freiTEXT | Mattia Avoledo
Frösche : Wülste
rrra – rrrrrrrrö – rrre – rre – meeh – rrere
Gurren, Schreien, Schnarren : ein heller Falz schiebt sich die Wand entlang, die Rechte nur ein Ärmel, die Linke hält einen Glitzerstein : Fugazzi lärmt es in meiner Rumpelkammer. Fleisch auf Gelb, Weiss auf Fleisch : mit Haaren. Das dümmliche gelbe Altherrengesicht sieht zum Fenster herein, schneidet einzweidrei Fratzen und zottelt mit neuem Bart ums freche Maul ab : zur Seite mit dir, alter Voyeur.
Hochschrecken : neben meinem Bett röchelt es. Fasel liegt unverändert da, Atem stossweise reinraus, mit kurzen Aussetzern dazwischen : Atemstocken. Gerüche von Schweiss und Nachtatem dringen in mein Schlafgesicht. Zwischen uns der einfache Tisch mit Stuhl, nirgends scharfe Kanten, auf dem Boden verteilte Kleider, feuchte Frotteehandtücher, meine Brille. Das Maunzen der Frösche jetzt nur noch am Rand der Bewusstseinsscheibe.
Er war mir schon am ersten Tag aufgefallen, wie er seinen breiten Körper an der Haltestange im Gang entlang schob, ohne dabei unelegant zu wirken. Ich sah beim Essen, dass er mich von seinem Tisch aus beäugte; er war einer der wenigen, die immer wieder herzhaft lachten. Nicht verhalten, nervös, leise, wie die meisten.
Die hundertachtzig Kilo heben sich nur schwach ab von der Wand, an der das Magnetbrett für Grusskarten und Besserungswünsche hängt, knochenweiss und leer, wie auf meiner Seite auch : die schwarzen Sterne der Magnete. Dann nochmals wegdösen, die Gelenke in Armen und Händen tun weh.
Sametpfötchen tatschen auf meiner Brust : hinter der dreckigen Scheibe ein Himmel und am Himmel steht ein rosa Schwert : Meine Beine bewegen sich nicht : meine Hände sind aufgeblasen und hohl wie Ballons : innen sind Gänge und Schächte und ich muss graben, graben
ich wache auf, er schläft noch, die dicke Stirn in unregelmässigen Furchen : Wülste : der Schädel frisch rasiert. Ich hieve mich hoch und stelle meinen Leib unter der Dusche ab. Kurzes Erschrecken vor dem Spiegel, du? sei tu? dann schnell heiss kalt hoch runter und ab in die Unterschläuche. Zurück ins Zimmer und Brille ins Gesicht, Handy in die Tasche, Zippen auch und Zeit ans Handgelenk. Rausgeschlichen und ab ans Zmorgebuffet: Kääs, Angge, Gipfeli, Nussbrot, Aprikosegonfi.
Die heilige Maria steht schon an der Kaffeemaschine und putzt. Ich kann sie noch daran hindern, die frische Milch wegzuschütten. Is nümme guat, weiss? Han vergiftet, sagt sie.
An den einzigen leeren Tisch setzen : Blicke vermeiden : Maria setzt sich neben mich und wir plaudern.
Später schlurft Fasel heran in seinen Riesenpantoffeln und löst sich einen kleinenschwarzen. Sein Zmorge besteht aus einer Schale Milch mit Unmengen an Caotina, Ovomaltine und Frühstücksflocken. Die Milch auf dem Suppenlöffel, die hin und her schaukelt, während er an der Spitze saugt; kleine Wellen; das feste Material schwappt erst im letzten Moment in sein grosses Maul. Wir lächeln, als Maria erzählt, wie streng sie ihr Laufhaus führe, und werden dann ernst, als sie uns aus ihren schwarzen Teddybärenaugen anblitzt.
Gell Schatz, du luagsch zu mir? Weiss, ich han viele Männer, schenke mir imme viele Sache. Wenn ich dir gebe hundert Euro, ich kann machen mit dir was ich will? Gefälltdi oder? sagt sie zu mir und lacht ihr helles Lachen.
Wir verdrehen kurz die Augen, als sie ins Raucherzimmer verschwindet, und müssen uns dann gegenseitig versichern, wie sehr sie uns doch leidtut. Ich sehe wie Gabi, die jetzt auch am Tisch sitzt, kurz schielt und dann nervös mit ihrem Tablett hin und her schabt. Ich beruhige sie: die heilige Maria erzählt jeden Tag andere Geschichten, keine davon muss wahr sein. Von den andern Tischen her spüre ich die Blicke der Mitpatient:innen. Manche urteilend, andere verwirrt, belustigt, gleichgültig, viele einfach nur traurig.
