freiTEXT | Simon Bethge

male fantasy, oder: alles kann, nussmix

                           steigt T. aus dem U-Bahn-Ausgang. In natura wirkt sie kleiner als auf den Fotos, geradezu petite, und wiegt sicher kaum mehr als der Rucksack, unter dem sie sich krümmt. Sie sieht sich um, sucht: mich. Und ich, ich müsste bloß die Sonnenbrille aufbehalten, ein paar Schritte zur und über die Straße machen, mir sagen, dass ich noch nicht bereit sei für jemanden nach IHR, das Match löschen, fertig. Doch T. hat mich entdeckt. Ob ich ihr den Rucksack abnehmen könne? Ja, der sei immer so schwer. Wer Medizin studiere, müsse sich ans Schleppen gewöhnen; Textbücher verschiedenster Auflage, Protokolle, Analysen – das Leben an sich stecke da drin.
„Meine Mutter hat mit unserem Pschyrembel immer Spinnen erschlagen“, sage ich, weil es fast dazu passt, „oder Blätter gepresst oder Möbel gestützt.“
Sie schmunzelt, ich schmunzele zurück, mein Füßling rutscht mit jedem Schritt weiter von der Ferse und knüllt sich vorne im Schuh zusammen. Alles ziept. Ob es noch weit sei, noch weit bis zu ihrem ‚Geheimtipp‘?
„Nicht besonders.“ Sie konsultiert Google Maps, dennoch laufen wir dieselbe Straße zweimal ab.
Im Café Bilodeau sind die Getränke klein und stark. Hunger scheint sie nicht zu haben, und einen Großteil des Dates verbringen wir schweigend, bis T. sich erinnert, dass wir ja beide Filme mögen.
„Welche hast du denn so gesehen?“, fragt sie.
„Alle außer den schlechten.“
Beim Lachen flattert ihr Hängelid. „Und, irgendwelche Empfehlungen?“
„Am besten sind die isländischen mit ungarischen Untertiteln.“
Ab da läuft’s. Auf den Kaffee folgen ein weiterer und ein Sandwich, dann ein Kurkuma Latte, den ich allem Umami zum Trotz drinnen behalte, während T. mir erklärt, warum Erdoğans Immobilienpolitik die medizinische Versorgung in den Innenstädten gefährdet. Zum Abschied umarmen wir einander. Zwei Tage später schreibt sie, dass sie sich zwar sehr wohlgefühlt habe mit mir, ‚uns‘ aber lieber

                                                                                                                                                   nicht nachlassen jetzt! A. hat sich in den letzten zehn Minuten meine beiden Läufer und einen Turm geschnappt, mit dem ich ihren linken Springer hatte schlagen wollen. Auch beim Astra führt sie 5:3. Den ganzen Abend schon trinken wir die Marke, als würden wir nichts Besseres kennen oder auf der Karte finden. Dabei hat A. vorhin noch gescherzt, dass ihr als Tschechin der Sinn für gutes Pils ja quasi mit der Muttermilch eingegeben worden sei, ebenso wie das Talent für Schach, schließlich sei sie die Ur-Urgroßnichte von Vera Menchik, ob ich von der, nein, natürlich nicht, Weltmeisterinnen hätten erfahrungsgemäß immer kleineren Anteil am kollektiven Gedächtnis als Weltmeister, ganz egal, wie lange sie die globalen Listen anführten, tja. Also Cheers – auf die von der Geschichte Verschluckten.
Seitdem läuft das Spiel: Ich ziehe, sie zieht. Ich überlege, sie nicht. Ich wage, sie gewinnt. Noch eine Runde?
Als ich mit zwei eiskalten Knollen von der Bar zurückkehre, hat A. die Figuren neu aufgestellt. Bevor wir beginnen, will sie wissen, worauf ich eigentlich aus sei – so ganz generell, aber vor allem bei ihr, vor allem auf lange Sicht. Und statt A. die Wahrheit zu sagen – dass, wäre nicht der Tod das Ende jedes Bewusstseins, ich ausschließlich den Weihnachtssalat meiner Eltern und IHRE Sillage vermissen würde, die der Fahrtwind einmal zu mir wehte, als ich auf dem Sozius saß –, behaupte ich bloß, dass es die bei mir nicht gebe, die lange Sicht, nicht im Moment.
Das scheint sie zu beruhigen, wenigstens nicht zu überraschen, denn sie fragt bloß: „So, can I use the white chessmen again or are you

                                                                                                                                                                                                                                                                     dann wohl Simon, stimmt’s?“
B. ist wie jeder, damit auch wie ich. Der Tod des Hamsters als einziger bedeutender Verlust zwischen 11 und 20, irgendwann ein gebrochener Arm, ein Fahrradrennen und Capri Sun, die damals noch Sonne hieß, zum Abkühlen; Wildpinkeln, der erste Kuss. Souvenirs ohne DIN, die das Tagebuch hässlich ausdellen, wenn man sie hineinklebt. Trotzdem treffen wir uns.
„Nicht, dass ich was gegen Arthouse hätte – ich guck’s nur viel zu selten, um richtig Fan zu sein.“
Ich denke, dass ich vielleicht einfach nur jemanden suche, der mir die Eier krault, während ich an meiner IQOS sauge, Billie Eilish höre und vergesse, was wann wehtat.
„Magst du mir das Salz reichen?“
Ich denke, dass es da draußen vielleicht Menschen gibt, die sich fragen, warum ich nie zurückgerufen habe. Sie haben Katzen, Geschwister, immer genug Taboulé im Kühlschrank. Und wenn sie abends heimkommen, spucken sie in den Vorgarten, als wollten sie ein Revier markieren, das ihnen niemand streitig macht.
„Komm, ich lade dich ein. Kino ging ja immerhin auf dich.“
Ich denke, dass die Kastanie von gegenüber vielleicht jetzt, wo sie nur noch in meinem Kopf existiert, länger blüht; dass mir die Preise vielleicht mehr bedeuten, wenn ich wieder anfange, sie mit Werken der Liebe zu gewinnen.
„Ich würd' dich ja fragen, ob du mit hochkommen willst, aber mein Mitbewohner ist gerade erst aus Mumbai zurück und hat mega den Jet-lag, deshalb lass uns doch die

