Radulescu: Zwischen Boden und Anna

Wenn der Wecker klingelt, ist es kurz nach fünf. Das hat nichts mit der Arbeit zu tun oder so. Anna arbeitet nämlich nicht. Das ist wegen Instagram und weil die alle um fünf Uhr aufstehen, um Sport zu treiben und gesund zu essen und weil das nach fünf Uhr irgendwie ganz schlecht funktioniert. Anna hat das ausprobiert. Ist gescheitert. Jetzt eben noch einmal von vorne. Sie hat auch ihren Freunden davon erzählt und Can wusste, dass es nicht klappen würde. Jetzt sagt er beim gemeinsamen Mittagessen Sachen wie »War mir gleich klar«. Dabei kommt er sich clever und überlegen vor. »Nein, das stimmt nicht, ich glaube, es liegt an meinem Zeitplan. Wenn ich um fünf Uhr aufstehen würde, wäre das ganz anders.« Damit hat Anna unbewusst eine fiese Wette abgeschlossen. So kam das dann mit dem Wecker um fünf Uhr.

Anna reckt sich, gähnt, sinniert ein bisschen. Sie drückt auf »Schlummern«. Can ist auf der Zielgeraden. Aber dann. Anna rauft sich zusammen, sie schlägt Ihre Kim Possible Decke aus Kindertagen zurück und denkt daran, dass für einen Possible nichts unmöglich ist. Das Bett machen gehört auch dazu. Ihre Mutter findet es bestimmt gut, wenn sie sieht, wie Anna endlich ihr Bett macht. Sie wirft Anna vor, faul zu sein und auch ein bisschen depressiv, obwohl das gar nicht möglich ist, denn depressive Leute treffen sich nicht mit ihren Freunden und Anna hat ja Can und da waren schließlich noch Sabrina und Alex. Das Handy klingelt. Es muss Can sein. Er will wahrscheinlich prüfen, ob sie wach ist. Der kann Anna mal. Eigentlich löst der Wecker das klingelnde Geräusch aus, doch nach einer Weile wird Anna wütend, greift sich das Telefon und will Can die Meinung geigen. Niemand reagiert. Es klingelt.

Annas Mutter muss irgendwo eine alte Sportmatte haben. Die war doch so eine Sportmaus, als sie jung war. Anna hat noch nicht gefrühstückt. In den Motivationsvideos kommt das nach dem Workout und es funktioniert nur für den, der sich an alle Spielregeln hält. Auch Can kennt die Regeln und da wäre es ein viel zu großes Risiko, gleich am ersten Tag aus der Reihe zu tanzen. In der Abstellkammer gibt Anna die Suche nach einer Matte auf. Sie trainiert auf dem Boden. Ein bisschen aufwärmen,  Hampelmänner, danach ein paar Sit-ups. So schwer kann das nicht sein. Annas unterer Rücken schmerzt, der Boden bohrt sich hartnäckig bei jedem neuen Sit-up in ihre Knochen. Anna ist dünn und da ist nichts als Haut zwischen Boden und Anna. Nach fünfzehn Minuten gibt sie auf. Nein. Nach fünfzehn Minuten ist sie fertig, denn ein kurzes Training ist besser als gar keines. Genauso wird sie es Can erzählen. Der denkt, er wäre etwas Besseres, weil er in einem Fitnessstudio angemeldet ist und dort auch regelmäßig hingeht. Anna findet, da gehen nur Prolls hin, die Frauen in Clubs mit ihren Muskeln beeindrucken wollen und das ist irgendwie peinlich und auch nicht mehr zeitgemäß, daher braucht sich Can gar nicht so wichtig vorzukommen.

Das Essen besteht aus Haferflocken, die Anna in Hafermilch eingeweicht und dann in die Mikrowelle geschoben hat. Zum Schluss sollen Bananen und Nüsse drüber. Annas Mutter ist aufgewacht und macht sich ihr eigenes Frühstück zurecht. Sie nimmt Annas Essen aus der Mikrowelle, verzieht ihr Gesicht zu einer angeekelten Grimasse und fragt Anna, ob sie nicht lieber ein Brot mit Käse und Salat möchte. Sie würde ihr eins zubereiten. Ihre Mutter stört immer zur falschen Zeit. Ihre Mutter glaubt, sie hätte den tollsten Job. Ihre Mutter wirft Anna vor, dass sie das Studium abgebrochen hat und jetzt auf einer langen Warteliste steht. Ihre Mutter sagt Anna, sie soll nicht in Schlabberhosen rausgehen. Ihre Mutter steht in der Küche und will ihr Käsebrot machen.