Der Tschüffel schlägt unnötig laut auf dem Gong herum und stolzt durch den langen Gang, dieser Mannsgoggel. Ich schenke ihm ein müdes Lächeln, ich Opportunist. Wir trinken unsere Kaffees aus, räumen Geschirr und Besteck weg und schlurfen in den grossen Raum rüber, wo jeweils die Therapien stattfinden. Es heisst Koordinationsgruppe, also eine halbestunde lang zuhören, wie alle einzeln herausbröseln, was sie so zu tun habenwollenmüssen an dem Tag, und die Pflege, die dann jeweils sagen darf, dies oder jenes falle sowieso aus, das sei später, dieses früher, und dann geht das Spiel von vorne los bei der oder dem nächsten. Hier läuft die Uhr nach einer eigenen Zeit ab, wie Gabi immer sagt. Oder war es umgekehrt?
Hier: das ist die UPK Basel; sind, nicht ist; Mehrzahl. Die meisten sagen immer noch puk. Das gefällt mir. Die Stadt wollte mit dem neuen Akronym verhindern, dass man puk sagt, es wurde zu einem stehenden Begriff: puk, wie Wäbstüübli, puk, wie Burghölzli, wie Waldau, är isch indr puk, hesch ghört? Sie isch widr indr puk glandet, s het jo müesse sowit ko, sisch nüm so witergange. Ich bin also in der puk, und ich bin nicht das erste Mal da.
Lange schwarze Haare und Blut, Laken, Imperatrix Furiosa fährt ihren Laster durch die Wüste, Tom Hardy schluckt Sand, am Boden leere Blister Temesta, Cymbalta, Stilnox, Strähnen, eine Bong, beschlagen, ein junger Mann, hinten lange Haare, vorne ganz kurz, unregelmässig, ein Rasiermesser, Schnitte zwischen den Büscheln Haaren und auf der Stirn, keine tiefen, ein Bildschirm zeigt einen Sturm. Und er ruft einen Namen, nochmals. Beine zittern, kalter Schweiss, heisser Atem, reiben, es ebbt ab und flutet an und er treibt weg und wird wieder angespült. Küsten der Verzweiflung. Dann Wasser aus dem Maul : kein Schluck. Türrahmen konkav eine Kurve, versucht sich festzuhalten : auf Watte gehen. Blööterliwasser im Kopf, Piksen in Ohren, Lidern, im Nacken : Reissen unter der Haut. wen anrufen? Vatermueterkind, vier gewinnt : wer nicht wagt : wo war er gleich? Ah, kann nicht schlucken. Reinsteigern. Rein steigern. R einsteig ern.
Aber das war ja früher gewesen. Jetzt machen wir einen Spaziergang über das weitläufige Areal, vom Froschtümpel zur Orpheus-Statue und zurück zum Kranich, dem kleinen Restaurant in der Mitte des Areals.
Bäume, Ziegen, Katzen, Hühner, Hasen, Meerschweinchen und Schafe gibt es hier. Auf den Weglein gehen, hinken, tanzen, krabbeln, schieben, stelzen die Patient:innen und Angestellten, die Ärzt:innen, die Depressiven, die Schizophrenen, die Manischen, die Süchtigen, die Psychotischen, die Traurigen und die Euphorischen, die Alten und Jungen, die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, die Gärtner:innen, die sogenannten Kranken und Gesunden auf Gottes grosser Erde. Früher habe ich gedacht, ich gehöre nicht hierher, ich bin nicht krank. Das hat mein Vater gesagt. Aber jetzt gehöre ich hierher, gehöre zum Raucherzimmer mit gelber Tapete, zur Aromatherapie, zur Medikamentenausgabe, zum Plaudern mit den Leuten in der Forensischen, durch den Gitterzaun durch, zum nächtlichen Geschrei und zu den Tränen.
