schubste Tom.

Tom wurde vom Zug erfasst. Langsam kehrte mein Wille über meinen Körper wieder zurück, doch ich spürte mein Rückgrat brennen. Und die Sonne schien, als wäre nichts passiert und ich stand da und hörte den Zug nicht mehr. Ich wurde zum Mörder. Ich hatte doch keinerlei Grund ihn zu töten. Ich musste ein Psychopath sein. Ich musste mich stellen; ich darf nicht frei auf der Straße herumlaufen. Einen langen Sprint legte ich hin, um die Polizeistation des Städtchens so schnell wie möglich zu erreichen. Ich musste mich einfach stellen; es gab keinen anderen Aus-weg.

Als ich dort ankam, suchte ich den erstbesten Polizeibeamten um meine Tat zu gestehen. Dieser stand vor einem Getränkeautomaten und ich schrie ihn von der Seite an: »Ich habe meinen Freund ermordet; Sie müssen mich festnehmen; ich hatte keinen Grund das zu tun; vielleicht bin ich krank oder so; helfen Sie mir verdammt nochmal! Ich muss bestraft werden! Hören Sie mir überhaupt zu!?«

Der Beamte schmiss sein Geld in den Automaten, wählte ein Getränk, wartete auf das Getränk, nahm das Getränk, trank etwas von dem Getränk und drehte mir den Rücken zu, ohne mir auch nur eine Sekunde seiner Zeit zu schenken. Mir fiel auf, dass gar keiner mich beachtete, obwohl vier Leute in diesem Gang standen. Ich verstand nicht, was vor sich ging. Dann sah ich einen Polizisten aus einem Zimmer kommen, der an mir vorbeiging und eine Tür direkt neben mir öffnete und sagte: »Walter, wir haben schon wieder einen Springer. Mittlerweile der fünfte in diesem Jahr. Komm, wir müssen rausfahren!«

Die beiden Beamten verließen das Zimmer und gingen an mir vorbei und aus der Polizeistation hinaus. Keiner von beiden hatte mich mit einem Blick gewürdigt, noch hatte mich irgendwer gehört.

Jeder kehrte dieser Stadt den Rücken zu. Und anscheinend taten das alle auch mit mir.

Und erst da realisierte ich, dass ich nicht echt war.

Ich hatte keinen wirklichen Körper.

Ich war nur Toms Freund. Meine Existenz war an seine gebunden, aber trotzdem lebte ich weiter. Und jetzt verstand ich auch, warum wir uns damals getroffen hatten.

Tom ist tot und Tim muss damit leben.

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Martin Brandstätter

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POEDU Spezial | Krieg und Frieden

K rone des Konflikts
R egen des Todes Tricks
I n den Tränen ertrunken
E hre versunken und durch die Angst gebunden
G efahr und Schaden stehen immer nah

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U nter diesem ganzen Mist
N ur um zu sehen was hinter allem ist
D urch die Vorhänge damit man das Gute erblickt

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F rohe und schöne Tage
R uhe mit vielen schönen Sagen
I n diesen schönen, heilenden Tagen
E in Gesang mit Tanz dabei
D ies ist immer frei
E ine Sonne steht am Himmel
N ur Wärme gibt es zu dieser Zeit

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Ariana

(15 Jahre alt)

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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe diesmal kam von Christoph Wenzel und aus der POEDUwerkstatt in Deutsche Internationale Schule Dubai:

Stell dir vor, du müsstest anderen dein Zimmer, einen Lieblingsort etc. beschreiben, dürftest dafür aber nur einen Gegenstand, eine Farbe, ein Geräusch usw. benutzen: „Wenn mein Zimmer ein Geräusch wäre…“. Fasse die gefundenen Beschreibungen dann noch etwas genauer: „Mein Zimmer ist eine Blume, die das ganze Jahr blüht“. Und dann verschiebst die beiden Halbsätze je um einen nach unten.

 

>> Alle POEDU Texte des Monats

>> POEDU - das Buch

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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freiTEXT | Stephanie Mehnert

Die Klinge zu sein, und auch die Wunde

Ich will einen Kokon aus Spinnenseide.

Diesen Satz schreibe ich auf meinen Block und als ich den Punkt setze, bricht die Bleistiftmine. Mein Blick fällt auf den kleinen Bilderrahmen, den du aufs Regal gestellt hast, als du eingezogen bist.

How you love yourself is how you teach others to love you.

