mosaik38 - ein bisschen Nähe
mosaik38 - ein bisschen Nähe
Herbst 2022
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INTRO
„Alle feiern“, sagt meine Mutter. „Ich verstehe nicht, wie alle feiern können.“ Sie sagt: „Ich verstehe nicht, wie alle so tun können, als ob nichts gewesen ist.“
„Ja“, sage ich. (Julo Drescowitz, S. 28)
Auch wenn es schon abgedroschen klingt und jede*r Zweite beim nächsten Satz seufzend das Intro-Lesen abbrechen wird: Wir leben in turbulenten, intensiven, bedrückenden Zeiten. Aber! Es ist schön zu beobachten, dass es Künstler*innen gibt, die sich den unterschiedlichsten Aspekten dieser lange andauernden Krisenprozesse annehmen und die diversen Implikationen auf Mikro- und Makro-Ebene thematisieren.
Aus Gesprächen wissen wir, dass viele Autor*innen von der Weltlage oder individuellen Notlagen am Schreiben gehindert werden – vielleicht findet sich in dieser Ausgabe für jeder*n von uns ein Text, der wieder Energie und Perspektive gibt.
„Schreiben braucht Gewusel“, meint Jakob Kraner im Kreativraum. Dem können wir uns nur anschließen: Der persönliche Kontakt, die geistige und körperliche Nähe, der Austausch, das Vertraute und das Neue – all das kann Kraft, Sicherheit, Vertrauen schenken. Das klingt auch im bewusst gewählten Titel der Ausgabe an.
„Ich suche in mehreren Sprachen, für eine Sammlung, sage ich, und bin umgeben von wackeliger Sprachigkeit“ – Franziska Füchsl (S. 65) führt uns in einen Schwerpunkt im [foej tõ], der uns schon lange ein Anliegen ist. Wir sind überzeugt, dass der Austausch zwischen den Sprachen nicht nur die möglicherweise wackelige Sprachigkeit festigt (und aber auch wackeliger macht), sondern auch die Distanz zwischen Menschen verringert. Und wenn wir in unseren Zeiten etwas brauchen, dann ist das „ein bisschen Nähe“ – wenn vielleicht auch räumlich getrennt.
euer mosaik
Inhalt
stets notbeleuchtet
Maja Goertz – Hinter der Deadline
Georg Großmann – Laternenfische
Helmut Blepp – Nachtarbeiter
Simon Scharinger – woanders
Es pocht
Anna Krauß – einmachglasvollwelt.
Tsovinar Hakobyan – Palermo
Clara Maj Dahlke – Imago
Julo Drescowitz – Grillfest
kein Sound?
Sascha Bruch – Das Schweigen häuten
Zoe Dackweiler – Der Verschleiß des Körpers (Einflussgrößen) – Zoe
Natalie Campbell – Läuterung
Kunststrecke von Veronika Klammer
BABEL – Übersetzungen
Das Thema unseres Feuilletons – nämlich Mehrsprachigkeit – steht hier bei BABEL in guter Tradition immer schon im Mittelpunkt, ohne sich aktuellen Trends anbiedern zu wollen. Schließlich ist Mehrsprachigkeit unser tägliches Geschäft – wenn es auch stets in einer deutschen Übersetzung mündet. Verstehen, Verstand, Verstandenwordensein, Verständigen oder Verständigthaben – unser Anliegen ist die Verständigung, obgleich wir uns der bescheidenen Wirkmacht unserer Rubrik bewusst sind. Also bitte, habt Verständnis, wenn wir euch in die Verantwortung nehmen! Stellt euch vor den Spiegel und lest die folgenden Gedichte laut im Original, damit ihr erahnt, wie groß die Welt eigentlich ist – und wir so klein.
[foejәtõ]
„Written in a Kloster, it natürlich turned out to be a book of erotic poetry.” – Wovon der chilenische Autor und Übersetzer Tomás Cohen hier spricht – oder auch: wie er spricht – ist ein Beispiel für Mehrsprachigkeit. Zahlreiche Positionen zu diesem weitreichenden Feld wollen wir hier versammeln: Die Zugänge von Übersetzer*innen, die Ansprüche von Verlagen, spannende neue Projekte, individuelle Herausforderungen. Herausgekommen ist eine klarerweise unvollständige Sammlung an Positionen, die das weite Feld öffnet und mehr Fragen aufwirft als sie beantworten will. Ein Gebilde aus „wackeliger Sprachigkeit“, wie es Franziska Füchsl in ihrem Intro formuliert.
Kreativraum mit Jakob Kraner
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POEDU - Text des Monats November
Ich denke, mein Innen sieht aus,
dass ich denke wie mein Innen aussieht.
Mein Innen ist immer genau das, was ich sehe.
