freiTEXT | Jürgen Artmann

Fliegende Hirsche

Ich erinnere mich an das Drachenfest. Es fand immer an jedem zweiten Sonntag im Oktober auf den Wiesen in der Talaue statt. Ganze Scharen von Kindern ließen zusammen mit ihren Eltern Drachen steigen.

Heute wandere ich durch das Elsass und sehe einen Hirschkäfer auf dem Waldweg sitzen. Ein imposantes Insekt. Hirschkäfer heißt im Französischen cerf-volant – fliegender Hirsch. Aber auch der Flugdrache heißt im Französischen cerf-volant. Während deutsche Kinder also Drachen steigen lassen, lassen französische Kinder Hirsche fliegen.

Meine Söhne kommen mir sofort in den Sinn. Als beide noch klein und süß waren. Und das Drachenfest in meinem damaligen Wohnort. Ich denke an sie auf meinem Wanderweg, auf dem ein kleiner fliegender Hirsch sitzt. Oder ist es ein Miniatur-Drache? Furchterregend genug sieht er aus, und urplötzlich hebt er ab. Dabei brummt er in einer so tiefen Frequenz, als ob er ein kleiner Hubschrauber mit Rotorschaden bei der Notlandung wäre. Ich kann erahnen, wie anstrengend dieser Fluchtflug für ihn sein muss. Er fliegt auf Augenhöhe an mir vorbei und ich bin froh, dass er kein Feuer speit.

Wir wandern zu dritt im Schatten des Waldes. Chemin facile – die leichte Strecke, stand auf dem Schild. Es geht über Stock, nein, eigentlich sind es herausstehende Wurzeln, und über Stein. Aimée hat Wanderstöcke dabei, mit denen sie sich abstützen kann. Ich muss manchmal die Hände zu Hilfe nehmen. Kraxle mehr als zu wandern. Ich möchte nicht den schwierigen Weg sehen. Ich wollte nur wandern, nicht klettern.

Mit welcher Freude haben wir Drachen steigen lassen, meine Söhne, meine Frau und ich.

Siebenundzwanzig Kilometer durch Elsässer Weinberge zu wandern wäre kein Problem gewesen. Aber dieser leichte Weg hat es in sich. Aimée spricht seit zwölf Kilometern kein Wort mehr. Sie hat Probleme mit dem linken Fuß. Sie versucht, beim Wandern zu meditieren und die Schmerzen damit zu verdrängen. Immer wieder reist ein wenig die Distanz zu ihr ab und wir warten auf sie. Sie beißt auf die Zähne, will und kann nicht aufgeben. Als Trevor und ich stehen bleiben und uns nach ihr umdrehen, überquert zwischen uns eine Blindschleiche den Weg.

„Habt ihr die kleine Schlange gesehen?“, fragt Aimée.

„Das war keine Schlange“, sage ich. Es war eine Blindschleiche aus der Familie der Schleichen. Und das sind wiederum Reptilien, bei denen die Beine verkümmert sind. So wie gefühlt bei mir nach siebenundzwanzig Kilometern. Wir haben nur noch zwei Kilometer vor uns bis zu unserem Ziel, einer Herberge in einem kleinen Weindorf im Elsass. Aber lieber würde ich jetzt wie ein fliegender Hirsch durch die Lüfte schweben, statt ins Dorf abzusteigen.

Trevor gibt mir recht. Eine Blindschleiche ist keine Schlange und sie ist auch nicht blind. Ich bin es, der manchmal blind ist, für die Schönheit der Natur. Die Schuppen der Blindschleiche blenden ihre Betrachter. Sie ist also eher eine blendende Schleiche. Verblendet auch mich und macht mir Hoffnung auf eine erholsame Wanderung, bevor ich siebenundzwanzig Kilometer Kraxeln in den verkümmerten Beinen spüre.

Aimée sagt, sie habe gerade kein Netz, aber sie würde das später googlen. Sie ist beeindruckt, was wir im Bio-Unterricht in der deutschen Schule gelernt haben. In ihrer französischen Schule hätten sie das nicht erfahren. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das aus der Schule weiß. Trevor und ich kommen einfach vom Land. Da gab es massenhaft Blindschleichen.

Wir kommen an einer der vielen Burgruinen vorbei. Leider hatte es hier im Mittelalter gebrannt, steht auf einem Schild. Vermutlich war ein feuerspeiender Drache der Auslöser gewesen, phantasiere ich. Ich wünsche es mir fast, irgendetwas Spannendes muss doch hier im Wald passiert sein.

Ich wäre jetzt gern ein fliegender Hirsch und würde es auch hinnehmen, wenn sich mein Fluggeräusch erschöpft und laut anhören würde.

Später sonnt sich die Blindschleiche auf einem Felsvorsprung, als der Hirschkäfer neben ihr landet.

„Hast du die großen Zweibeiner auch gesehen?“, fragt er die Schleiche.

„Ja“, antwortet sie. „Aber sie stören mich nicht. Sie lassen sich einfach blenden und ziehen irgendwann weiter.“

Die beiden grinsen sich an. Ein kleiner Wind kommt auf. Sie vertreiben sich die Zeit und lassen einen kleinen Papierdrachen steigen.