Anna reißt die Schüssel mit den lauwarmen Haferflocken an sich und stürmt auf den Balkon, wo sie ganz ohne Bananen und Nüsse ihr absolut nicht schmackhaftes Frühstück verzehrt. Jetzt kann sie Can erzählen, welche Opfer ihr neuer Lebensstil fordert. So haben die Geschichten der ganz Großen doch auch angefangen. Sänger, Schauspieler oder Chefs von irgendwelchen Konzernen erzählen den Pressemenschen ständig, wie schwer der Anfang war. Vielleicht mussten die auch beschissenes Frühstück essen und »Ich war obdachlos und habe gedealt« ist nur eine geschickt gewählte Metapher dafür.

Anna fühlt sich schlapp. Sie ist es nicht gewohnt, so früh aufzustehen, aber sie möchte nicht daran erinnert werden. Mit bunten Finelinern verfasst sie ein persönliches Manifest für den heutigen Tag und dazu eine lange Liste mit Dingen, die es zu erledigen gilt. »Du siehst müde aus Spätzchen.« Annas Mutter ist unnötigerweise auf den Balkon gegangen, um eine Sofadecke in der Luft zusammenzufalten und die dunklen Schattierungen unter Annas Augen eingehend zu mustern. Auf Annas Liste steht nun »Mama aus dem Weg gehen«. Sie kreist den Stichpunkt rot ein, weil rot eine alarmierende Farbe ist. Anna stellt sich vor, wie sie einen großen roten Kreis um den Körper ihrer Mutter zieht.

Wenn Can jetzt wüsste, dass Anna in den Park geht, würde er bestimmt Augen machen. Anna hängt sonst eher in der Stadt herum oder zu Hause, weil zu Hause Bildschirme warten und in der Stadt Menschen, die sich wie auf Bildschirmen bewegen und denen Anna zusehen kann, beim Herumstehen oder Beeilen. Auf einer Parkbank bekommt sie Gesellschaft von einem älteren Mann. Er gibt sich keine Mühe, unauffällig zu sein, während er versucht, einen Blick auf die bescheidenen Anfänge von Annas Kunstwerk zu erhaschen. »Studieren Sie hier?«, fragt er. Anna lügt sich ein Ja aus dem Ärmel. »Ach und sie studieren dann Kunst?« Jetzt sitzt Anna in der Falle. Sie weiß nicht, welche kunstbezogenen Studiengänge es hier gibt und wie glaubhaft die Lüge sein muss, um von dem Alten in Ruhe gelassen zu werden. »Nein Jura, das hier mach ich nur so zum Spaß.« Das findet der Alte ganz reizend und holt tief Luft. Wenn ältere Menschen tief Luft holen, wollen sie immer ihre Lebensgeschichte erzählen, denkt sich Anna. Sie hat das schon ein paar Mal erlebt. Meistens möchte sie aufstehen und gehen, doch aus schlechtem Gewissen bleibt sie trotzdem sitzen, obwohl ihr nach Zuhören absolut nicht zumute ist.

Der Alte hat Salvador Dalí einmal persönlich getroffen. In Figueres, als er schon echt im Eimer war und im Rollstuhl durch die Gänge seines Museums geschoben wurde, um den Besuchern zu beweisen, dass es ihn wirklich gibt, so richtig zum Anfassen. Also nur theoretisch. Vermutlich wartet der Alte schon lange darauf, diese Geschichte endlich einem Fremden zu erzählen. Anna zeigt sich beeindruckt. Dabei sieht sie sich seine Schlupflider genau an. Wenn man das macht, denken andere, man würde ihnen in die Augen sehen und gebannt zuhören, dabei bemitleidet Anna den Mann für seine Krähenfüße und die getrocknete Tränenflüssigkeit in den Augenwinkeln. Irgendwann wird auch Anna so alt sein. Übers Altwerden stellt sich Anna viele Fragen. Zum Beispiel weiß sie dann nicht mehr, wie sie das mit dem Sex machen soll. Sie müsste Ihre Sexualität in einen Sack stecken und erst im nächsten Leben wieder auspacken. Also falls die Buddhisten recht behalten mit dieser Wiedergeburt. Über Buddhisten hätte der Alte bestimmt auch etwas zu sagen. Die Alten wissen zu allem etwas zu sagen. Er spricht immer noch von Dalí. Langsam reicht es auch. War der nicht geisteskrank? Etwas über geisteskranke Künstler zu lernen, ist jetzt ganz schlecht für Anna. Sie erhebt sich von der Bank und bittet um Entschuldigung.