Aus dem Nebenzimmer höre ich dich leise summen, während du packst. Eigentlich ist es mehr ein Zwitschern, als wärst du ein Vogel, der aus dem Käfig entkommen ist. Einer von diesen Wellensittichen, die immer Butschi heißen und in Wassergläsern ertrinken können.

Mein Daumen bearbeitet das Ende des Druckbleistifts, tack, tack, tack, bis sich endlich die Mine aus dem vorderen Ende herausschiebt. Scharf und dunkel kratzt sie Wörter aufs Papier:

Ich bin ein leeres Gefäß. Man kann mich befüllen, dann bin ich glücklich bis zum Überfließen, und das macht mir Angst.

Vielleicht liegt hier das Problem, denke ich, während ich deinem albernen Gezirpe lausche und dem Geraschel deiner Händekrallen. Es mögen auch deine Flügelspitzen sein, die am Schrankholz hängen bleiben. Butschi, denke ich verächtlich.

Es ist seltsam, das Universum hinter meiner Stirn. Manchmal denke ich, da ist gar kein Körper an meinen Schädel angewachsen, bloß eine Art Maschine, die alles am Laufen hält. Und dann bestehe ich wieder nur aus Gefühlen, die mich wie Flutwellen vor sich herschieben. Wie soll man es mit so jemandem aushalten?

In meiner Welt gibt es keine Farben. Alles ist schwarz oder weiß, gut oder schlecht. In mir drinnen wäre Raum für einen ganzen Regenbogen, so viel freie Fläche. Wie eine Leinwand, die mit den Jahren immer staubiger wird, mottenzerfressen und gelb, weil niemand kommt, um sie zu bemalen.

Du klackerst im Badezimmer herum, und ich stelle mir vor, wie es da aussehen wird, wenn du weg bist. Denke an die Kreise im Staub auf der gläsernen Ablage, die mich so lange an dein Fehlen erinnern werden, bis ich mich dazu durchringen kann, sie fortzuwischen. Rasierer, Langhaarschneider, Nasenhaarschere, Männerduschgel, Barthaare im Waschbecken und nie wieder den Klodeckel herunterklappen müssen.

»Soll ich dir von meinem Küchenzeug noch was dalassen?«

Du kommst lächelnd zu mir geschlendert, als hättest du gerade gefragt, was ich zu Abend essen möchte. Wie ein Wellensittich siehst du nicht gerade aus, eher wie ein borstiger, fetter Eber. Du solltest sowieso nicht so viel fressen. Hauptsache du nimmst diesen verfluchten Wecker mit, dessen unermüdliches Ticken einem die Stunden aus dem Fleisch hobelt. Vielleicht hätte ich ihn an deiner Stelle rauswerfen sollen.

»Ne«, sage ich. »Nimm alles mit.«

Spinnenfäden sind das festeste Gewebe der Welt. Bezogen auf ihre Masse sind sie viermal so belastbar wie Stahl. Ich bin überhaupt nicht belastbar, deshalb brauche ich den Kokon, eine antibiotische Wohnhöhle. Vielleicht mische ich der Seide Pheromone zu, um den nächsten Mann anzulocken. Und dann mache ich, dass er mich liebt. Wie oft kann ein Mensch eigentlich verlassen werden, bevor er zerbricht?

Ich betrachte die feinen Narbenlinien auf meinen Unterarmen, sie überlappen sich, Mikadostäbchen im Sturm. In der Küche ziehst du ein Messer aus dem Holzblock, und das Geräusch, das die Klinge beim Darüberstreichen macht, lässt alle Härchen auf meiner Haut strammstehen. Ich spüre, wie der Druck steigt.

Manche Spinnenweibchen fressen ihre Partner, schreibe ich. Man nennt es sexuellen Kannibalismus. Meine Mutter, ich denke, die war so eine. Vielleicht auch eine Gottesanbeterin, so fromm, wie sie immer getan hat.

Ihre Männchen waren allesamt kleiner als sie, nicht körperlich, aber im Geiste.

Der Biss meiner Mutter bestand aus giftigem Spott, den sie präzise und absolut unvorhersehbar injizierte. Sie traf immer genau, den wunden Punkt.

Manche Männer hat das sehr zornig gemacht. Einmal trat einer meinen Puppenwagen durch den Raum, und ich weiß noch, wie er auf meine Hand stieg, als ich den Stoffbären aufheben wollte, der darin gelegen hatte.

