04 | Nina Radzwill

Im Spiegel des Feuers

Zerrissen.
Hin- und hergerissen.
Aus Gedanken gerissen hast du mich.
Als du auf einmal vor mir standest
mit nassen Klamotten,
dreckigen Schuhen und müden Augen.

Wie nach einer langen Reise, auf der du nicht das finden konntest, was du vergessen hast zu suchen. Dein Blick und dein Körper verrieten mir schon längst, was deine sanftmütige, zerbrechliche Stimme sich nach einer Weile Schweigen zu fragen traute: „Darf ich heute vielleicht bei dir schlafen?“

Du brauchtest eine Pause. Auch ich hatte den Stift schon lange nicht mehr abgesetzt. Nie hätte ich gedacht, dass du derjenige sein könntest, der mich mit einer leichten Berührung davon abhalten würde, wieder und wieder all die neu beschriebenen Seiten zu zerreißen und zu verbrennen, während ich mit krampfhafter Kälte die Flammen beobachtete. Die Glut. Wie alles zu Asche wurde.

Nein, wir saßen gemeinsam am Feuer und zum ersten Mal sah ich nicht die Zerstörung, sondern begriff die beflügelnde Wirkung, die es mit ihren knisternden Funken über uns hat regnen lassen. In deinen Armen. Wir saßen stundenlang dort, lasen uns gegenseitig vor und schauten den Flammen beim lieblichen Lodern zu. Der Glut. Der Asche. Nicht, wie eines zum anderen wurde; nicht, was vorher war und was bald sein würde. Nein. Wir sahen das Licht: das Gelb, das Weiß, das Blau. Wir spürten die Wärme, fühlten den Wind, atmeten die leicht nach Rauch schmeckende Luft. Wir fragten nicht danach, woher wir kamen oder wie wir nach Hause kommen würden, wo „Zuhause“ ist oder wie es auszusehen hatte. Wir sahen nicht, wer wir einmal waren oder wer wir eines Tages sein wollen. Wir sahen uns.

 

Nina Radzwill

 

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