ice

Ich sitze im Zug auf dem Weg nach Hause und mein einziges Gepäckstück ist ein mittelgroßer Rucksack, in den meine Querflöte, der Laptop und Klamotten für drei Tage passen. Der ICE ist leer, es war die günstigste Fahrt an einem Montagvormittag, ich war flexibel: Querflötenunterricht erst um 14 Uhr. Ankunft in Frankfurt 12:54 Uhr. Es bleibt genug Zeit, selbst bei Verspätung. Die Landschaft draußen ist eis-hell und gleichförmig und lullt mich ein.

Ich sitze unbequem. Meine Füße sind trotz der schweren Winterboots kalt und so zieh ich sie aus, winkle die Beine an und stecke meine Zehen unter den neben mir stehenden Rucksack. Ich lehne mit dem Rücken am Fenster und knülle mir meine Jacke zum Kissen an den Sitz. Ich habe einen Tischplatz gewählt, mein Laptop bleibt trotzdem im Rucksack. Der Zug ruckelt und ich bin müde. Ich schlafe ein.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber mein Mund muss leicht offen gestanden haben, denn meine Zunge fühlt sich taub und trocken an. Ich schlucke. Im Schlaf hat sich mein rechtes Bein aus der angewinkelten Position gelöst und ist gegen die Tischplatte geklappt, ich spüre den Abdruck der Kante an meinem Oberschenkel. Ich reibe über mein Gesicht, versuche zu lokalisieren, wo wir inzwischen sind. Ich will aus dem Fenster des Vierers gegenüber schauen. Während ich den Blick hebe, sehe ich einen Penis. Ich schaue weg, und bin mir sicher, mich geirrt zu haben. Ich muss blinzeln. Ich schaue wieder hin. Der Penis ist fleischrot und auf mich gerichtet, schräg vor mir, unter dem gegenüberliegenden Vierertisch. Eine gelbliche Hand, nicht weniger fleischig, reibt unbeirrt auf und ab.

Mein Blick schnellt hoch, in sein Gesicht, bevor ich es verhindern kann. Da ist kein Handy, keine Zeitung. Der Mann schaut mich an, direkt, ein leichtes Lächeln auf den schmalen Lippen. Ich denke, dass das gerade nicht wirklich passiert. Ich weiß nicht wohin. Ich senke den Kopf. Ich weiß nicht, ob Zeit vergeht. Ich bewege mich nicht. Ich starre auf sein Ding. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle nichts.

Mir direkt gegenüber sitzt ein Anzugträger und klappert auf seinem Laptop. Er hat noch nicht einmal aufgeschaut, seit wir gemeinsam eingestiegen sind. Ich hätte ihm Bescheid sagen können, das Zugpersonal rufen. Ich hätte aufstehen und gehen können. Ich hätte, ich hätte und ich hätte.

Ich will ein Foto mit dem Handy machen. Heimlich. Unauffällig. Ich prüfe vorher mehrfach, dass ich mich nicht mit einem Blitzlicht oder dem Fotoklickgeräusch verrate. Das Geräusch imitiert die Verschlussblende einer Analogkamera aus einem vorherigen Jahrtausend, ist völlig unnötig, und nur zu hören, wenn das Telefon laut gestellt ist. Meines ist stumm. Der Blitz deaktiviert. Ich mache ein Foto, ich verwackle es leicht. Ich will ein zweites machen, aber meine Arme heben sich nicht mehr.

Die Fahrkarten wurden bereits kontrolliert, aber ein Kaffeemann kommt, ein Bahnangestellter sammelt den Müll aus unseren Tischabfalleimern, alle haben es eilig. Ich bin stumm. Ich könnte gehen, jemanden suchen. Aber ich habe kaum einen Beweis, nur einen vier Pixel großen, fleischroten Penis. Ich will nicht mit diesem Mann konfrontiert werden. Wenn ich ihn beschuldige, muss ich mit ihm reden. Er wird sagen, dass es nicht stimmt und dann stehe ich da.