Es gab auch andere Exemplare. Einer leckte gern über meine Hände, die Arme hinauf. Wenn er mein Zimmer verließ, nachdem er mich ausgehöhlt und mit seinem Bieratem angehaucht hatte, war mein Gesicht klebrig von seiner Zunge. Er war der Erste, die, die folgten, waren noch schlimmer.

Damals hatte ich mir vorgestellt, dass irgendwo ein Vater nichts davon ahnte, was zwischen den Schenkeln seiner Tochter vor sich ging. Ich stellte mir vor, mein Vater wäre wie Käpt‘n Iglo: Immer auf den Weltmeeren unterwegs, in jedem Hafen eine Frau, und keine Ahnung von meiner Existenz. Manchmal frage ich mich, ob diese Typen sich alles geholt haben, was einmal in mir gelebt haben muss, oder, ob ich schon immer so war.

Eine Spinne balanciert in ihrem Netz wie eine Seiltänzerin. Von Balance verstehe ich nichts, ich schätze, dafür braucht man so etwas wie ein Gespür für die Mitte, aber ich lebe in Extremen. Einmal habe ich ein Bild von Spinnennetzen gesehen, deren Erbauerinnen die NASA unter Drogen gesetzt hatte. Irgendwie hat mich das getröstet, dass die Spinnen auch nichts auf die Reihe bekommen, wenn sie high sind.

Den Bleistift lege ich weg und unterdrücke das drängende Verlangen, mir wehzutun. Ich kneife mir in die Ellenbeuge, so fest ich kann, dann mache ich ein Selfie mit dem Smartphone, wie jeden Tag um diese Zeit. Poste es bei instagram, #egoshooter. Denke an meine Mutter, denke an die Urne, die irgendwo auf dieser Wiese verscharrt liegt und bei der ich niemals Blumen ablegen würde. Frage mich, warum ich dennoch immer wieder hingehe, mit nichts als Fragen im Kopf. Frage mich, wozu ich an diesem Text schreibe, den ich doch nie jemandem zeigen werde. Frage mich, wie ich je so etwas wie eine Beziehung hinbekommen soll, wenn ich diesen Teil von mir unter Verschluss halte, während all das Unaussprechliche langsam vor sich hin fermentiert. Da wächst kein Gras drüber, niemals, das ist schlimmer als Tschernobyl. Aber ich strahle, und das kann ich gut. So gut, dass es jedes Mal ein Schock ist, wenn die Wahrheit hervorbricht und ich erkenne, dass ich doch wie sie geworden bin. Als wäre sie in mich gefahren, nach ihrem Tod, wie ein übermächtiger Dämon, und ich selbst bin der hilflose Exorzist.

»Um halb acht kommt Adam und holt mich ab.«

Du lässt dich neben mir aufs Sofa sinken. Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät. Wenn du jetzt deinen Arm um mich legen und mir sagen würdest, dass du ohne mich nicht leben kannst, würde ich dich nicht wegstoßen, diesmal nicht, ich schwöre.

»Okay«, sage ich leise.

»Wirklich alles okay?«

»Ja, klar. Hast du alles?«

»Glaub schon. Ruf an, wenn was ist, ja?«

Du legst eine Hand auf mein Knie, wo sie mir ein Loch in die Haut sengt.

Auf dem Fensterbrett tickt höhnisch der Reisewecker, eine Fliege zieht ihre Kreise, setzt sich auf deiner Hand ab, die auf meinem Bein brennt, erhebt sich erneut, kreist weiter, klatscht gegen die Fensterscheibe, einmal, zweimal.

»Ja«, sage ich.

Du nimmst die Hand weg und starrst auf den Boden. Tick, tick, tick. Der Wecker steht noch immer da, stört mich, dich stört er nicht. Sobald du weg bist, werfe ich das verdammte Ding auf die Straße!

Gestern lag eine tote Amsel unten. Irgendein Raubtier hatte ihr die Schädeldecke aufgebissen, eine Katze vielleicht, oder einfach nur eine Ratte. Ich hockte mich neben sie und zog die Flügel weit auseinander. Wie ordentlich die Federn da gespreizt in Reih und Glied schimmerten, als wäre nichts geschehen. Meine Wunden liegen auch alle innen. Von außen sieht man nichts, mein Gefieder besteht aus klugen Worten und einem niedrigen BMI. Innere Leere geht gut als Tiefe durch, ich liebe schnell und intensiv. Der Schaden ist anfangs unsichtbar.