Das Leben wiederholt sich, nur aus anderer Perspektive. Fliegende Hirsche? Als Kind in Deutschland habe ich Drachen steigen lassen. Nach Jahren der Pause wieder als Vater. Als meine Söhne Kinder waren. Blindschleichen habe ich gejagt. In meiner Kindheit gab es sie noch zahlreich, aber sie scheinen heute fast verschwunden.

Ich stelle mir vor, ich fange einen echten Hirsch mit einem Lasso am Geweih. Ein kräftiges Tier. Doch als ein starker Wind aufkommt, ja fast ein Sturm, hebt er ab, schwebt über mir. Ich brauche meine ganze Kraft, ihn zu halten.

Ich google das Drachenfest in der Talaue. Meine Söhne sind längst erwachsen, doch ich werde sie fragen, ob sie wieder Hirsche mit mir fliegen lassen wollen. Am nächsten zweiten Sonntag im Oktober.

 

 

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Jürgen Artmann

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mosaik34 - aufrecht und verloren

mosaik34 - aufrecht und verloren

Intro

„Wir schreiben ja gar nicht mehr, wir Schriftsteller*innen: Wir produzieren, statt zu kreieren.“ – So hat es Lisa-Viktoria Niederberger in einem Kommentar in der mosaik31 pointiert zusammengefasst. Viel ist im letzten Jahr passiert, viele Fragen haben sich aufgetan – eine, die uns immer wieder beschäftigt: Muss das so sein, dass das Schöpferische hinter das Ständig-Produzierende tritt? Und wenn diese Getriebenheit nicht nachhaltig ist, was ist nachhaltige Literatur?

„eppas, des nåchå bleiba dat“, definiert es Siljarosa Schletterer dialektal – und: „als sprachlich fixiertes Zeugnis ist sie in diesem Sinne nachhaltig. Aber reicht das?“ Stefanie de Velasco (S. 64) führt uns auf eine spannende Fährte: Nicht das Studierzimmer, sondern die Straße ist das Zuhause des ‚Nachhaltigen Erzählens‘.“ Ist es der Realitätsbezug, z.B. die Integration marginalisierter Gruppen, der Literatur nachhaltig macht? Kann so etwas nur noch mit Idealismus funktionieren, weil man sich ja dem ‘Markt’ entzieht?

Das Literaturblatt, das POEDU und das Literaturschiff wären Beispiele dafür. Darf man mit einem solchen Projekt auch marktwirtschaftlich erfolgreich sein? Oder produziert man dann erst wieder nur einen neuen, vergehenden Trend? Alles keine neuen Fragen, schon klar. Aber Fragen, die uns in ihrer Vielschichtigkeit seit langem beschäftigen (vgl. Kostenoffenlegung unten) und zu denen ständig neue hinzukommen. Auch wenn wir
keine Antworten liefern können: Wir können Fragen stellen.

euer mosaik

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Inhalt

störfunkstöbern
  • Ruta Dreyer – Am Himmel durchbrechen Vögel die Wolkendecke
  • Franziska Ostermann – Usus Wurf
  • Jan David Zimmermann – Das Gängige
  • Florian Neuner – Lola vers la mer
ungelesen abgelehnt
  • Jürgen Artmann – Café au lit
  • Lisa Roy – Geliebter Kilian
  • (blume) michael johann bauer – krokodilwaechtertraenen
  • Anne Büttner – Kleine Lichter
  • Eric Ahrens – Die Tragik einer unerwiderten Liebe
  • Johanna Klahn – Ok, Google: Katze, tot.
lieber allein
  • Lisa Gollubich – Öffnung
  • Carlo Maximilian Engeländer – Wofür sonst?
  • Tara Meister – Neben den Zikaden
  • Paul Jennerjahn – birkenstämme vor innenhof
  • Katharina Angus – Gischt
Kunststrecke von Sayne One MYB
BABEL - Übersetzungen

Hoffnung – bekanntlich gibt es sie in unerschöpflichem Maße, nur nicht für den Menschen. Der Zufall ist genauso ein großes Wort, das in den Mund zu nehmen sich nur diejenigen trauen, denen die Angst vor großen Wörtern genommen wurde. Selbstverständlich könnte man dahinter Literatur vermuten, die immer einen Weg für ihre Großen findet – und zwar in jeder Sprache. Doch Hoffnung und Zufall nützen einem wenig, wenn sich im eigenen Leben plötzlich ein Konrad einfindet. Ihr wisst nicht, wovon wir reden? Dann schnell reinblättern bei BABEL und erfahren, was das alles zu bedeuten hat …

  • Mir-Hamid Omrani – / Hoffnung (Persisch)
  • Andro Robica – Velika slučajnost / Großer Zufall (Kroatisch)
  • June Caldwell – Natterbean / Konrad (Englisch)
  • Dragoslav Dedović – Švajcarski voz / Im Zug durch die Schweiz (Bosnisch)
[foejәtõ]

Was ist nachhaltige Literatur? Diese Frage ist Ausgangspunkt dieses [foejtõ]. Fallbeispiele für gemeinnützige, idealismusgetriebene und ungewöhnliche Projekte ergänzen sich mit essayistischen Annäherungen. Bereichert wird die mosaik erstmals mit Texten von Kindern für Kinder, organisiert vom POEDU.

Kreativraum mit Seda Tunç

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