                            Nudes haben wir bereits hinter uns, als E. fragt, ob ich mir zutrauen würde, ihn zur Beerdigung seines Onkels zu begleiten; die finde am nächsten Wochenende statt, Sonntag, um genau zu sein, bei Lüchow im Wendischen, und eigentlich sei es ja nur logisch, nach dem Körper auch die Familie kennenzulernen. Ich willige ein, denn das Praktikum, das tags darauf hätte beginnen sollen, wurde mir zugunsten eines besser geeigneten Kandidaten – den ich insgeheim für eine Kandidatin halte – abgesagt.
E. will mich vor Ort abholen. Ich nehme den Regio bis Lüneburg, muss auf den Anschlusszug warten, versuche, währenddessen nicht an IHREN ersten Abschied auf der Ilmenaubrücke zu denken, an den zweiten im Hörsaal, weil wir’s nicht lassen konnten, und an den dritten, nach dem uns endlich nichts mehr einfiel. Dann kaufe ich im DB Store ein Magazin über moderne Männer.
E. hat ein hübsches Auto und gerade Zähne. Ich sehe ihn da, das sei erwähnt, zum ersten Mal richtig. Zum letzten auch, aber das weiß ich in dem Moment noch nicht. Und falls er es bereits weiß, lässt er es mich nicht spüren.
Während der Fahrt erzählt er aus dem Leben seines Onkels. Karriere bei der Post, als die noch staatlich war, Burnout, Frührente. Ein schwieriger Mensch sei er gewesen, nein, geworden, weil seine Eltern ihm nie beigebracht hätten, sich zu wehren. Aber geliebt habe E. ihn schon irgendwie.
Ich frage, warum er da jetzt nicht lieber allein durchwolle.
Ein Alibi, ganz simpel. Denn auf Familienfeiern, gerade jenen, auf denen es um jemand anderen gehen sollte, würden den Leuten naturgemäß irgendwann die Anekdoten ausgehen, und man fange an, sich stattdessen mit der nächsten Generation zu befassen – deren Jobs, Kinderpläne und Partner. Es genüge also, wenn die Verwandten ihn mit einer Begleitung sähen; die Kennenlernstory werde er ad hoc entwerfen, ich solle sie einfach abnicken. Deal?
Dann: Winterlicht in Sonnenbrillengläsern, Händeschütteln, „O Welt, ich muss dich lassen“, Suppe mit Eierstich, Peter Maffay Best Of, und zurück an die Bar, um

                             einzudösen ist mir zwar unheimlich peinlich, aber ich kann nichts dafür, besser: dagegen. Im Saal ist’s warm und dunkel, die 3D-Brille getönt, der Film entsättigt. Das ist das zweite Mal, dass ich ihn sehe, diesen Scheißstreifen mit seiner aufgesetzten Grandezza, aber was kann ich tun, wenn es der Einzige ist, der hier auf Englisch läuft, und A. mit Ausnahme von „Geschwindigkeitsbegrenzung“ kein Deutsch spricht.
Mit jedem Sekundenschlaf rutscht mein Kopf näher zu ihr. Und sie lässt es zu. Ihr Blick haftet an der Leinwand, kein Haar ragt über die Sessellehne, die uns trennt.
Es hatte wohl keiner von uns vor, den anderen wiederzusehen. Dass wir uns doch verabredet und die Verabredung auch durchgezogen haben, wird vor allem daran liegen, dass wir beide die Stadt zum Ende des Monats verlassen, um uns andere Karrieren zuzulegen, andere Makel; um uns tätowieren zu lassen oder Avocados auf dem Balkon zu ziehen. Wir werden Gewesenes neu formulieren, Gewordenes vergleichen, und am Ende

                                                                                                                                                                                                                                                 steigt T. aus dem U-Bahn-Ausgang ...

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Simon Bethge

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freiVERS | Hanna Göbel

Ein Witz

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz.

Ich sitze am Tisch, unter meinen Handflächen klebt
die Wachstischdecke.
Mir gegenüber sitzt –
er – ich werde seinen Namen vergessen.
Sein süßlich-herbes Aftershave bleibt in meiner Erinnerung
kleben
wie Harz.

Wir reden über seine Zeit in Kolumbien
und wir reden über mich.
Ich komme aus Deutschland und er
war einmal im Schwarzwald –
la Selva Negra.
Wenn ich wieder in Deutschland bin, weiß ich,
wo ich schlafen kann, scherzt er
und lacht.
Mein Gastvater lacht mit.

Ich wende den Blick ab,
ziehe meine Mundwinkel hoch.
Etwas in mir
zwickt.

Somos seis chicas, entgegne ich.
Ich glaube nicht, dass dir das gefällt.

Viele Jahre später
werde ich die
internalisierte Misogynie
in meinen Worten erkennen.
Doch jetzt
ist es nur ein Versuch,
aus der Ecke zu kommen, weil ich
gegen ihre männliche Präsenz
nicht ankomme,
obwohl sie in der Unterzahl sind.

Und wenn wir zu zehnt wären,
dann blieben wir
Frauen –
chicas –
und zwei Männer.

