23 | Christoph Laible
Weihnachten ist nicht später
Karl ist ganz aufgeregt, als Papa die Haustür öffnet.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa.
Er schleppt die Einkaufsackerl ins Haus. Auf der Stirn eine tiefe Falte.
Karl klopft gegen die Küchentür und Papa öffnet sie. Es riecht nach Blaukraut und Knödeln.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa und rührt in den Töpfen, aus denen es dampft und zischt. Die Falte auf der Stirn noch tiefer.
Karl klopft gegen die Küchentür, aber Papa öffnet nicht. Also geht er hinein.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später.“ Er schiebt drei Bleche mit Keksen in den Ofen. Die Falte auf seiner Stirn kommt Karl nun unendlich tief vor.
„Es ist schon dreimal später!“ Karl stampft auf den Boden.
„Was ist denn so wichtig?“ Papa seufzt.
Vor dem Fenster liegt ein Vöglein.
„Oje“, sagt Papa.
Papa holt einen Schuhkarton und sie bringen das Vöglein ins Warme. Sie decken es mit einer Serviette zu und warten, aber das Vöglein rührt sich nicht. Als Karl weint, macht das Vöglein: „Piep.“
Papa holt eine Pinzette und gibt ihm Brotkrümel. Das Vöglein frisst. Bald riecht Karl Verbranntes.
„Die Kekse!“, ruft Karl.
„Später. Lass es erst fressen“, sagt Papa. Die Falte auf seiner Stirn ist verschwunden.
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Christoph Laible
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freiTEXT | Christoph Laible
So jemand
Licht zuckt auf Mamas Haut. Die Farben wechseln sich ab. Wenn das Licht weiß ist, kann ich sie am besten beobachten. Sie guckt aus ihren bernsteinbraunen Augen auf die Leinwand, wühlt in der Popcorntüte auf ihrem Schoß. Manchmal saugt sie die Lippen ein, beißt auf ihnen herum. Dann tanzen tiefe Falten um die Mundwinkel. Ich versuche jede Regung zu deuten, sehne mich nach einer Träne. Im Ausschnitt ihrer Bluse bebt der gelbe Herzanhänger sachte auf und ab. Ich habe ihn Mama zu Weihnachten geschenkt. Sie trägt das Herz jeden Tag. Ich spüre mein Gesicht, wie es pocht. Sie bemerkt, dass ich sie anstarre, lächelt mich an.
„Hm“, summt Mama.
Als der Film zu Ende ist, bleiben wir noch sitzen. Wir warten, bis sich die anderen aus den Reihen geschoben haben. Ein junger Kerl stolziert die Treppe zum Ausgang hinauf, schwingt dabei die Hüfte hin und her. Seine Freunde lachen.
Mama legt ihre zarte Hand auf meine. Sie wiegt so unendlich schwer und mit ihr legt sich ein Schleier um mein Bewusstsein, der mich nicht zu den Dingen durchdringen lässt. Als wäre das alles nicht echt, als wären wir selbst Darsteller in einem Film. Der Schleier dämmt meine Furcht vor dem Gespräch, das wir gleich führen werden. Den Brand, der bis in meine Fingerspitzen lodert, sich jeden Gedanken, jede Empfindung unterwirft.
An den Kassen im Foyer sitzt keiner mehr. Eine junge Frau mit Ohrtunneln und Nasenring putzt Röstzwiebeln von einem Stehtisch. Durch die Glasfront des Kinokomplexes sehe ich in die Nacht. Der Lichtersmog der Stadt lässt den Himmel milchig-orange schimmern. Ich stemme meinen Arm gegen die Glastür, schiebe, zittere.
Draußen ist es bitterkalt. Kippengestank beißt in meiner Nase. Im Aschenbecher neben der Glastür schwelt es. Dunkler Rauch quillt aus dem Schlitz, fließt am Metall hinab. Ich pflücke eine Marlboro Gold aus der Schachtel in meinem Peacoat, zünde sie an, ziehe kräftig. Der Rauch sticht in meiner Lunge. Mama mag nicht, dass ich rauche, sagt, sie hat Angst, dass ich krank werde. Ich blase eine Wolke in die Kälte, sehe wie Mama verbissen lächelt, fühle mich kurz frei. Als ich die Zigarette von meinen Lippen löse, reißt der Filter ein Stückchen Haut ab. Ich fahre mit der Zunge über die Stelle, schmecke ein bisschen Blut.
„Und?“, höre ich mich sagen.
„Sehr, sehr gut“, sagt Mama: „Hast du gut ausgesucht, den Film.“
„Gell, find ich auch.“
Ich lächle, versuche locker zu wirken.
„Das ist ja schon Wahnsinn.“
„Ja, so mutig. Und das zu der damaligen Zeit“, sage ich.
Wie lächerlich ich bin.
„Ein lieber Mensch, aber arm dran“, sagt Mama.
„Sie war doch glücklich am Schluss.“
„Ob so jemand wirklich glücklich sein kann.“
„Wieso denn nicht?“
Mama saugt die Lippen ein, wiegt den Kopf nach links, dann nach rechts.
„Wen findet denn so jemand? Irgendwelche mit ´nem Fetisch vielleicht, aber ´ne richtige Partnerschaft ist doch fast unmöglich. Ich weiß das auch, dass ich da blöd bin. So schlimm das auch für solche ist. Aber nur, weil man da was wegschnibbelt, wird aus einem Mann keine Frau.“
Ihre Worte schlagen mir in die Magengrube, werden zu physischem Schmerz. Ich möchte Mama ohrfeigen, schütteln, anschreien.
Ich ohrfeige und schüttle sie nicht. Auch die Worte bleiben in mir, obwohl sie schon ganz vorne an der Zungenspitze waren, alles hätten ändern können, wenn sie herausgebrochen wären, ein paar Millimeter weiter, durch den Schleier, in die Wirklichkeit.
Ich drehe mich weg. Tue, als ob ich an meinem Feuerzeug herummache, kämpfe gegen die Tränen.
„Komm, jetzt zahlen wir und fahren. Daheim trinken wir noch einen Tee.“
Ich schaffe es, eine neue Marlboro aus der Schachtel zu holen und „treffen uns im Parkhaus“ zu sagen.
Ich sehe Mama nach, wie sie zurück ins Kino geht. Wie es sie schüttelt, als sie ins Warme tritt, vor dem Parkautomat in ihrem Geldbeutel kramt. Das Licht des Foyers bricht sich in meinen Tränen. Sie kriechen warm über meine Wangen, brennen an meiner Lippe. Strahlen legen sich über Mama. Wenn ich die Augen zusammenkneife, werden die Lichtstrahlen länger und dichter, lassen sie verschwimmen.
Zitternd führe ich die Marlboro zwischen meine Lippen, zünde sie an. Das Rad des Feuerzeugs schmerzt an meinen kalten Fingern. Ich nehme einen Zug, werfe die Zigarette in den Aschenbecher. Dunkler Rauch schiebt sich unaufhörlich aus dem Metallschlitz.
Christoph Laible
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