Der Würfel

Ich kann nicht sagen, wann es anfing. Vermutlich noch früher, als ich denke. Ich erinnere mich, dass ich schon vor Jahren eine, vor allem körperliche, Unruhe spürte, die ich durch nichts in den Griff bekam, weder durch Sport, noch durch das Verbannen elektronischer Geräte aus dem Schlafzimmer, noch dadurch, dass ich schließlich mit Kaffeetrinken aufhörte. Meine Frau begann immer häufiger, mich anzuschauen, als würde sie mich gar nicht kennen und wir zogen in unterschiedliche Zimmer – diejenigen in der Wohnung, die am weitesten voneinander entfernt lagen.

Lange verstand ich nicht, was los war. Ich ging weiter ins Büro. Ich kaufte weiter ein, was auf der Liste stand, und abends las ich den Kindern vor, bis es Zeit war, das Licht zu löschen. Zunächst verwechselte ich den Ton. Wir wohnten in einem großen Komplex mit 84 Parteien. In jedem Zimmer jeder der 84 Parteien befand sich ein Rauchmelder an der Decke. Die Batterien der Geräte gingen schneller leer, als auf den Verpackungen prognostiziert, was das Gerät mit einem lauten Piepen alle 60 Sekunden anzeigte. Weil regelmäßig Bewohner des Komplexes verreist waren, piepten die Rauchmelder in den leeren Wohnungen vor sich hin, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Die Hinterhöfe waren voll von nahem und fernem Piepen. Wie rote, eckige Flecken tauchten die Töne am Himmel auf und verschwanden wieder, kurz, klar und prägnant.

Am Anfang, kurz nachdem die Melder eingebaut worden waren, brachte mich das fast um den Verstand. Mehrfach alarmierte ich die Hausverwaltung, einmal sogar die Polizei, um zu bewirken, dass die Mieter ausfindig gemacht und die Batterien gewechselt wurden. Aufgrund der Anzahl der Rauchmelder war dies ein hoffnungsloses Unterfangen, und irgendwann hatte ich mich an das bipp… bipp… gewöhnt und schenkte ihm keine Beachtung mehr.

Erst als ich begann, es auch außerhalb des Wohnkomplexes wahrzunehmen, fing ich an zu begreifen, dass nicht nur die Rauchmelder piepten. Immer wieder hörte ich einen roten, eckigen Ton. Im Supermarkt vor dem Konservenregal – was angehen konnte, auch hier hingen Rauchmelder an den Decken. In einem Aufzug – schon unwahrscheinlicher, es sei denn, der Melder war hinter der Metallverkleidung verborgen. Im Park inmitten von Bäumen und Büschen und unter Wasser in einem See. Langsam verstand ich: dieses Piepen kam nicht von außen. Es war in meinem Kopf. Nur ich konnte es hören.

Ich realisierte, dass der Ton sich veränderte, je nachdem, wo ich mich befand. Fuhr ich mit dem Rad ins Büro, wurde er erst lauter und schwoll dann wieder ab. Am Stadtrand war er kaum zu hören. Ich wollte ihn nun nicht mehr loswerden. Ich hegte und pflegte ihn, ich wartete auf ihn und war beruhigt, wenn er erklang, so wie andere dadurch beruhigt werden, dass sie ein volles Konto oder ein Haus besitzen – ich hatte stattdessen meinen Ton.

Nicht nur seine Lautstärke, auch der Klang veränderte sich. Er war nicht mehr so klar, seine Kanten zerfledderten; auch wurde er dumpfer, als verschwände er in einem Tunnel. Eines Nachts wachte ich von ihm auf. Er klang jetzt quietschend, rostig und knirschend, was mich in Panik versetzte, so dass ich beschloss, mich zu erheben und auf die Suche nach einem Ort zu machen, an dem seine Kanten wieder scharf wären.

Ich zog einen alten, löchrigen Pullover an und eine abgerissene Jeans, selbst erstaunt über die Wahl der Garderobe. Auf dem Weg zur Wohnungstür blieb ich vor dem Zimmer meiner Frau stehen. Ich klopfte nicht; in Wirklichkeit war sie schon lange nicht mehr meine Frau, wir hatten uns seit Monaten nicht mehr gesehen. Als ich am Zimmer der Kinder vorbeikam, ging ich hinein. Sie waren viel älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Das Mädchen war kein Mädchen mehr, der Junge trug Flaum auf der Oberlippe. Ohne sie zu wecken schloss ich die Tür und stahl mich die Treppen hinunter, ängstlich auf das rostige Knirschen hörend, das sich wie eine Raupe durch meinen Kopf wand.

Draußen war es kühl. Ich stieg aufs Fahrrad und fuhr Richtung Zentrum; das Knirschen leitete mich. Und tatsächlich, je weiter ich fuhr, desto klarer und regelmäßiger wurde der Ton, bis er wieder rot und eckig war. Ich fuhr weiter bis zum Einkaufscenter, wo ich das Fahrrad vor einem Automaten abstellte. Der Ton in meinem Kopf war nun nicht mehr angenehm. Er wollte hinaus, das spürte ich. Meine Stirn schmerzte schrecklich, und als ich hinfasste, ertastete ich, dass sich etwas Scharfkantiges darauf abzeichnete und mit Macht nach außen drang. Gerade noch rechtzeitig öffnete ich eine Hand, um den Würfel, der aus meinem Kopf fiel, aufzufangen, einen roten Spielwürfel mit aus Punkten gebildeten Zahlen von eins bis sechs. Im Licht der aufgehenden Sonne, die mir im Rücken stand, betrachtete ich ihn. Selten hatte ich etwas so Schönes, Sinnvolles gesehen. Dann schob ich ihn in die in der Maschine dafür vorgesehene Öffnung. Es klapperte, und aus einem Schlitz kam ein Zettel. Ich fühlte mich befreit, weil das Piepen nicht mehr da war, und zog ihn heraus.

Erst zögerte ich, aber der Drang, zu wissen, was darauf stand, war groß und schließlich faltete ich ihn auf. Er war leer. Es war einfach ein Stück Papier – vorne und hinten nichts als Weiß. Darüber durchströmte mich große Erleichterung, jeder Satz, jedes Wort hätte schwer gewogen. Ich wendete mich vom Automaten ab und ging Richtung S-Bahn-Trasse. Das Rad ließ ich stehen, ich brauchte es nicht mehr. In den Bögen, über denen die Gleise verliefen, hatten Obdachlose Zelte aufgebaut, deren Farben im flachen, rötlichen Licht der Sonne leuchteten, und es standen Einkaufswagen mit Kleidungsstücken und Tüten herum. Eine Weile lang betrachtete ich sie. So war das also. Ich näherte mich einem der Zelte und öffnete den Reißverschluss. Bis auf eine Matte und einen fleckigen Schlafsack war es leer. Auf dieses, mein neues Bett legte ich mich und schloss die Augen. Ich war frei, frei und schwerelos.

 

Anette Violet

 

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