Mein Innen ist voller Geheimnisse, wie die Bücher,
die ich nicht gelesen habe. Mein Innen ist ein Schlagzeug,
das mich in Bewegung bringt. Ich bin eine Achtelnote,
weil ich schnell bin. Mein Innen ist mein Herz.
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Ari
(8 Jahre alt)
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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.
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Die Aufgabe diesmal kam von Kerstin Preiwuß:
Innenleben. Wie siehst du innen aus. Wie sieht das innen aus? Wie sieht das Innen aus? Lebt es? Ist es rot? Kann es pulsieren? Kannst du es fühlen? Fehlt ihm was? Und wie bewegt es sich fort, fährt es Achterbahn oder Geisterbahn? Kann es sich gar verwandeln? Oder bleibt es unsichtbar?
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POEDU - Text des Monats Oktober
Lautlos
Lautlos tanzt der Staub
Durch die letzten Sonnenstrahlen
Sonst ist es so still
Man hört ihn schon fast fallen
Lautlos pocht mein Herz
Blut fließt durch meine Adern
Sonst ist es so still
Man hört es schon fast knallen
Lautlos schwebt die Luft
Über meinen Körper
Sonst ist es so still
Man hört sie schon fast wallen
Lautlos bleibt die Zeit
Und ist es auch gewesen
Jetzt ist es nicht mehr still
Ich höre sie laut schallen Du Laternenpfahl ganz unten
Du Bürgersteig am Stiel
Du Globuskopf ohne Länder
Du Meer ohne Land
Du Kloinhalt als Burgersauce
Du gemixt braunes Klopapier mit Gartenschlauch
Und Rosenbuschsmoothie
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Regina
(11 Jahre alt)
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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.
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Die Aufgabe diesmal kam von Hung-Min Krämer:
Oft versuchen wir Erwachsenen, möglichst viele Sachen zu erledigen und haben sehr viel zu tun. Kennst Du das? Aber manchmal nehme ich mir auch Zeit für etwas und dann ist es fast so, als könnte ich die Zeit für ein paar Momente langsamer laufen lassen. Kinder können das meist besonders gut, zum Beispiel wenn Du draußen bist und Dir einen schönen Stein anschaust oder einfach nur für einen Moment den Wind in deinem Gesicht fühlst. Und unser jüngerer Sohn nimmt sich immer Zeit für eine Umarmung. Ich habe mir letztens Zeit genommen, nichts anderes zu tun, als den Wasserkocher Wasser kochen zu lassen.
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freiTEXT | Sophie Vizthum
Seit zwei Minuten offline
Liebe Fanny,
wie geht es dir da drüben in Tokio? Hast du schon einen riesigen Pikachu gekauft? Wie schmeckt Sushi ohne Glutamat? Ich muss dir gleich gestehen, allzu Spannendes kann ich nicht berichten – aber ich habe mich heute nicht übergeben und das ist schon was.
Du fehlst mir hier. Und immer, wenn ich dich vermisse, versuche ich mich abzulenken. Ich habe also mal wieder Tilly geschrieben. Du erinnerst dich vielleicht noch an sie: ich habe sie in so einem Online Forum Anfang der Zweitausender kennengelernt. Die, die auch Probleme hat. Die, die alle paar Sekunden von online zu offline wechselt.
Tilly schrieb mir, dass sie gerade eine Demonstration gegen die Unterdrückung Schwarzer in den USA organisiert. Dagegen kamen mir meine Sorgen irgendwie winzig vor.
Ich habe mich gar nicht getraut zu fragen, was sie sich dadurch erhofft, hier in Österreich? Aber Tilly würde sagen, natürlich verstehst du das nicht, du hast kein Gefühl für die Welt. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, warum wir überhaupt noch reden.
Ich habe gesehen, dass du jetzt auch viel postest und so was. Ich hoffe, dass du nicht auch in diese digitale Generation abgerutscht bist, die für alles eine Rechtfertigung parat hat? Du bist nicht schuld am Elefantensterben, dein Einkauf wird CO2-neutral versandt, diese Jogginghose ist aus der schönen Provinz Chinas – das können sie uns ja verkaufen und so, aber glauben muss ich es nicht, oder?
Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles zu viel wird. Ständig gibt es nur Probleme, aber kauf mich, dann geht es dir besser. Wenn ich mir die Zähne putze höre ich fremden Menschen beim Quatschen über Schwangerschaftsprobleme, beim Planen von Weltreisen oder beim Testen von Produkten zu – dabei bin ich weder schwanger, noch habe ich Geld für eine Reise, noch brauche ich so ein Scheißproteinpulver. Aber ich könnte dir stundenlang von Episiotomien und Proteinpancakes erzählen.
Ja, natürlich könnte ich endlich die selbstgemachten Ohrringe von Anna kaufen und sie dadurch unterstützen. Klar, wären zwei Sportleggins zum Preis von einer super. Und die Babybären in Käfigen in Bulgarien tun mir eh leid. Versteh mich bitte nicht falsch. Aber wo bleibe da eigentlich ich?