Er lacht schallend,
sein Lachen hallt
von den Wänden des kleinen Esszimmers wider,
dringt in meinen Körper ein,
erschüttert mich.
Das stört mich nicht, lacht er und grinst
dreckig.
Er lacht und mein Gastvater
lacht mit.
Seis chicas, das stört sie nicht.

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz.
Macht euch mal locker.
Versteht ihr etwa keinen Spaß?

Meine Gastmutter schweigt
unter zusammengezogenen Augenbrauen
weicht sie meinem Blick aus.
Ich schrumpfe,
mein Körper sinkt
in sich zusammen.
Ich verurteile sie
für ihr Schweigen,
dass sie zulässt, wie er
über mich,
über meine Familie,
über Frauen
spricht.

Später erkenne ich, dass sie
ebenso wie ich
Opfer des Patriarchats ist.

Ich spreche nie
darüber; ich
schweige.

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz,
den ich vielleicht einfach nicht
verstanden habe.
Unerfahrenes, unsicheres, fünfzehnjähriges
Ich.

Ein Witz, der mich
auszieht, meine Mutter
auszieht, meine minderjährigen Schwestern
auszieht;
Die jüngste erst zwei,
aber Alter zählt nicht,
denn wir sind
Frauen.

 

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Hanna Göbel

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freiTEXT | Claudia Eilers

Graugänse

Die Gänse sind zurück. In Scharen stehen sie auf dem Feld, putzen ihr Gefieder und schlagen mit ganzer Kraft ihre Flügel, um sich von Staub und Milben zu reinigen. Ihre orangen Schnäbel durchwühlen den vom Regen aufgeweichten Boden, während ihre platten Füße durch die feuchte Erde stapfen, sodass kaum ein Flecken verschont bleibt. Junges Grün wird hier sicherlich nicht mehr wachsen, ziehen sie doch jeden aufkeimenden Spross kraftvoll aus der Erde. Langsam sickert Wasser in Erdlöcher und kleine Gräben hinein, die durch das Scharren auf dem Ackerboden entstanden sind. Ihre Ankunft verkünden die Gänse eindringlich und laut, weshalb das Kind ihre knarrenden Rufe selbst aus einiger Entfernung hören kann. Es fragt sich, ob ihr Weg wohl lang und die Reise beschwerlich war. Die Vögel werden es ihm nicht erzählen, ebenso wenig wie der Wind, der ihm rote Wangen ins Gesicht treibt und so kräftig in seine Augen bläst, dass sie tränen.

Von einem kleinen Hügel aus kann das Kind die Gruppe erkennen. Sie zanken und streiten sich um Nahrung und den besten Platz, um der Frühjahrskälte zu entgehen. Manchmal ringen sie miteinander. Dann sieht man deutlich ihre langen roten Zungen und hört das garstige Zischen aus ihren Hälsen. Das Kind wagt kaum, sich ihnen zu näheren, denn es fürchtet, dass es die Gänse in seinem gelben Regenmantel für einen Feind halten könnten. Von ihren Schreien eingeschüchtert, zupft es verlegen an seiner roten Mütze. Es will nicht kämpfen, da es im Gegensatz zu den Tieren keinen Sinn darin erkennt. Dann schaut es in den Himmel, der – von Wolken durchzogen – nur wenige Sonnenstrahlen auf die Erde fallen lässt. Es blickt zurück auf das Federvieh, wie es nicht müde wird, einander die Würmer aus den Schnäbeln zu reißen. Sie sehen hungrig, aber nicht ausgemergelt aus, was das Kind in seiner Ansicht bestärkt.

Es erinnert sich, wie einträchtig sie im Herbst in den Süden zogen, wie einige die Formation anführten, dem Gegenwind trotzten und sich für die Gruppe aufopferten. Was ist in den wenigen Monaten nur geschehen, dass dies nun vorbei ist. Es fragt sich, auf welche Weise sie ihre Jungen ausbrüten und großziehen, und stellt sich vor, dass die Küken hinter ihrer Mutter herwatscheln, nur um nicht von den anderen niedergetrampelt zu werden. Wie groß wohl der Schmerz der Kleinen beim Verlust der schützenden Flügel sein muss, wenn sie das erste Mal selbst einem Artgenossen ihre Zunge entgegenstrecken, damit sie nicht im Gedränge untergehen? Nein, das Kind ist sich sicher: Es will ganz bestimmt keine Gans sein.

Noch einmal schaut es sich die schnell vorbeiziehenden Wolken an. Trübe und grau sind sie – wie das Gefieder der Tiere. Das Kind kneift die Augen zusammen. Es versucht einzelne Individuen in der feldgrauen Masse auszumachen und merkt, dass es ihm kaum gelingt. Ihm scheint, als könnten die Tiere gar nicht anders, als sich mit gerade gestrecktem Kopf und stolz gefüllter Brust im Matsch um Kriechtiere und Gräser zu streiten.

Etwas Kaltes trifft das Kind an der Stirn. Erst fallen nur wenige harte Tropfen auf die Erde, bis es schließlich wie aus Kübeln schüttet. Vom Regen überrascht, steht das Kind in seinem gelben Regenmantel da. Verträumt beobachtet es, wie sich das Wasser auf seinem Plastikumhang sammelt und langsam an ihm herunterläuft. Die Gänse haben unterdessen nicht gewartet. Ohne zu zögern sind sie in einem neu gebildeten Schwarm weitergezogen, bevor das Unwetter sie erreichen konnte. Allein bleibt das Kind am Feldrand zurück und starrt in das unheilvolle Grau aufgezogener Gewitterwolken.