In etwa zwei Stunden ist sie mit Can verabredet. Ihm wird sie erzählen, wie erfolgreich ihr Morgen war und wie sie sogar Muße zum Malen gefunden hat. Menschen mit gesundem Lebensstil haben nämlich Hobbys. Und zwar echte, also nicht Serien suchten oder irgendetwas anderes, bei dem man sein Gesicht an einen Bildschirm heftet. Als Kind konnte Anna viele Komplimente für ihre Pferdezeichnungen ernten. Seither geht es mit der Kunst nur noch bergab. Einmal, vor wenigen Monaten, wurde Anna auf eine Vernissage eingeladen. Dort hat sie es sich zur Aufgabe gemacht bei jedem Werk die Augen weit aufzureißen, intensiv auf die Bilderklärung zu starren und sich anschließend auf die Lippen zu beißen und bejahend zu nicken. Seither benutzt Anna das Wort „Vernissage“ so oft wie möglich. Französisches Vokabular zu verwenden ist generell eine gute Idee, findet Anna. Denn Can war nie auf einer Vernissage und Französisch spricht er auch nicht.

Ein dicker Junge mit großen, dunkelbraunen Can-Augen tritt ihr gegen das Bein, während sie nach einer geeigneten Stelle zum Malen sucht. Wenn Anna als Kind so dick gewesen wäre, hätte ihre Mutter sie auf Diät gesetzt. Sie wartet noch auf eine Entschuldigung des Jungen für den Tritt. Es kommt keine. »Lieber krieg ich keine Kinder.« Anna nuschelt in ihren Schal und ein paar Teenager werfen ihr amüsierte Blicke zu. Endlich findet sie einen Platz am Teich, wo das Wasser dreckig ist und die Enten sich gegenseitig besteigen, wenn keiner hinsieht. Irgendwann würde Anna sie erwischen, ein Foto vom Gesichtsausdruck des Erpels schießen und es später an eine dieser Webseiten schicken, die manchmal Rankings für die lustigsten Tierbilder machen. Ihr Kunstwerk muss dringend fertig werden, denn ohne Bild hat sie keinen handfesten Beweis für ihren produktiven Vormittag. Bisher finden sich lediglich ein gelber Hintergrund und eine undefinierbare Form, die vielleicht als Kopf durchgehen würde auf ihrer Leinwand. Sie verpasst dem Kopf einen Schnabel, zwei unrealistisch tief sitzende Augen und einen Smoking. Dalí würde das gut finden. Es ist Viertel nach zwölf.

»Wo bleibst du?« Cans Ungeduld zeigt sich in seiner Whatsapp-Nachricht. Er kann es nicht ausstehen, wenn Menschen unzuverlässig sind. Insbesondere, wenn Anna unzuverlässig ist, obwohl er selbst zugibt, dass er sich von ihr nicht viel zu erwarten hat. Gedankenversunken starrt Anna auf den Teich und setzt aus den verschwommenen Wortfransen in ihrem Kopf eine Antwort zusammen. Sie ruft ihn an. Hört ihn auf der anderen Leitung schimpfen. Was Can kann, kann Anna auch.

»Ganz ehrlich, ich hab Besseres zu tun! Ich hab heute schon Sport gemacht und total ekliges Frühstück gegessen. Außerdem hab ich mich mit einem netten alten Mann im Park unterhalten, da kann ich doch wegen dir nicht einfach unhöflich verschwinden. Ich musste mich mit einem nervigen kleinen Kind rumschlagen. Und ich hab mich weitergebildet. Über Dalí. Gemalt hab ich auch. Es ist richtig gut geworden, aber von so was hast du keine Ahnung!«

Anna legt auf, ehe Can ausreichend Luft holen kann. Der kann Anna mal. Sie packt ihre Malsachen zusammen und macht sich auf den Heimweg. Auf dem Sofa zieht sie in Gedanken rote Kreise um ihre Mutter, die nun um sie herum schleicht und Fragen zu ihrem Parkausflug stellt. Die kann Anna mal. Anna schläft.

 

 

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Natalie Celesta

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