Ich habe übrigens jemanden kennengelernt, das wird dich sicher interessieren. Elias heißt er – er kocht gerne und schaut mir beim Spielen auf der Wii zu.
Er merkt sich so Dinge, die anderen gar nicht auffallen. Zum Beispiel, dass ich die eingedrehten Nudeln lieber habe, weil ich denke, sie schmecken nussiger.
Wenn wir gemeinsam kochen, darf ich auf der Fläche gleich neben dem Herd sitzen, wie damals, und rühren. Ich rühre alles um, Wasser, Currys, Chillis, ich rühre mal nach links, mal nach rechts und rede und alles ist gut. Erinnerst du dich noch, damals in der Therapie, da haben wir es nicht anders gemacht.
Wenn ich Elias dann sehe wird sicher alles besser. Er gibt mir das Gefühl, dass es okay ist, mal abzuschalten – wir hören nichts, wir sehen nichts, wir igeln uns ein und der Lärm, den lassen wir vorbeiziehen. Ich glaube, ich werde meinen Fokus auf ihn richten. Zumindest bis du wieder da bist. Schauen wir mal, wie lange es gut geht.
Ich sollte jetzt gehen. Ich bin schon viel zu lange online. Aber eigentlich bin ich gar nicht daheim. Vor mir dreht sich ein Ringelspiel, es dreht und dreht sich und malt eine bunte, runde Spur in die Luft, dort wo sonst eigentlich die Kinder sitzen, weißt du. Die Kinder? Die sind schon lange nicht mehr da. Vielleicht schlafen sie auch nur. Musik höre ich keine.
Jemand in schwarzen Adidas-Hosen boxt gegen einen ledernen Ball. Das dumpfe, mechanische Geräusch des nachgebenden Boxsacks bringt mein Blickfeld zum Wackeln.
Gestern Abend war ich schon hier, mit Elias, wir haben uns Zuckerwatte geteilt und Schaumbecher verschlungen. In der Geisterbahn war mir schlecht. Heute Morgen bin ich wieder gekommen, bin durch die Maschinenreihen spaziert, habe mich auf winzige Fahrgeschäfte gesetzt, die nicht gut genug abgesperrt sind und habe geraucht. Ich habe auch versucht Cola zu kaufen, aber die Automaten blinkten alle rot. Sonst ist noch niemand da. Vielleicht war auch nie jemand da. Und es ist alles nur in meinem Kopf.
Jagen, das tun sie uns alle, mit ihren Scheißideen von Vollkommenheit. Hier sitze ich, kurz nach Sonnenaufgang an einem Junimorgen und überlege, heutzutage nehmen wir die Maschinen überall hin mit. Besonders ist das schon lange nicht mehr. Und freiwillig irgendwie auch nicht.
Ich warte auf Elias.
Schreib mir mal wieder.
Sayonara!
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freiVERS | Enno Ahrens
Erdig
vom Angsthasenpfad
durchs Tal der Erlkönige
ins lichte Leben erscheint mir
alles im Blick meine
Füße so käseschmelzig wie
der Leib eines Neugeborenen
die Nase noch verpfropft rieche
ich mich selbst an kalter Quelle
eine Gehirnwäsche
wandle nun auf
ausgelatschten Wegen
Das Brenneisen der Zeit
prägt mir seinen Stempel
durch die Haut
Mein Erkundungsflugzeug
steht im Hangar eingemottet
Die Atmosphäre ist so verletzbar
geworden wie meine Haut
ein allergisches Schlachtfeld
Ich schreite zu Fuß die Fronten ab
versteckt hinter einer Schuldzuschiebemaske
und mit Moralabwehrgranate gewappnet
Mein Körper ist Lebewesen
zwischen Leben gewesen
wiederholt geraten
zwischen Panzerhaubitzen
und Atomwaffenbedrohung
will er ein Gemütskaninchen sein
nur noch Geist
Unverletzlichkeit der
Körperlosen
bis in alle Ewigkeit
tugendhaft in Tugendhaft
fraglos
in ungezählten Himmeln
steht die Zeit Kopf
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freiTEXT | Christian Weiglein
Schafe
Ich treffe ihn gegen vier Uhr Nachmittag auf dem Weg zur Post und wir stellen fest, dass wir beide zur Post gehen möchten und dann unterhalten wir uns kurz und machen uns auf den Weg. Wir zwei jetzt zusammen zur Post, denke ich. Was mich beschäftigt, sagt er, ist das Burgfest. Das Burgfest steht kurz bevor, sagt er. Wir wissen vom Burgfest, alle reden vom Burgfest und andauernd hören wir im Vorübergehen auf unserem Weg zur Post Einheimische, die sich über das bevorstehende Burgfest unterhalten. Was mich beschäftigt, sagt er, ist nicht das Burgfest an sich, sondern die Geschehnisse auf dem Burgfest, aber nicht die Geschehnisse an sich, sondern die Art und Weise, sozusagen der Modus ihres Geschehens. Diese ganz spezielle Burgfeststimmung auf der Burg am Tag des Festes, sagt er und ich meine zu wissen, was er sagen möchte, weil auch mir das Burgfest besonders durch seine eigentümliche Stimmung immer aufgefallen ist. Also die Burgfeststimmung, so er weiter, diese Burgfeststimmung beschäftigt mich. Bis zur Post ist es noch weit, denke ich. Warum gehst du zu Fuß zur Post, frage ich mich … Wir unterhalten uns über das Burgfest, wie sich alle hier über das Burgfest unterhalten, denke ich und sage, dass das Burgfest alle seine Besucher beherrscht, ihr Denken beherrscht. Die Burg nichts als eine Ruine, sage ich, aber das Burgfest herrscht über der Stadt, steht, wo alle Mauern fielen. Die Burgfeststimmung, sagt er, ist die Stimmung, in der wir vom Fest und der Burg, präziser: Burgruine, beherrscht werden. Das ist das Geheimnis der Burgfeststimmung: Herrschaft. Bis zur Post, denke ich, ist es noch weit.