 

Claudia Eilers

 

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freiVERS | Georg Großmann

Häutungstier

 

Ich bildete mir meine
erste eigene
Meinung

Meine erste eigene
Meinung bildete sich
unter der Hornschicht

Meine erste eigene
Meinung wuchs mir wie
eine innere Haut

Eine eigene Haut
meine innere Meinung

Ich streifte die
elterliche Exuvie
ab
nicht in einem Zug, sondern
zaghaft, Stück für Stück

Nun liegt sie vor mir
die Althaut
klobig und steif
wie eine Tupperware-Box

Klobig und steif war meine Haut
eine fleischige Bleischürze
ein Baukasten des letzten Jahrtausends
eine patinierte Rüstung, die kaum
Licht reflektiert

Rosafarben, nackend, weich wie
gegarte Garnelen ist
meine eigene Haut noch

Das schon

Ich schaue zurück zur
Exuvie, die wie
ein Haus, ein sicherer
Unterstand lockt
das Bekannte
der lauwarme
Pool

ich bade jetzt
kalt
ich breite meine
verletzliche Crevetten-
haut
in den schmerzhaften
Niederschlag

 

Georg Großmann

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freiTEXT | Leo Lemke

In den Plakatiefen – Tyoko, 2002

Jedes Mal, wenn ich durch das Fenster meines Hotelzimmers schaue, sehe ich diese riesige Reklametafel. Japanische, weiße Lettern auf karminrotem Hintergrund, darunter eine lächelnde Frau mit einem beschlagenen Glas Bier. Die Plakatbahnen sind ausgebleicht, obwohl die Sonne der Gasse vor dem Hotel nie einen Besuch abstattet. Auch Menschen kommen keine vorbei. Es ist, als hätte jemand dieses Plakat nur für mich dort aufgehängt, vor Jahren schon, und als hätte es hier seitdem auf mich gewartet. Seine untere rechte Ecke hebt sich sachte von der Tafel ab, wie bei einem Abziehbildchen. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Auf meinen Reisen in den letzten Jahren habe ich so etwas wie einen Tick entwickelt. Ich kann Städte, sobald ich sie einmal besucht habe, nicht mehr beim Namen nennen. Die Diskrepanz zwischen dem Namen – seinem Klang, seiner Form, seinem Charakter – und der Stadt selbst ist einfach zu groß und wächst mit jedem weiteren Schritt auf ihren Straßen nur mehr. Ein Germanistensohn hat mir mal erzählt, dass er unter der gleichen Störung gelitten habe und darum alle Schriften Saussures aus der Privatbibliothek seines Vaters während eines rituellen Brandopfers vernichtet habe. Seitdem seien Signifikat und Signifikant bei ihm wieder deckungsgleich. Für mich ist das aber leider keine Lösung. Zu einer Bücherverbrennung kann ich mich einfach nicht durchringen, selbst wenn es nur die Grundlagen der germanistischen Linguistik in der dritten Auflage sind. Die Chance auf Veröffentlichung meiner Reiseberichte schmälert dies ungemein.

Während meiner Streifzüge durch Shin-Okubo sehe ich in den Schaufenstern von Lokalen häufig Nachbildungen von Essen. Kunstfertige Skulpturen aus Wachs, zubereitet in einer komischen Küche. Sie erzählen mir Geschichten von dampfender Ramen, deftiger Gyuudon und knusprigem Tempura und ehe ich mich versehe, sitze ich in einer Seitenstraße in einem Tonkatsu-Restaurant. Die Kellnerin bringt mir erst einen warmen, feuchten Lappen, dann fragt sie etwas auf Japanisch. Ihre Stimme klingt wie die einer Nachrichtensprecherin. Klar und aufgesetzt und furchtbar unpersönlich. Ich nenne ihr die Nummer eines Tonkatsu-Gerichts aus dem Schaufenster und bestelle zusätzlich eine Flasche Ramune, weil in den Flaschen dieser Limonade eine Murmel eingelassen ist Die Kellnerin nickt und lächelt, so als meinte sie es. Wenig später stellt sie die Bestellung vor mir ab und ich kann es kaum fassen. Das Gericht hat nichts, aber wirklich gar nichts mit der Wachsskulptur im Schaufenster zu tun. Reiskörner und Panko sind völlig anders angeordnet, weißes Schweinefleisch lugt durch Löcher in der Panade hervor und die Soße wird durch Reflektionen des Deckenlichts verunreinigt. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Eine Frechheit, mir so etwas vorzusetzen. Belogen und betrogen verlasse ich das Restaurant. Nur die Flasche Ramune lasse ich dabei mitgehen.

In Kabukicho stehe ich vor der Ladenfront eines Adult Video Stores. Ein verführerisches Reich verpixelter Erotik. Ich versuche gerade, das Geschäft mit meiner Polaroid einzufangen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legt. Ich zucke zusammen. Es ist eine große Hand und sie gehört einem ebenso großen Mann.

How do you want to spend your night, man?

Er grinst breit. Seine Zähne sind unwirklich weiß. Mit einer theatralischen Geste klappt er vor meinen Augen einen Katalog auf. Die Doppelseite ist gespickt mit Fotos wunderschöner Frauen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die ersten japanischen Fotografen es schwer hatten, Kundschaft zu finden. Die Japaner glaubten damals nämlich, fotografiert zu werden würde ihnen einen Teil ihrer Seele stehlen. Gefährlich exotistisches Halbwissen? Kann gut sein. Bisher hatte ich das auch immer als Aberglauben abgetan. Doch beim Betrachten der Mädchen in diesem Katalog kann ich die Angst zum ersten Mal nachvollziehen.

Do you want to have a good time tonight?