Ich gehe neben Herr Fasel und höre ihm beim Plappern zu. Er erzählt mir von seinen Katzen, die in einem teuren Katzenhotel untergebracht sind, während er in der Klinik ist. Er erzählt mir von seiner Mutter, die immer für ihn eingekauft hat. Er ist um die fünfzig; seit er mit Mitte zwanzig eine Invalidenrente gesprochen bekommen hat, hat er die allermeiste Zeit zuhause verbracht, mit seinen zwei Katzen, vor dem Computer. Er hat Siedler gespielt und online gechattet. Seine Mutter wohnte in der Wohnung auf demselben Stock. Als sie vor kurzem starb, musste er selbst einkaufen gehen und ass so viel, dass er irgendwann nicht mehr aufstehen konnte und beinahe auch starb. Nach der Notfallaufnahme und den Wochen im Spital, in denen erst das Wasser aus seinem Körper herausgearbeitet wurde, musste er wieder gehen lernen, dann war er auf der psychiatrischen Krisenintervention und jetzt war er hier. Er will abnehmen und er will Sex haben. Er hat schon früh gewusst, dass er schwul ist, hat sich geoutet, aber noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Als er in mein Zimmer verlegt wurde, meinte ich, er solle doch Grindr installieren. Er schrieb wohl mit einigen Männern – ich weiss nicht, ob er auch je einen davon getroffen hat. Herr Fasel lacht viel und öffnet dabei seinen breiten Mund, so dass man seine wenigen verbliebenen Zähne sieht. Für einige Patient:innen ist er die wichtigste Ansprechperson hier. Er ist einfühlsam und kann gut zuhören, besser als viele der Psycholog:innen. Wie hatte er ein Vierteljahrhundert so isoliert überlebt? Hat er sich in einem Traum versteckt? Sich fallen gelassen, sich entschieden, einfach nicht zu landen?
Das meiste hat Fasel mir zwischen Schlaflosigkeit, Raucherzimmer und Spaziergängen erzählt. Manchmal schreibt er Gedanken und manchmal schreibt er andere Dinge auf. Ich habe nie etwas davon gelesen. Ich will auch schreiben.
Es gibt viele Menschen hier, die schreiben. Es wird viel geschrieben. Die Ärztinnen schreiben Rezepte und Notizen, die Psychologen schreiben mit und malen kleine Kringel am Rand ihres Blattes. Die Sozialarbeiterin schreibt sich ein paar Informationen über die Arbeitssituation auf. Reintegration, Arbeitsmassnahme, Arbeitsversuch.
Die Enten tauchen zwischen den Fröschen im Teich, zwischen der Grütze und dem langen Farn. Kleine Inseln zum Verweilen. Schreiben wogegen?
Fasel hat sich besonders mit zwei Mitpatienten angefreundet, die nicht mehr auf der Station waren, als ich ankam. Ich habe ihn nach seinem Austritt einmal besucht, der Gestank nach Katzenklo hat die Stimmung noch trister gemacht. Seine Wohnung befand sich in einem dieser unwirklichen Hochbauten am Rand der Stadt, mit sechzehn Stockwerken oder mehr. Er sass mit den beiden Freunden, Yannis und Mirko, auf dem Balkon, sie tranken Bier, kifften, riefen mit unterdrückter Nummer in der Klinik an, um die Pflege dort zu nerven und swipten auf Tinder, beziehungsweise Grindr. Dann erzählten sie mir, wie sie den Abend zuvor gemeinsam im Puff gewesen waren. Yannis und Mirko hatten zusammen eine Prostituierte gefickt, sie sagten immer wieder gefickt, betonten das -fi-; Fasel hat dabei zugesehen. Yannis war ganz aufgeregt beim Erzählen, sein Kopf dunkelrot, er habe nicht mehr aufhören können, bis die Nutte nicht mehr konnte, dabei kratzte er sich den Schorf von den Unterarmen. Seine Brustmuskeln spannten am Shirt. Fasel sah mich ratlos an. Mirko war erst Anfang zwanzig, ich wusste nicht, wieso er mit den beiden viel Älteren abhing. Er meinte, am Geländer mit Katzennetz stehend, wir könnten uns jetzt einfach da hinunterstürzen, vom Balkon, aus dem zwölften Stock. Niemand widersprach. Ich spürte ihre Langeweile und ihre Verzweiflung, ein Kloss und ein Puls im Hals, es tat mir weh und ich war froh, nicht wie sie zu sein, und ich hatte Angst, ich könnte wie sie werden, und es tat mir leid, dass ich so dachte und fragte mich, ob ich so denken dürfe, und ich war dankbar, Freunde und Familie zu haben, die für mich da waren. Die stabil waren. Die drei lachten und meinten, sie wollen mich jetzt ins Bordell mitnehmen, oder zumindest zum Koksen oder zum Schwimmen am Rhein. Ich winkte ab, ich müsse wieder zurück in die Klinik und sowieso … Yannis meinte, es sei alles nur Spass. Mirko lachte leise und aus seinem hübschen Jungengesicht strahlten zwei blaue Augen, die ich nicht zu deuten wusste. Fasel sah mich an, sein breites Maul zog sich zu einem entschuldigenden Lächeln auseinander. Ich hoffte, dass er sich nicht wieder in seiner Wohnung einsperren würde. Das sagte ich ihm beim Abschied. Er sagte, er wisse es noch nicht. Ob er unter den Menschen bleiben möchte.