Im letzten Jahr wurde er vom Organisationskomitee des Burgfestes von der Helferliste gestrichen. Das wissen wir beide, aber ich schweige, weil es mir peinlich ist, ihn auf seine Streichung von der Helferliste hinzuweisen. Tatsächlich ist die Streichung Resultat eines Skandals, über den ich mich genauso wie über die Folgen des Skandals ausschweige. Ich bin nicht nur vom Burgfest, sondern auch von ihm beherrscht, denke ich jetzt. Es ist mir eine Freude über Skandale zu sprechen, aber in seiner Anwesenheit kann ich über den ihn betreffenden Skandal nicht sprechen, denke ich. Alles was mit dem Burgfest zusammenhängt, hängt mit dem Skandal zusammen und wird in seiner Anwesenheit zum Unaussprechlichen. Auf dem Weg zur Post, denke ich, unterhalten wir uns über das Burgfest, aber viel mehr noch schweigen wir über das Burgfest. Ich schweige über meine Beteiligung im Helferkommitee des Burgfestes, das die Helferlisten-Streichung zu verantworten hat. Mein mir angestammter Platz auf der Helferliste hat mich in das burgfestliche Komitee hinein ordiniert, denke ich. Sein Platz war an der Kaffeemaschine, das heißt hinter der Kaffeemaschine und zwar jedes Jahr zum Burgfest einen Sonntagnachmittag. Jetzt: nur noch Besucher, er nur noch vor (nicht hinter) der Kaffeemaschine, nur noch Kaffee kaufend (nicht kochend). Wir haben ihm sein Erbrecht genommen, denke ich auf dem Weg zur Post neben ihm gehend. Wir lassen uns nichts anmerken.
Bis zur Post, sagt er, gehe ich sonst nie zu Fuß, denn es ist ein weiter Weg. Auch ich, sage ich, gehe nie zu Fuß zur Post, aber heute, sage ich gehend, treffen wir uns zufällig beide zu Fuß auf dem Weg zur Post. Das ist die Burgfeststimmung, sagt er, die Burgfeststimmung herrscht über uns und zwingt uns zu Fuß zu gehen, wo wir sonst nie zu Fuß gehen. Herrschaft, sagt er, feudal, sagt er. Er: Wir sind alle Bauern hier unter der Burg. Nicht die Burg ist Ruine, wir sind ruinös, wir hier unten in der Stadt zu Füßen der Burgruine. Fast einmal um die halbe Burg herum hier unten, denke ich. Bis zur Post ist es weit. Auf unserem Weg zur Post kreisen wir um die Burgruine herum. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten führt in unserer Stadt um die Burgruine herum, um den Burgberg herum, um dessen Ausläufer sich alle Straßen krümmen. Unter dem Burgberg krümmen auch wir uns, denke ich. Krümmung und Herrschaft, sage ich. Er nickt.