Er grinst noch breiter als zuvor und ich seufze. Eine perfide Frage, wirklich gewieft. Natürlich möchte ich eine gute Zeit haben, wer denn nicht? Ich bejahe seine Frage, denn sonst müsste ich lügen.
Wir gehen unter einer surrenden Neonreklame hindurch in eine schmale Gasse, passieren eine ratternde Lüftungsanlage, aus der uns der Geruch von altem Fett entgegenkommt, und ein paar längst vergessene Müllsäcke. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt ein Messer zückte, um mich meiner Habseligkeiten zu berauben. Oder mich zu einem Bankautomaten führte, um dort gleich mein ganzes Konto zu räumen. Soll’s geben hier, hab ich gehört. Doch er tut nichts davon und dafür bin ich ihm recht dankbar. Über eine Treppe aus Edelstahl erreichen wir schließlich einen Laubengang. Nichtssagende Türen führen – vermute ich – in umfunktionierte Apaatos. Hin und wieder meine ich hören zu können, wie jemand dahinter eine good time hat. Fast am Ende des Ganges öffnet der Mann schließlich eine der Türen und deutet mir, ich solle eintreten. Ich folge seiner Anweisung, er bleibt auf dem Gang und schließt hinter mir die Tür.

Der Raum ist nahezu würfelförmig. Da steht ein Bett in westlichem Stil in der einen, ein Mülleimer in der anderen Ecke. Eine Tür führt in eine rudimentäre Nasszelle. Eine Neonreklame wie die von vorhin hängt direkt neben dem Fenster und wirft alles in ein rotes Licht. Auf dem Bett sitzt die Frau aus dem Katalog, ich setze mich zu ihr und sie sich auf mich. Prostitution ist in Japan illegal. Wir bewegen uns hier rhythmisch in einer rechtlichen Grauzone. Schenkelsex nennt sich das, Sumata. Ich schaue zu ihr hoch und sie sieht tatsächlich haargenau so aus wie im Katalog. Wenn ich sie mit einem Chotto kurz unterbrechen, ein Auge zukneifen und das Foto zwischen uns halten würde, dann könnte ich wohl nicht erkennen, wo Abbild aufhört und Wirklichkeit beginnt.

Als ich fertig bin, liegen wir noch etwas nebeneinander, weil ich für zwanzig weitere Minuten bezahlt habe. Wir schweigen. Kurz vor Schluss dreht sie sich noch einmal zu mir, formt mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund und sagt:

Ha!

Verdutzt starre ich sie an. Sie erklärt in gebrochenem Englisch, dass sie schauen wollte, ob ich echt sei.

Und?, frage ich.

No echo, sagt sie und schüttelt den Kopf. Real.

Ich verlasse das Zimmer, als gäbe es mich.

Vor der Kühlschrankwand eines Konbini leuchten mir Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens entgegen. Ich bin kurz davor, mir ein Strong Zero zu greifen, als ich im Augenwinkel sehe, wie sich eine junge Frau ein Asahi nimmt. Der folgende Moment verläuft wie in Zeitlupe. Ihr wallendes Haar im Wind des Deckenventilators, das perlende Kondenswasser an der Bierdose, das befriedigende Zischen, als sie die Dose öffnet, das Gluckern ihrer Schlucke und dann dieses wahrhaftige, fast schon laszive Stöhnen. Ich merke: Das ist es, was ich brauche. Genau jetzt, genau hier. Ich reiße die Tür des Kühlschranks auf, eine Dose Asahi an mich und stürme erst zur Kasse, dann nach draußen. Mit einer unbändigen Lust steige ich aus der klimatisierten Luft des Konbini in die schwüle Nacht Tyokos hinaus. Die Dose zischt nicht, als ich sie öffne. Enttäuscht trinke ich einen Schluck. Schmeckt genauso beschissen, wie ich es in Erinnerung habe.

Als ich am Morgen endlich in die Gasse vor meinem Hotel einkehre, geht die Sonne gerade auf. Zu dieser Uhrzeit, für ein paar Minuten zumindest, scheinen ihre Strahlen doch auf die Reklametafel zu fallen. Von einem Fenster reflektiert, das ewig gekippt ist. Frau und Bier sind fort, zusammen mit dem Rest des Plakats. Vielleicht hat es jemand abgezogen. Vielleicht hat es sich selbst abgelöst. Jetzt klafft nur noch ein rechteckiges Loch in der Fassade. Ich steige hinein und stelle fest, dass das Gebäude innen vollkommen hohl ist. Mit den Händen forme ich einen Trichter vor meinem Mund und rufe in die Leere hinein:

Ha!

Das Echo klingt, als lachte es mich aus.

 

Leo Lemke

 

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freiVERS | Martin Dragosits

Kinderspiel

das Licht in Streifen schneiden
ohne dass es jemand merkt

mit Sonnenstrahlen Muster malen
auf die Wangen und den Mund

schon vor dem Frühstück fliegen
um die Ecke und zurück

dem Himmel Zeichen schicken
für ein kleines Wunschkonzert

bei Wolkendecke Slalom fahren
bis der nächste Tag gewinnt

 

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Martin Dragosits

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freiTEXT | Kristina Baumgarten

Die Beschaffenheit des Abschieds

Ziehen, nicht drücken. Steht an der schmutzigen Glastür des paprikaroten Apartmenthauses. So rauchig und staubig wie ihre Kehle, beinahe streckt sie gierig die Zunge aus, um den heißen Stein der Mauer anzulecken, etwas anderes zu schmecken als Trockenheit und Traurigkeit. Im letzten Moment besinnt sie sich und schließt Mund und Tür.