Es klingelt. Du gehst hin. Adam kommt herein und hebt die Hand zum Gruß in meine Richtung. Er schlägt dir auf die Schulter, dass deine Speckbrust wabbelt, Digger nennt er dich, was ich immer noch absolut passend finde.

Du schulterst die Taschen und schnaufst, als befände sich darin ein ganzes Leben.

»Mach‘s gut«, sagst du leise.

»Ja, mach‘s besser«, sage ich.

Die Tür fällt hinter dir ins Schloss und es ist still.

Das Loch in meinem Brustkorb expandiert, ich bin ein Ballon oder eine Supernova. Ich stürze zum Fenster, greife den verfluchten Wecker, reiße am Fenstergriff und schleudere das tickende Ding in hohem Bogen auf die Straße, wo es auf dem Dach eines parkenden Autos eine Delle hinterlässt, bevor es in seine Einzelteile zerspringt. Und dann schreie ich. Ich schreie allen Schmerz hinaus, allen Stolz und alle Einsamkeit. Ich schreie und schreie, während mir Tränen über die Wangen laufen und sich zu einem See auf dem Fensterbrett sammeln, als flösse das Leben salzig aus mir hinaus. Die Welt ist längst verschwommen, ein einziges Grau in Grau. Für einen Moment sehe ich mich da unten liegen, die Arme weit gespreizt, meine Bluse ein Farbklecks auf dem Asphalt. Ob du wohl die Amsel in mir sähest, frage ich mich. Eine kleine, schwarze Feder schwebt hinein, ein Boot im Tränenmeer.

Aus weiter Ferne höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen, aber ich verstehe nicht. Und dann spüre ich es: Dein warmer Bauch stärkt meinen Rücken und deine Flügelarme sind mein Zelt.

»Ich bin da«, sagst du nur.

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Stephanie Mehnert

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freiVERS | Emma Joerges

[denn meine schlaflosigkeit war wieder da und ich war in der stimmung etwas schönes zu zerstören]

„alles strebt zum chaos“, sagst du
und ich will dir nicht glauben
„das ist physik“, sagst du, „das nennt man entropie“
und siehst einer wespe beim ertrinken zu
niedlich
„es ist nur eine frage der zeit dass“, sagst du
und malst eine regenbogenflagge auf dein nazi outfit
„das bist du auf deinem tshirt mit deinem tshirt“, sage ich
„sich der jupiter verflüchtigt wie parfumduft im badezimmer“, sagst du
„und wir werden über scherben laufen aber nie fakire sein“
wenn ich dich nach deiner schmerzgrenze frage sagst du 2 bis 3
ohne zu wissen dass das die splitter an meinem wunden horizont sind
und akribisch bestücke ich meine fingerkuppen mit der pinzette
bis mein daumen einem igel gleicht
„mal mir einen wal“, sage ich, aber du willst nicht, „auch keinen gestrandeten?“
„wenn ich 100 C bin und du 20 C, sind wir beide bald 60 C“, sagst du und meinst
schon eher so ne 6
„das nennt man höhere entropie“, sagst du
und mein wal wirft sich an dein sandiges ufer.

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Emma Joerges

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freiVERS | Sasha Petruk

LEICHTE NACHT

Leicht ist die Nacht
die geselchte die
ausgehangen ist
in Tüchern
auf Betten
verhungert
verstellt
hat sich nur
wer die Not
an den Mann
gebracht