Die Aufgaben des burgfestlichen Komitees erschöpfen sich nicht im Streichen von Namen von der Helferliste. Das Komitee organisiert Kaffeepulver, das von den Helfenden zu Kaffee aufgekocht wird. Das Komitee organisiert ebenfalls Kuchen, d.h. es bestimmt Helfende, die am Tag des Festes einen Kuchen backen und auf die Burg hinaufzutragen haben, wo der Kuchen zum Kaffee gereicht wird. Der Ausschank des Kaffees und das Reichen der Kuchen erreicht am späten Nachmittag einen Höhepunkt, dessen Kommen sich durch Entzündung eines Lagerfeuers ankündigt. Auch das Lagerfeuer wird vom burgfestliche Komitee organisiert. Ist der Höhepunkt überschritten und das Lagerfeuer angeheizt, werden Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Auf dem Burgfest werden traditionell Schafskadaver auf eiserne Stangen gesteckt und über den Flammen des Lagerfeuers bis zur Schwärze erhitzt. Das Organisationskomitee hat mit den Schafen aber nichts zu tun, denn das Organisieren der Schafskadaver (sogenannte Lämmer) wird der städtischen Metzgerei überlassen. Das Organisationskomitee tätigt eine Bestellung und der Metzger liefert. Der Metzger ist sehr geschäftstüchtig, seine Filiale liegt ganz in der Nähe der Post, denke ich auf dem Weg zur Post, der auch der Weg zur Metzgerei ist.
Was mich beschäftigt, sagt er und reißt mich damit aus allen meinen Gedanken, ist der Skandal, mein Skandal, sagt er. Ich war gegen das Streichen deines Namens von der Helferliste, sage ich unvermittelt. Das Streichen deines Namens von der Liste war unausweichlich, sage ich. Er nickt. Ich habe mich, schon als dein Name bereits von der Helferliste gestrichen war, noch für dich ausgesprochen, sage ich, habe angeregt, den Namen nur zu verschieben, von der Liste der Kaffeekocher auf die Liste der Kuchenreicher, sage ich. Er nickt. Du kennst die Alten, sage ich, niemand schlimmer als die Alten. Die Alten regieren unerbittlich, sage ich. Feudal, sagt er. Die Alten, so ich weiter, die Alten häufen ihre Urteile wie Falten. Furchen, sagt er. Furchen, sage ich, du kennst die Alten, Urteile, Falten, Furchen, ihr Gesicht rau und hart wie ein Acker. Um die ganze Stadt überall Äcker und hier unter der Burg alle Bauern, sagt er. Aber die größten Äcker, so ich weiter, finden wir in den Gesichtern der Alten. Noch bevor sie im Kirchhof zu liegen kommen, beerdigen sie sich im eigenen Gesicht, sage ich. Das ist die Schwere ihrer Urteile, die ihre Gesichter bricht, sage ich, schwer wie Torf.
Im letzten Jahr stand mein Gesprächspartner im Zentrum eines Skandals: Die Alten haben feine Zungen. Man meinte, im Kaffee den Geschmack der Schafe zu erkennen. Er war dem Metzger zur Hand gegangen. Man hatte ihm beim Tragen der Schafskadaver beobachtet, man hat ihm vorgeworfen, sich die Hände nicht gewaschen zu haben. Kaffeekochen mit diesen Händen, diesen Schafshänden, haben sie gesagt. Diese ganz bestimmte Burgfeststimmung, denke ich jetzt auf dem Weg zur Post, war ausschlaggebend für den Skandal. Die Worte der Alten fallen zwischen die Biertischgarnituren mitten hinein in die Kuchenkrümel, ein Skandal wächst aus ihnen, gebrochene Worte aus gebrochenen Gesichtern, schwer wie Torf die Urteile. Ich denke an das Wort Modus. Der Modus des Burgfests ist sein Geheimnis. Herrschaft, sage ich. Er nickt. Bis zur Post ist es jetzt nicht mehr weit. Dieser Teil der Stadt wird vom Burgberg beschattet.
Die Metzgerei liegt ganz in der Nähe der Post, wir passieren ihre Schaufenster und beobachten das dort ausgestellte Fleisch, werden langsam, werden beide immer langsamer und bleiben beide vor der Eingangstüre der Metzgerei stehen, die eine Flügeltüre ist. Bis zur Post ist es nicht mehr weit, sage ich. Er nickt. Ich zögere kurz und sage dann, ich müsse eigentlich gar nicht zur Post. Ich müsse zur Metzgerei, in die Metzgereifiliale hinein und dort eine Bestellung aufgeben. Er nickt. Auch ich muss nicht zur Post, sagt er. Wir treffen uns auf der Straße, sage ich, und geben vor, zur Post zu müssen, obwohl wir nicht zur Post, sondern zur Metzgerei müssen. Ich habe dich belogen, sagt er, weil ich vorsichtig bin. Ich habe einen Plan, sagt er, dessen Ausführung mich zur Metzgerei führt. Ich nicke. Ich denke, sagt er, jetzt kann ich es dir sagen. Er weiter: Ich gehe jetzt in die Metzgerei hinein und kaufe dem Metzger alle Schafskadaver ab, kaufe alle Kadaver zur Burgfestzeit für völlig überhöhte Preise, sagt er. Der Metzger ist sehr geschäftstüchtig, sage ich. Er nickt. Ich sage, ich müsse die Schafskadaver für das Burgfest bestellen. Am besten gleich bezahlen, sage ich. Er nickt. Ich werde alle Schafskadaver aufkaufen, sagt er, bis kein einziger Schafskadaver mehr für das Burgfest übrig ist. Das Burgfest zerstören, sagt er. Ich nicke. Ich werde in die Metzgerei hineingehen, sage ich, und die für das Burgfest nötige Anzahl an Schafskadavern bestellen und gleich bezahlen. Ich habe dich angelogen, weil mir das peinlich ist, sage ich, peinlich jetzt zum Burgfest vor dir die Schafe zu kaufen, sage ich. Wegen dem Skandal, sage ich. Er nickt. Die Metzgerei hat große, schwere Flügeltüren, in deren Glasfenstern sich unsere Gesichter spiegeln. Überall Furchen, sagt er. Feudal, sagt er. Jeder von uns nimmt einen Flügel in die Hand, zieht die Tür zur Metzgerei auf – wir halten kurz inne, sehen uns noch einmal an, taxieren den Blick des jeweils anderen so zwischen den Türen der Metzgerei stehend, riechen schon den Blutgeruch, der von den Schlachtbänken hinten in den Verkaufsraum der Metzgerei quillt – und dann … dann gehen wir einfach mitten hinein.