Das Gebäude gleicht denen rechts und links von ihm aufs Haar. Hoffentlich findet sie zurück. Was würde passieren, wenn sie es versehentlich passieren und ein anderes betreten würde? Ihre Gedanken verschmelzen in der schwülen Hitze miteinander. Kurz blitzt eine Antwort auf, dann drängt das eigene Wortspiel sich klebrig in den Vordergrund. Die Lösung zerfließt in winzige Partikel, die sich hinter ihrer Stirn in die Tiefen des Kopfes zurückziehen. Als sie den Gedanken loslässt, dehnen sich die Nerven in der Hitze, erscheint die Auflösung wie aus dem Nichts: Drücken, wenn sie von außen kommt, nicht ziehen.

Passt ihr Schlüssel nur in dieses eine Schloss? Sie nähert sich einem weiteren Haus, drückt die Glastür auf und betritt einen dunklen Gang, bleibt vor einer Tür stehen, von der die braune Farbe wie Schokolade von einem Croissant abblättert. Das scheint ein Spiegelbild ihres Apartments zu sein, die Häuser sind offenbar nicht nur außen gleich. Nervös schiebt sie den Schlüssel in das Schloss, er passt, die Tür protestiert zwar kurz mit einem hohen Quietschen in den Angeln, gibt aber nach und schwingt einladend auf.

Ungelüftete Luft vermischt sich mit Zwiebelduft. Ein Teil des Geruchs ist betörend, er erinnert sie an eine Zeit, als sie Essensgerüche noch wahrgenommen und mit Hungergefühlen reagiert hat. Vor einer Ewigkeit. Eine rundliche Frau mit beschlagenen Brillengläsern und pechschwarzem Haar steht am Herd und bereitet Tortilla de patatas zu, der pure, erdige Geschmack nach Kartoffeln und Eiern. Jede spanische Hausfrau hat ihr eigenes Rezept, die Zutaten sind übersichtlich. Faszinierend, wie oft sind Schlüssel und Schlösser kombinierbar, wie oft Kartoffeln und Eier? Der Dunst auf den Gläsern der Señora am Herd weicht langsam zurück wie der auf kalten Fensterscheiben, an die sie früher gehaucht haben, wieder und wieder. Erstaunt, nicht überrascht hebt die Spanierin den Kopf von ihrer Pfanne. Im Raum hält sich außerdem ein Papagei auf, so bunt wie die Bilder in ihrem Kopf, die doch schwarz-weiß sein müssten, sogar völlig schwarz. Er plustert sich vor der Besucherin auf wie auf dem Catwalk im Schauflug, die räudigen Stellen geschickt verborgen flattert er hektisch wie ein alternder Flamenco-Tänzer durch den Raum. Die Frau hebt beruhigend, fast schon anmutig ihren fleischigen, rosafarbenen Arm, ihre Schürze schlägt Falten, der Arm ebenfalls. Unentschlossen verharrt sie in der Bewegung, wie zum Gruß hält sie die altersfleckige Hand erhoben. Der Vogel lässt sich beleidigt auf der Stange seines Käfigs nieder, trotzig schweigend.

Auf dem grün-samtenen, verschlissenen Stoffbild einer traurigen Madonna tanzen gräuliche Stoffmäuse in einem Sonnenstrahl, der durch einen Riss in der Jalousie fällt. Geknicktes Metall schaukelt sacht im Luftzug, reflektiert helle Blitze, etwas unterhalb der Lücke. Sie treffen auf einige verblichene Bilder, das Meer als Motiv, natürlich.

Ihr Blick streift die Fotos, bleibt hängen an einem Segelboot. Mit so einem ist sie gestern auf das Meer hinausgefahren. Mit blassem Arm hat sie die Urne mit der Asche den Weiten des Ozeans übergeben. Dabei hat sie die hohe, vertraute Kinderstimme vernommen, die ein Jahr zuvor an derselben Stelle gefragt hatte: „Warum ist das Meer immer da, Mama?“

Die kleine Hand unerschütterlich vertrauensvoll in ihre große geschmiegt.

„Meinst du Ebbe und Flut? Das gibt es hier auch, aber das Meer atmet hier nicht so tief ein und aus, das macht nur etwa 10 cm Unterschied.“

„Warum ist das so?“

„Weil der Ozean viel größer ist als die Nord- oder die Ostsee.“

„Unendlich?“

Sie schwieg einen Moment, beide waren versunken in den Anblick der Wellen.

„Ich glaub schon“, flüsterte sie leise. „Es fließt. Ein ewiger Kreislauf.“

„Wenn ich zu Hause etwas in den Fluss werfe, kommt es dann hier an?“

„Ja, das tut es. Irgendwann. Und wenn du hier etwas hineinwirfst, dann kommt es irgendwann zu Hause an.“

Mit einem Ruck kehrt sie in die Gegenwart zurück. Die Augen der Spanierin betrachten sie, seltsam wissend, gütig und so weise, als hätten sie die ganze Welt gesehen. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“, sie sagt es auf Spanisch. Sie versteht trotzdem. Wie die Hitze und das Wasser kommt die Trauer in Wellen. Die Fotos werden weiter verbleichen, wie die Frau selbst. Sie werden unsichtbar, aber das macht nichts, denn niemand schaut sie an, außer dem Papagei. Ein schwarz-weißes, verblasstes Leben altmodisch dokumentiert auf Papier. Was bleibt?

So weit ist sie in Gedanken, als sie erwacht. Erschrocken fährt sie auf, die kalten, klammen Laken schmiegen sich seltsam unwirklich an ihre Haut in dem heißen, engen Raum. In ihre Wange hat sich eine scharfe Kante vom Kissen eingefräst. Die Zeit bleibt nicht stehen, schon gar nicht wandert sie rückwärts. Ob diese Falte je wieder verschwindet? Sie seufzt und greift nach ihrer Tasche, irgendwann muss sie etwas essen, da kann sie genauso gut gleich ein paar Schritte gehen und sich ein Café suchen.