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Sasha Petruk

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freiTEXT | Katharina Aigner

#7Leben

Im 7. aufgewachsen. Im 7. derzeit befindlich. Im 7. hab ich vor zu sterben.
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Die letzte ra(s)tlose Hoffnung - mein infantiles Orakel. Befindlich an jener Kreuzung, an der sich Jenny Steiner und Hermann zum ersten Mal unter dem Ahorn, auf dem eine Seidenraupe ein Mittagsschläfchen hielt, geküsst haben. Dort klebt diese bösartig-grimassierte Säuglingstotenmaske unscheinbar an der Hausmauer und starrt mit seinen klitzekleinen, leeren Augen auf mich herab. Leise flüstert es. Immer das, was ich hören will.
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Ausgelassen „Dracula Rock“ singend - die peinigenden Volksschulstunden überlebt - hüpfen Bettina und ich die Burggasse entlang nach Hause. Fast überfährt uns ein Auto, zu vertieft sind wir in eine hochliterarische Spekulation über das „Phantom der Schule“ von T. Brezina. Der Sokratische Dialog wird pausiert, um uns beim Lollipop mit rosanen Beverly Hills Kaugummis (da sind Sticker drinnen von Donna, Dillan, Brenda, usw.), Kaugummi- und Colaschleckern, sowie einem bunten Gummigetierzoo einzudecken. Im Anschluss folgt eine diskursive Charakter-Gegenüberstellung der weiblichen Mitglieder der Knickerbocker Bande: Also wer ist cooler? Lilo oder Poppi?
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Angeciderd landen wir in der herzlichen Spelunke Zipp in der Burggasse. Einsame Seelen und AlternativstudentInnen sorgen für mehlige Melancholie und heilige Heimeligkeit. Spärlich beleuchtet von Musik aus meiner Teenagedirtbag-Zeit. Gerade Halt auf den Barhockern gefunden, fallen wir zungentechnisch übereinander her. Un(un)terbrochen von Unterhaltungsepisoden. Zärtlichst beschreibst du deine angedachte sexuelle Vorgehensweise, die uns zu mir nach Hause manövrieren soll. Nein! Ich will dieses nostalgische Rumknutschspektakel auf keinen Fall einem koital-bewusstseinserweiternden-orgiastisch-ekstatischen Intimverkehrsaufkommen opfern. Zu genussvoll erscheint mir das lechzende Warten auf eine geschlechtliche Zusammenführung in den kommenden Tagen. Du bestimmst wann.
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„Love reign o´er me“ dröhnt es hippie-manisch aus den Junggesellinnen-Lautsprechern in der Neubaugasse. Deine Türnummer merke ich mir einfach nicht. Eine Platte nach der anderen schallt, wir trinken Rotwein, rauchen vegan und
reden, reden, reden über die Musik, die Bands, die Bücher, meine Träume, deine Pläne. Penny und Ruby. Magische Stunden. Zeit um aufzubrechen, ins Konzerthaus. Ein paar Plätze weiter von Pete Townshend werden wir orchestral von „Quadrophenia“ verschlungen.
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Falafeldürüm oder Hühnerdöhner? Der Berlindöner in der Zieglergasse war genau eine Woche ein Geheimtipp. Danach strömten die Maßen von nah und fern auf Pilgerfahrten zu der heiligen Stätte des Lammfleisches. In der andächtigen Warteschlange bereite ich mich auf den hochkonzentrativen Bestellakt vor: Nächste! Ich muss schnell reagieren, Meinen Mann im Auge behalten, auf seine Fragen blitzschnell und präzise antworten: Mit alles? Scharf? Lieblingsfarbe? Zum Mitnehmen?

 

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Katharina Aigner

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mosaik37 - bluten

mosaik37 - bluten

Frühjahr/Sommer 2022

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INTRO

Bei der Herausgabe einer Literaturzeitschrift sind diverse Arbeitsschritte und Tätigkeiten zu erledigen. Im besten Fall sollten diese möglichst harmonisch nacheinander bzw. parallel ablaufen, getragen von Personen mit unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten (siehe links bzw. unten). Gerne wird bei solchen Gelegenheiten das Bild eines funktionierenden Uhrwerkes herangezogen. In diesem Bild gesprochen, greifen beim mosaik die Zahnräder meist sehr gut ineinander – fällt eines aus, gibt es üblicherweise einen Bypass, der zwischenzeitlich die weitere Bewegung garantiert.

Jetzt geht unsere Uhr nach. Diese Ausgabe sollte planmäßig zu der Zeit, in der sie jetzt erschienen ist, quasi schon vergriffen sein. Doch zu dem Zeitpunkt, als sie hätte erscheinen sollen, war die Datei mosaik37_Zeitplan.xlsx schon mit unzähligen Zusätzen versehen: Planänderungen, Wiederänderungen, Korrektur der Wiederänderung. Zahlreiche Erkrankungen im Team haben zwischenzeitlich alles durcheinandergebracht. Es ist so, als hätte man die hintere Abdeckung der Uhr entfernt und das gesamte Innenleben auf den Boden geschüttelt.