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freiVERS | Jonah Rausch
volt
klick.
und mein körper auf hochspannung
da tropft strom von nabel zu finger zu herz
fließt durch die venen, pocht durch die haut
habe kabelenden, die keine anfänge finden
nur lücken.
von kabel zu stecker zu körper
reizstromhaut, ein druck der
narben hinterlässt und verbrennungen
und mein körper auf hochspannung
die energie zirkuliert kann mich jemand ausschalten
und jederzeit die kurzschlussreaktion
klick.
ich spüre energie hinter meiner stirn
so viel volt das die glieder schmerzen
wenn du versuchst dich aufzuladen
wenn du mich berührst
sei bereit zu explodieren
klick.
wie es pocht, wie alles in mir pocht
stromschlag
ich überhitze
alle kabel brennen
auch, wenn jetzt licht angeht
ich sehe mich nicht
auch wenn alles heller wird
ich sehe mich nicht
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freiTEXT | Ferenc Liebig
Von der Bedeutung des Sterbens
Der Mann ist auf YouTube. Im Hintergrund sieht man eine wilde Landschaft aus Bergketten und dichten Wäldern. Der Mann zupft an seinem olivgrünen Wollpullover. Der Mann trägt einen langen Bart, das blonde Haar ist zerzaust. Er sieht aus, als wäre er gerade aufgestanden. Seine Stimme ist kratzig. Der Mann sagt, er sei in dieser Gegend aufgewachsen. Die Kamera zoomt näher an ihn heran. Er zeigt die Straße herunter und meint, es gäbe keinen besseren Ort als diesen. Man folgt dem Mann mit der Kamera. Der Mann berührt die Leitplanke. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blassweiß. Man hört das Rauschen eines Flusses, ohne ihn sehen zu können. Der Mann bleibt stehen und zeigt auf den Boden. Seit Jahren würde er die Kadaver von der Straße sammeln. Hauptsächlich kleinere Tiere. Er holt einen Plastikbeutel und einen Spachtel aus dem Rucksack. Der Mann verdeutlicht, er liebe die Tiere. Er könne nicht ertragen, sie dort liegen zu lassen. Kurz wird der Großteil eines Satzes durch ein vorbeifahrendes Auto verschluckt. Letztendlich versteht man nur das Wort unwürdig. Der Mann geht in die Hocke, kratzt energisch den Klumpen aus Fell und getrocknetem Blut von der Fahrbahn. Wichtig ist, dass sie noch frisch sind. An heißen Sommertagen werden die Tiere so schnell von Insekten befallen, dass er kaum fündig wird. Angezogen vom Zersetzungsgeruch würden Schmeißfliegen bei günstiger Witterung bereits nach wenigen Minuten ihre Eier ins abgestorbene Gewebe legen. Genau bei Minute 3:41 schaut er auf, die Kamera fängt seine tiefblauen Augen ein, die schwungvollen Wimpern, die gekringelten Haare auf der Nasenwurzel. Er hätte angefangen, sich nur noch von diesen Tieren zu ernähren. »Man würde«, nun pausiert er, in seinen Augen verfängt sich ein dramatisches Zittern, »leider Gottes viel zu viele von ihnen erwischen.« Am häufigsten wären es Katzen und Hasen, manchmal Waschbären, Eichhörnchen, Vögel. Auch wenn sie schnell sind, so ist es doch ihre Unvorsichtigkeit, die sie leicht zu Opfern macht. Man nimmt einfach keine Rücksicht mehr. Auf nichts. Deswegen hätte er alles hinter sich gelassen. Der Mann sagt, er liebt es, in der Natur zu leben. Nur dort wäre er unabhängig. Das letzte Mal hätte er als Jugendlicher eine Zeitung gelesen. Er bräuchte nicht zu wissen, wo Krieg ist. Das würde nichts ändern. Auch nicht, ob Menschen den Mond besiedeln oder nicht. Der Mann zieht das bis zur Unkenntlichkeit plattgefahrene Tier von der Straße ab, zeigt es in die Kamera und steckt es dann fast schon liebevoll in den Beutel. Sich von ihrer anzunehmen zeugt von Respekt. Sie nicht bloß dem Stadium der Verwesung zu überlassen. Ihrem Tod einen Nutzen zu geben. Das Video hat 99.476 Klicks und 6.377 Likes. Nach sechs Minuten bricht es plötzlich ab.