Der Portier lässt freundlich einen Schwall unverständlicher, langgezogener Silben mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs auf sie los, der sie, hilflos nickend und lächelnd, in Sekundenschnelle durchsiebt und dann hinter ihrer Stirn spurlos verpufft. Schmerzhaft begreift sie, dass er sie womöglich warnen wollte, als sie sich die Nase heftig an der schmutzigen Glastür stößt. Ziehen, nicht drücken. Steht dran. Der Concierge sieht sie bestürzt an, beinahe verlegen. Ihre Hand fährt automatisch in ihr Gesicht, aber da ist kein Blut, nur eine leichter Hubbel, den sie vorsichtig betastet. Sie nickt dem Portier höflich zu und zieht dieses Mal ordnungsgemäß am Griff der Glastür.

Aus der Kühle der Vorhalle tritt sie kampfbereit in die Glut des Nachmittags wie in eine Arena. Die Hitze sucht sich ihren Weg bis in ihr kaltes Herz. Sie blinzelt in den gleißend hellen Himmel und spürt den Schweiß unter der schweren Furche ihres Armes, er bildet ein Rinnsal und kitzelt sich bis zum Bund ihrer Hose, der es auffängt, bevor es verdunsten kann.

Müssen Türen nicht schon aus Brandschutzgründen nach außen aufgehen oder ist das in Spanien anders? Wer wird ihre Fotos betrachten, wenn sie stirbt? Es wird Zeit, herauszufinden, was bleibt. Zeit, nach Hause zu gehen.

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Kristina Baumgarten

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freiVERS | Thomas Steiner

ich esse gerne

im möbelhaus.
im möbelhaus
gibt es gutes essen
hunderte menschen
essen im möbelhaus, tausende

frühstück & mittag
ich mag es, wunderbar.
riesige fenster
zum parkplatz & bäume

wie schön
es ist diese art
von glück, von glück, von glück
das es sonst nicht gibt.

manchmal regnet es
dann
sehe ich den parkplatz vom möbelhaus
im regen. niemand
vertreibt mich vom tisch.

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Thomas Steiner

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freiTEXT | Denis Vidinski

Der Schotterplatz oder Von innerer und äußerer Zeit

An einem Sonntagnachmittag im Juni hören wir den durchdringenden Ruf einer Möwe und ich frage mich kurz, ob wir uns später daran erinnern werden.

Mein kleiner Sohn und ich stehen auf einer großen geschotterten Fläche. Rechts ist der Bahndamm und links, hinter jungen Fichten, ein langgestrecktes Gebäude. Der Rest eines alten Hofs, dessen Fenster und Türen vernagelt sind. Es ist schwülwarm, besonders wenn die Sonne hervorkommt. Ich sehe hin zu einem der blinden Fenster oben im langen Dach des Hofgebäudes.

 

Wir haben es als Kinder geliebt, von solch einer Kammer unter dem Dach aus einem vorbeiziehenden Sommergewitter zuzuschauen. Auf den nackten Armen und Beinen spürten wir die Kühle, die es begleitete. Das Licht der Blitze erschreckte uns durch sein kurzes Aufflackern; ein kaltes Licht, und es schien die Kälte in dem kleinen Raum nur noch zu verstärken.

Einmal saßen wir in einer Scheune, draußen vor der Stadt, die bis oben voller Stroh war. Wir verkrochen uns, während das Gewitter vorbeirauschte. Innen hatte die Luft zuerst noch golden geglänzt, man sah darin den helleren Staub umher kreiseln, und heiß und stickig war es gewesen, dass man kaum Luft bekam. Mäuse raschelten weit hinten. Dann wurde es bald dunkler und dunkler, und jeder Donnerschlag ließ die grau gewordenen Balken für Momente erschüttern. Der Regen prasselte im Laub, schlug auf den trockenen Sand der Wege. Niemand sprach und als nach kurzer Zeit, die uns doch wie eine Ewigkeit vorkam, alles vorbei war, da hörten wir laut rinnendes Wasser, das in alle Richtungen zugleich abfloss. Wir konnten es kaum noch aushalten, so eng und staubig war es gewesen, und wir rissen gemeinsam das große Tor der Scheune auf, dessen Holz mit einem Mal ganz leicht war. Über den Brennnesseln schwirrten Insekten. Hier und da fielen um uns einzelne letzte schwere Tropfen, und der Himmel, an dem noch das weitergezogene Gewitter stand, war schwarz und bedrückend. Von vorn blendete es dagegen schon wieder hell und klar, und nach dieser Richtung, die Hände ausstreckend, atmeten wir tief ein. Dort war der Duft der frischen sauberen Luft, der Geruch vom Regen, von nasser Erde und gewaschenem Sommerlaub. Er vermischte sich momenthaft mit jenem warmen Geruch des Strohs, der aus der dunklen, staubigen Höhlung der Scheune kam, in die wir nun auf keinen Fall mehr zurück wollten.

 

Ich hörte einmal einen Schriftsteller sagen, dass die ersten fünfzehn Jahre im Leben eines Menschen die prägendsten seien. Abends, wenn ich am Fenster sitze, denke ich darüber nach. Es kommt mir so vor, dass man damals tatsächlich alles ganz anders besah, mit seinen Blicken umkreiste, auf andere Art und Weise berührte, betastete, viel ruhiger und klarer den Duft der unterschiedlichsten Dinge wahrnahm, ihren Geräuschen nachsann. Zumindest kommt es mir heute so vor und ich versuche in der Folge zuweilen auch all dem nachzuspüren, das ich nicht behielt. In welchem Moment entscheidet sich eigentlich, was man vergessen wird und was nicht? Vielleicht spielt mir mein Gedächtnis einen Streich, aber ich entsinne mich kaum noch kleinerer Begebenheiten der letzten Monate oder Jahre. Die Zeit zerrinnt mir wie Sand zwischen den Fingern, je älter ich werde. Ich spüre jedoch überdeutlich gewisse Räume, Licht, Duft und Klänge aus den Tagen meiner Kindheit in mir, obschon es mittlerweile Jahrzehnte zurückliegen mag.