Auch wenn noch nicht alle Teile der Uhr wieder an ihrem Platz sind, konnten wir – verspätet aber doch – diese Ausgabe zusammenstellen. Und da wir hoffnungslose Optimist*innen sind (die ein gelegentlich eingestreutes Oxymoron schätzen), sehen wir trotz all der Widrigkeiten der aktuellen Umstände auch darin wieder eine neue Erfahrung, aus der wir für die Zukunft lernen. Auf dass wir bessere Pläne machen oder vielleicht ganz auf diese verzichten! Wir werden sehen. Einstweilen wünschen wir euch viel Freude mit der neuen Ausgabe – wir arbeiten derweil an der Genauigkeit unserer Uhr.

euer mosaik

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Inhalt

flusslich

René Markus – Sporen
Jutta Schüttelhöfer – Fische
Leonie Ziem – Verlust / aufhören, sich zu wundern
Olja Alvir und Clemens Braun – sandschaften
Amalie Mbianda Njiki – Zwischenzeitlich
Tara Meister – vergeht nicht

zellwandernd

Cornelia Manikowsky – ein Esel sein
Sophia Klink – Skript für den Wald
Raoul Eisele – EIN JEDER DRITTE : LYMPHKNOTEN UND : FATIGUE
Verena Ullmann – Nachthimme
Roland Grohs – Der Sammler

entfalten

Carla Lorenz – kaatzalé
Linn Schiffmann – Ryujin 3.5; 13 Uma
Yannick F. Piwetz – Patrizia und Uwe regen Leute mit ihren Frisuren auf
Dorothee Krämer – der spion
Helene Slancar – Anna und Du, Polarität
Johann Voigt – enden

Kunststrecke von Anjan Cariappa
BABEL – Übersetzungen

n undurchsichtigen Zeiten wie diesen, in denen manch eine Nachricht uns die Sprache verschlägt, ist es gerade sie, die es uns nicht verschlagen darf. Und zwar jene Sprache, die nicht heruntergebrochen wird auf Floskeln, Phrasen und Parolen. Insbesondere Lyrik verlangt Tiefgang und Zeit, von Schreibenden und Lesenden gleichsam. Sie ist „nichts zum Essen und wieder Herausscheißen”, wie es in der Übersetzung von Dejla Jassim des amerikanischen Gedichts You Know How to Say Arroz con Pollo but Not What You Are von Melissa Lozada-Oliva in dieser BABEL-Ausgabe heißt. Nur die Sprache vermag es, an einer wie auch immer gearteten Wahrheit zu rühren. Ob sie die Welt verändern wird?

[foejәtõ]

Der Literaturbetrieb müsse sich zwingend mit ‚dem Digitalen‘ beschäftigen, findet Katherina Braschel in ihrem Leitartikel – nicht zuletzt aus Gründen der Inklusion und Barrierefreiheit. In den letzten Jahren kam einiges in Bewegung, wir stehen aber nach wie vor am Anfang einer selbstbestimmten, sinnhaften und spannenden Nutzung der digitalen Welt für die Literatur.

Wir haben uns umgesehen und geben eine kleine, sicherlich lückenhafte, Bestandsaufnahme: Das Prosanova-Team berichtet, wie es war, digital zu veranstalten, Katherina J. Ferner hat Literatur-Podcast-Tipps und Malte Grotendorst beschäftigt sich in seinem Essay ganz grundsätzlich mit dem Verhältnis zwischen dem Selbst und dem digitalen Content.

Kreativraum mit Armela Madreiter

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freiVERS | Peggy Lohse

Noch heute ins Morgen

 

Wie ein Amseljunges
zum Flugtraining
aus dem Nest purzelt,
von der Familientafel
in den nächtlichen
Regionalzug gestolpert.

Müdigkeit klebt
an den Sitzen
wie Bierspritzer
am Linoleumboden.

Minuten dehnen sich
wie Kaugummi, der sich
an Schuhsohlen festkrallt.
Sprachen blubbern
wie die Verdauung
des Festessens im Bauch.

Trägheit drückt
ein kratzendes Stirnband
ins Gesicht
beim Gähnen.

Unsichtbar rauscht
draußen der Wald
vorbei. Verdeckt.

Das Ziel versteckt
sich im Dickicht
hinter der Nacht.

Alle wollen nur:
ins Heim, ins Bett,
in Sicherheit - doch die
läuft uns davon.

Der Bummelzug jagt sie,
meint sie zu finden
an jedem Dorf-Haltepunkt.
Chipstüten knistern,
Köpfe träumen von Lagerfeuer.
Handys fragen klingelnd:
„Wo steckt ihr?“

Amseljungen schlafen jetzt,
mutig und satt,
bereit für den neuen Tag.
Der Zug rollt ihm entgegen,
fährt stetig bremsend hinein.
Wir sind noch heute im Morgen.

 

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Peggy Lohse

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