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freiVERS | Lilli Gebhard
ein neuer morgen
und ich suche den horizont
mit meinen augen ab
ob da menschen kämen
und backe brot
und kaufe salz
und denke an die vielen
geschichten die ich
gelesen habe und gehört
von den fluchten
und denke:
das ist mein erbe
das ich verwalte
ein heimatloses herz
und die kunst
heimat zu schaffen
wo ich will
im herzschlag europas:
dass wir heimat schaffen
bauen und teilen miteinander
und brot backen
und salz kaufen
und eine decke anbieten
und endlich endlich die
argumentationsmuster
der macht
durchschauen
und zerschlagen
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erschienen in: Lilli Gebhard: Wie Schatten werden. Manuela Kinzel Verlag 2021.
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freiTEXT | Esther De Soomer
Seeanemonen
Monika erinnert sich heute noch daran, wie sie an jenem Morgen nicht wie immer den Fahrstuhl nahm, sondern die neun Stockwerke zu ihrem Arbeitsplatz zu Fuß bestieg. Es war ein gewöhnlicher Morgen, und sie war selbst ein wenig von ihrer spontanen Entscheidung überrascht. Während sie die Treppe hochging, hatte sie Zeit, darüber nachzudenken, und ihr fiel ein, wie die Immergleichheit der Tage an manchen Momenten schlecht auszuhalten war, und sich dann eine Änderung des üblichen Verhaltens aufdrängte. Sie fragte sich, ob sich andere Menschen, die sich ebenfalls gelegentlich von der täglichen Monotonie bedrückt fühlten, auch vergeblich mit Kleinigkeiten abzulenken versuchten, mit einer noch nie vorhin probierten Beilage an der Speisetheke zum Beispiel, oder mit heimlichem Schuheausziehen unterm Schreibtisch, um mit Strumpffüßen den Teppichbelag zu befühlen. Bestimmt ginge es ihnen auch so, dachte Monika, denn sie unterschied sich doch kaum von der Mehrheit der Menschen, die, genauso wie sie, ereignislose Leben führten. Sie vermutete sogar, dass selbst schlagfertige Menschen, die Art von Menschen mit Einfluss und Entscheidungskraft, die Meetings im Stehen organisierten und sich mit Karriereplanung beschäftigten, ab und zu Tagen ausgesetzt waren, an denen der Magen mürbe ist und der Geist stumpf. Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig, es war ihr, als ob sie ihre Beschwernisse nicht alleine tragen musste, aber nach einigen Stufen überfiel ihr trotzdem das Gefühl, dass sich ihr Kummer nicht zu teilen, sondern nur zu vervielfältigen schien. Daraufhin verfehlte sie die letzte Stufe zum Treppenabsatz zwischen der zweiten und dritten Etage und stürzte. Sie brauchte einige Sekunden, um festzustellen, dass ihr nichts wehtat, oder zumindest nichts, das nicht auch schon vorher wehgetan hatte. Und sie entschied sich, noch ein wenig liegenzubleiben, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten vielleicht, sie nahm sich nichts Großes dabei vor, und trotzdem erinnert sie sich heute immer noch daran.
Sie lag in einer eher unbequemen Haltung, aber die kühlen Treppenfliesen pressten angenehm kalt an die glühende Backe und ihr Verstand tat sich ein Spaltbreit auf. Wäre etwas wie eine Einsicht oder ein Vorhaben dagewesen, ihr Denken hätte dafür empfänglich sein können.
Monika lauschte auf das Surren der Aufzüge nebenan, das man mit einigem Wohlwollen für das Meer halten konnte, und sie stellte sich vor, dass unten am Empfang, wo Daria hinter einem riesigen, an einem Raumschiff erinnernden Desk saß, Wasser hereinfließen würde, das das Bürogebäude mitsamt Treppenhaus langsam überflutete, und dass sie darin herumschwimmen würde, wie irgendein exotisches Meereswesen in einem Aquarium. Sie würde an den Besprechungsräumen und den Kaffeeküchen vorbeigleiten, bis zum deckenhohen Fenster ihres Büroraums, das sich nicht öffnen ließ, zweifelsohne aus Sicherheitsgründen, und sie würde hinausglotzen, auf den schlängelnden Verkehrsstrom draußen, der aus Autos bestand, in denen Menschen saßen, die auf klare Endziele zusteuerten, und auf die Wolken darüber, die trotz ihrer launischen Farb- und Formwechsel stets einen unbeirrbaren und standhaften Eindruck machten.