Manchmal versuche ich mich dem Sog der fliehenden Zeit entgegen zu stemmen, nicht nur gedanklich. Familie und Freunde schütteln die Köpfe, man verlacht mich, doch ich streife trotzig zu den realen Orten der Kindheit, zu den Häusern und Gebüschen, zu den Bäumen und Garagenhöfen, und ich versuche zu begreifen, was sich seitdem verändert hat und was noch da ist. Ich versuche zu verstehen, wie manches Erinnerung werden konnte und manches nicht. Viele dieser Orte sind verschwunden oder haben sich fast vollständig verändert. Oder schaue ich das alles heute nur anders an, fühle ich die Orte anders? Wenn ich wieder zuhause bin, zurückgekehrt von meinen Erkundungen und darüber schreiben möchte, spüre ich zwar noch den Nachklang jener Gedanken, aber all dies verblasst sehr schnell. Jeder von mir geschriebene Satz ist nur Andeutung, vage Annäherung. Mir kommt es zuweilen vor, als wenn sich die Welt, der Alltag um mich viel schneller bewegt, als die Welt in mir selbst, ich schaue auf und alles herum hat sich verändert, ich aber, ich hinke hinterher – Gedanken, Orten, Stimmungen nach-hängend, nach-denkend.

Der Schluss daraus ist, dass ich weiter in Bäume klettern, die Böschungen zu den schmalen Fleeten hinabschlittern muss, um einen Blick unter die Brücken dort zu werfen, wo wir früher zwischen Spinnenweben schlafende Fledermäuse in den Betonnischen entdeckten, auch wenn es in den Augen anderer zwecklos ist, keinen Sinn macht, die Fledermäuse längst verschwunden sind.

 

Ich senke den Blick. Der Boden des Platzes ist stellenweise fest gestampft und fleckig, zu den Rändern hin schrundig. Flechten wachsen dort und kurzes trockenes Gras. Auf einem Haufen liegen Teile einer Holzverkleidung, ein verbogener Stahlträger, die Hälfte eines Tores, zerbrochene Gehwegplatten, Mülltüten, leere Flaschen, zwei Matratzen. Wenn der Wind einen Atemzug lang aussetzt, hört man das Knistern des feinen Schotters unter unseren Schritten. Der Bahndamm im Augenwinkel ist dunkel, grün und schattig. Eichen stehen da. Unter ihnen wachsen Efeu, Brombeeren, Weißdorn. Den Schotterplatz säumen in einem weiten Kreis Schösslinge von Birken und Weiden. Die Hauptstraße ganz hinten hört man nicht, nur die Rückseiten ihrer Häuser sieht man manchmal rot zwischen den Blättern.

Ich stehe nun also hier und bin in meiner eigenen Zeit. Mein Sohn steht einen Steinwurf entfernt und ist in seiner Zeit. Nur die gemeinsame äußere Zeit verbindet uns. Jeder von uns beiden ist in diesem Moment vollkommen von seiner eigenen Wahrnehmung umwölbt, sieht, hört und riecht möglicherweise Dinge, die dem anderen verborgen bleiben. Wird es ihm oder mir, wird es uns beiden, irgendwann möglich sein dafür Worte zu finden? Wird es einen Tag geben, da wir uns ansehen und einander davon erzählen? Werden wir Mittel und Wege haben unsere Erlebnisse, unsere Empfindungen abzugleichen?

Von Westen kommen immer dunklere Wolken heran und da sie sich vor die Sonne schieben, wird es augenblicklich kühler, sodass wir beschließen zu gehen. Man spürt, dass der Wind die Intensität eines sich nahenden Gewitters heranträgt. Scheinbar ist niemand sonst unterwegs, es ist, als wären wir allein.

Auf dem Rückweg wandert mir noch einmal im Kopf herum, was mein kleiner Sohn von diesem Sonntagnachmittag wohl mitnehmen mag. Ob er sich erinnern wird, und wie seine Erinnerungen aussehen könnten: vom Schotterplatz, dem Bahndamm und dem vernagelten Haus hinter Fichten, dem Ruf einer Möwe, oder ob all das einfach durch ihn hindurchgeht ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

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Denis Vidinski

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freiVERS | Wolfgang Doerjer

Am Bodensee

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Fünf Blesshühner herausgeschwommen.
Drei kleine lernen von den alten,
Wie Blesshühner sich so verhalten.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

Der Tag erwacht, und wieder kommen
Die Blesshühner herbeigeschwommen.
Zwei kleine werden von den Alten
Sich zu benehmen angehalten.
Dann sind sie in dem Schilf verschwunden.
Doch siehe da, nach ein paar Stunden:

Familie Blesshuhn schwimmt vorbei.
Diesmal sind es nur noch drei.
"Möwe von oben!", könnt' ich schreien,
zu spät - denn keines von den Dreien
Hat dieses Unglück kommen sehen.
So ist es dann ganz schnell geschehen:
Ein scharfer Schnabel stört die Ruh'.
Die Eltern schauen nur noch zu.

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Zwei Blesshühner herausgeschwommen.
Sie putzen sich, sie tauchen toll
Und füttern sich ganz liebevoll.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

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Wolfgang Doerjer

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