In die Winterboots bin ich längst wieder eingestiegen. Die Dreiviertelstunde bis der Zug in Frankfurt hält, sitze ich starr und kerzengerade auf meinem Platz. Mein Blick in meinem Handy. Ich überlege, jemandem zu schreiben, aber ich kann nicht. Ich muss still sein, hören, wie Stoff an Hand an Haut reibt. Ich zwinge meinen Blick nach unten. Ich will nichts hören, nicht seinen Atem, nicht das Kramen in seiner Jacke, nicht das Aufreißen der Taschentuchpackung. Aber noch immer sagt der Zugchef nichts von unserem nächsten Halt. Ich stehe sieben Minuten zu früh auf. Ich laufe durch den ganzen Zug nach vorne. Ich drehe mich nicht mehr um, dann renne ich zur U-Bahn.

Im Querflötenunterricht denke ich plötzlich: Es ist ja auch eine enganliegende Jeans. Ich habe im Schlaf die Beine auseinander klappen lassen. Ich habe mich beinahe angeboten. Das ist lächerlich. Habe ich mich etwa angeboten? Ich möchte duschen, aber ich möchte nicht nackt sein. Ich war still. Ich war feige. So ein Schwein. Ich schweige. Ich spiele schlecht. Meine Professorin sagt: „Sie haben ja noch ein paar Wochen.“ Was kann ich tun?

Mir passiert so etwas nicht. Ich bin so nicht. So stumm. Ich habe keine Angst, im Dunkeln nicht und auch nicht davor, nachts mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Ich mache keine Umwege für belebtere Rückwege.

Nach der Stunde setze ich mich mit meinem Rucksack auf dem Schoß auf die Treppe. Ich google. Ich finde widersprüchliche Informationen. Für das Wort Exhibitionismus brauche ich die Autokorrektur. Ich werde wütend. Ich google: Nächste Polizeiwache. Ich presse meine Oberschenkel fest zusammen.

Ich mache das, damit sich vielleicht irgendwann richtig anfühlt. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich wurde nicht ja verletzt und es hat mich ja auch keiner angefasst.

Ich stehe mitten auf der Zeil. Aus dem Backshop links von mir riecht es nach Treibmittel und warmen Brötchen. Aus der Eisdiele rechts von mir dudelt italienische Popmusik. Die Tür vor mir ist eine Front. Die ganze Hausfassade ist eine verspiegelte Front, so hoch, dass ich ihr Ende nur mit in den Nacken gelegten Kopf erahne. Ich lege den Kopf in den Himmel, damit ich im verspiegelten Metall meine verzerrte Silhouette nicht sehen muss. Ich atme mehrmals. Ich will nicht. Ich will nach Hause. In mein Bett, in mein Kissen. Mir ist nichts passiert.

Es geht mir gut. – Mir geht es nicht gut. Ich gebe mir einen Ruck. Mein oberstes Zeigefingergelenk drückt sich durch, als ich auf den Messingklingelknopf drücke. Wenn mir das beim Querflöte spielen passiert, beschwert sich meine Professorin sofort. Meine Fingergelenke müssen stark und beweglich sein, aber bei diesem Klingeln schnappt das Gelenk und biegt sich durch.

Erst passiert nichts, ich denke, ich gehe wieder, ich habe es ja versucht, ich kann gehen.

„Polizei?“

Die Stimme aus dem Lautsprecher neben der Klingel knistert männlich und angespannt. Ich schweige.