Ihr kam das Wort Einflussnahme in den Sinn.
Dann dachte sie an eine sich ein Spaltbreit öffnende Muschel.
Dann an Seeanemonen, Geschöpfe die gleichzeitig Tier und Pflanze sind, und deren Larven Gehirne haben. Die Larven schwimmen so lange umher, bis die Zeit gekommen ist, um aufzuwachsen. Dann docken sie am festen Boden an, verankern sie sich und lassen das Gehirn absterben. Was bleibt, sind ihre sanft wehenden Tentakel, die sie vorbeischwimmender Nahrung entgegenstrecken.
Monika war froh darüber, dass ihr die Seeanemonenanekdote, die Oscar ihr mal erzählt hatte, nicht aus dem Gedächtnis geraten war, wie sie sich immer freute, wenn ihr unnützes Wissen nicht abhanden gekommen war.
Sie presste die andere Backe an den kalten Fliesenboden und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, den Verstand zu verlieren. Aber sie verfügte über zu wenig Einfallsreichtum, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. Also dachte sie an Oscar, der jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr im neunten Stock arbeitete, weil er Life Coach geworden war und Menschen beim Sortieren ihrer Leben half, eine Tätigkeit, bei der er vielleicht über Seeanemonen redete und Verankerung und absterbende Gehirne.
Man kann an vieles Denken, wenn man fünfzehn, zwanzig Minuten unbeweglich auf einem Treppenabsatz liegt, aber irgendwann stockt der Verstand, und was bleibt, ist ein Körper, der sich nur mit sich selbst und seinen regungslosen Zustand befassen kann. So ging es auch Monika. Sie stellte sich vor, dass sie, wenn sie nur ganz still sein würde, einfach liegenbleiben konnte. Dass im neunten Stock niemand ihr Verschwinden bemerken würde, wie bisher niemand ihr Schwinden bemerkt hatte. So lag sie da, in unkomfortabler Haltung, aber ganz kurz zufrieden.
Dann stieß jemand zwei Stockwerke über ihr mit ziemlicher Wucht die Brandschutztür zum Treppenhaus auf. Hastige Schritte hallten die Treppe hinunter.
Ein Mann, schätzte Monika.
Wenn er sie hier so liegen sähe. Vielleicht würde er sie in den Arm nehmen. Sie leise wiegen, zwischen der zweiten und dritten Etage.
Das kam ihr dann aber nach ihrem kurzen Moment der Zufriedenheit zu pathetisch vor. Also stand sie rechtzeitig auf, wie sie immer rechtzeitig aufstand für einen Tag ohne Ereignisse. Ein Mann mit Bart, in der Hand ein Telefon, rannte an ihr vorbei. Sie hatte ihn schon einige Male gesehen, Oscar hatte damals mit ihm zusammengearbeitet, und sie wollte ihn grüßen, aber er schien sie nicht zu bemerken, als ob sie bereits verschwunden war. Sein Telefon klingelte. „Ja“, sagte er, und „geht schon“ und dann war er zu weit unten, um die Gesprächsfetzen noch verstehen zu können.
Gebraucht zu werden, dachte Monika, und da ihr Verstand wohl zu kurz geraten war, um sich dabei etwas Konkretes auszumalen, entschied sie sich, das Denken einzustellen, und den langen Weg zum neunten Stock weiter hochzusteigen.
Inzwischen, viel später, Daria arbeitet schon längst nicht mehr als Rezeptionistin in dem Bürogebäude, und die Aufzüge sind durch neuere, stillere Teile ersetzt worden, denkt Monika, während sie Zahlen von einer Tabellenspalte in die nächste verschiebt, dann und wann immer noch an diesen Morgen zurück. Sie kann noch ganz genau die kalten Fliesen nachempfinden und das Meeresrauschen und die Restwärme einer mal dagewesenen Zufriedenheit. Sie kann noch die Schritte hören des Mannes, der sie nicht sah. Und wenn sie jemand darum beten würde, würde sie die Seeanemonenanekdote genau nacherzählen können. Sie würde mit Schwimmbewegungen die Irrwege der Larven nachahmen, und mit elegant über ihrem Kopf wehenden Armen die nach Fraß ausgedehnten Tentakel. Und bei der Stelle über das abgestorbene Gehirn, würde sie den Kopf auf die Brust fallen lassen und still sitzenbleiben, ganz still, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten, und dann noch länger, so lange, bis man sie überhaupt nicht mehr bemerkte.
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