„Hallo? Hier ist die Polizei. Was gibt es?“

„Ich“, es klingt viel brüchiger als meine eigene Stimme, „möchte Anzeige erstatten.“

Italienische Popmusik. Jemand hätte gern eine Kugel Stracciatella-Minze. Die verspiegelte Hausfront sagt:

„Um was geht es dabei?“

Ich denke: Das ist nicht sein Ernst. Ich stehe doch noch auf der Straße. Ich denke: Wie schwer kann man es jemandem machen. Mitten auf der Zeil. Jemand will drei Kugeln im Becher. Ich muss etwas sagen, jetzt zu gehen, geht nicht mehr. Wer weiß, sonst kommen die mir noch nach? Ich kratze einen Klumpen Mut zusammen:

„Könnte ich das vielleicht in einem etwas –”, ich stocke, „intimeren Rahmen –” Meine Stimme bricht weg und lässt Tränen vorbei. Jetzt? Tränen, die ich nicht will, die ich nicht fühle, die völlig deplatziert sind.

Die Tür summt, ich trete ein. Ich sehe nur orangene Plastikschalstühle, die direkt mit der Wand verschraubt sind, ich sehe durch eine Plexiglasscheibe Männerbeine in Uniformhosen und Sicherheitsschuhen. Waschbeton auf den Böden, Waschbeton an den Wänden. Sie stehen beieinander und reden. Ich will ihnen nichts erzählen. Die Hässlichkeit der Umgebung ist bedrohlich. Ich habe nichts falsch gemacht, oder? Ich friere, dränge meine Tränen zurück. Ich zwinge mich, meinen Kopf so weit zu heben, dass ich an einen Schalter mit einem spinnennetzförmig gebohrten Lochmuster im Plexiglas treten kann und dem Beamten, der davor sitzt, ins Gesicht sehe. Ich kann nicht sprechen. Endlich sagt er: „Möchten Sie das vielleicht mit einer Kollegin besprechen?“ Etwas in mir schmilzt, möchte als Tränen herauskommen, ich stoppe es und nicke hektisch. Er ruft in einen Raum hinter sich, den ich nicht einsehen kann, ich senke meinen Blick wieder und schlucke hart.

Bewegung unter den Sicherheitsschuhen. Eine doppeltgesicherte Tür, die von außen keine Klinke hat, wird geöffnet und ich werde eingelassen. Dann steht vor mir eine Frau mit hellblond wippendem Pferdeschwanz und teichgrünen Augen. Als hinter uns die Tür zufällt und wir allein in einem Büro sind, laufen meine Augen über. Ich komme mir lächerlich vor. Ich will nicht weinen. Mir ist doch gar nichts passiert, sie muss denken… Unter Schluchzen sage ich zuerst:

„So schlimm ist es eigentlich gar nicht.“ Und dann: „Ich weiß auch nicht, warum ich jetzt so weine.“

Die Polizistin nickt. Dann erzähle ich ihr, was passiert ist. Sie muss nachschauen, um welchen Tatbestand es sich handelt: Solange er mich nicht berührt hat, ist es nur Erregung öffentlichen Ärgernisses. Exhibitionismus, habe ich selbst schon gegoogelt. Das erzähle ich ihr auch. Ich zeige ihr auch das Foto. Ich soll es ihr per Mail schicken. Sie schreibt einen Bericht. Ich fülle ein Formular mit meinen Personalien aus. Die grauen Kästchen, immer nur groß genug für einen Buchstaben, beruhigen mich. Sie liest mir noch einmal vor, wie ich ihr die Ereignisse geschildert habe. Ich unterschreibe.

Während sie weiter mit ihren Teichaugen den Bildschirm bearbeitet, versuche ich mich damit abzulenken, meine Personalausweisnummer auswendig zu lernen. Meine Nase ist verstopft. Ich suche in meinem Rucksack umständlich nach einem Taschentuch. Sie fügt das Foto der Akte als Anhang hinzu. Sie meint: Ihn darüber zu schnappen ist nahezu unmöglich, aber wenn der sowas noch einmal macht, kriegt man ihn vielleicht. Ich fühle mich trotzdem leichter, als ich mit ihr und trockenroten Augen durch den Waschbetoneingang wieder nach draußen gelassen werde.

.

Anna-Katharina Kürschner

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at