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freiVERS | Natalia Sadovnik
Kiewer Konjunktiv
Mit gemischten Gefühlen tauschen wir
flüchtige Substanzen: Blicke, Luftschlösser, Frostschutzmittel.
Atmen die Zimmerluft ein — in diesem Land weiß man nichts von Stoßlüften.
Es lebt von Neinsagern & alter Freiheit.
Vom Himmel
r
......e
...g
.........n
......e
t
es
Butterblumen.
Sie suchen unsere Träume heim,
die Körper,
die erschlafften Häuser.
Lass uns ein Netz spannen,
von Ruhe zu Ruhe.
In leisen Momenten
einander entgegenblühen.
.
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freiTEXT | Katharina Unteutsch
Mint
Es gab eine Zeit, in der ich mich von einer Fernsehwerbung für koffeinarmen Kaffee verfolgt fühlte. (Ich möchte schreiben: obsessiv verfolgt, aber kann man sich obsessiv verfolgt fühlen?)
Ich hatte eine Obsession mit vielen Dingen, Sätzen zum Beispiel oder Liedern. Wobei es eigentlich nie ganze Lieder waren, immer nur eine oder anderthalb Strophen oder, was am schlimmsten war, nur der Refrain. (Dass ich später eine Zeitlang in einem Kindergarten arbeitete, machte es nicht besser.) Die Kaffeewerbungsobsession fiel in eine Zeit, in der ich Seminare an einem Zentrum besuchte, das Career Academy hieß. Leute, die einen Uniabschluss gemacht hatten, wie ich, konnten dort Dinge lernen, die sie in irgendeiner Weise mit der Arbeitswelt vertraut machen sollten. Ich war sehr unvertraut mit fast allem aus dieser Welt. In meiner Erinnerung sitze ich tags auf dem Fußboden über Jobanzeigen, deren Überschriften mich so nervös machten, dass ich nicht wagte, weiterzulesen, und aß abends auf dem Fenstersims weinend Spaghetti. Ich hielt mein Gesicht unter Wasser und ging schlafen. Das waren meine Tage.
Einmal kam eine Frau vom Arbeitsamt in die Career Academy und sagte, wir sollten uns in einer Reihe aufstellen, nach den Anfangsbuchstaben der Wunschberufe, die wir als Kinder hatten. Fast alle waren in ihren Kindergedanken Bildende Künstler*innen, Violinist*innen oder erforschten die Tiefsee. Dann hatten sie BWL, Jura oder etwas, das sie vage interessierte, auf Lehramt studiert.
Die Frau sagte, wer ein halbes Jahr nach dem Uniabschluss nicht in den Arbeitsmarkt hineingefunden habe, hätte es sehr schwer, dort noch einen ordentlichen Platz zu finden. Ich rechnete die Monate nach, in denen ich nach der Uni Kuchen an gleichaltrige Agenturgründer verkauft hatte: Es waren zu viele. Ich würde mich sehr beeilen müssen, wenn ich nicht zu den Verdammten gehören wollte, die für immer außerhalb des Kreises blieben.
Fast alles, was die Frau von der Agentur sagte, gab mir dieses Gefühl, das ich hatte, wenn mir jemand eine schöne Restwoche wünschte – als wäre kaum etwas übrig von dem, was einmal groß und ganz vor uns gelegen hatte. Aber an so einer Woche ist ja heutzutage auch nicht mehr viel dran.
Als ich anfing, Kuchen zu verkaufen, hatte der Cafébesitzer zu mir gesagt: „Du darfst dem Kuchen nicht zeigen, dass du Angst vor ihm hast.“ Er führte mir vor, wie ich das Messer in lauwarmem Wasser abstreichen sollte, und dann: den sauberen Schnitt durch Schichten von Erdbeermousse, Basilikumcreme und Biskuit, und wie sich die Torte schließlich beherzt, ohne spürbare Angst, auf einen goldgerandeten Teller schieben ließ. Die Agenturleute, von denen ich einige noch aus der Schule kannte, tranken zum Glück nur Kaffee. Und im schlimmsten Fall konnte ich meinen Kopf in die metallenen Kühlfächer hinter dem Tresen halten.
Die Frau aus der Werbung hätte niemals Kuchen gegessen. Noch weniger als das Model, das in einem Interview sagte: „Alle zwei Wochen gönne ich mir einen halben Keks.“ Die Frau in der Werbung aß gar nichts, aber natürlich war sie trotzdem den ganzen Tag glücklich. Sie hatte das perfekte weiße Neunzigerjahreloft und trug morgens graue Wollsocken zu einem riesigen weißen Hemd. Alles, was sie tat, war lässig, beiläufig und professionell: Im Businessdress hielt sie Männern in Anzügen nickend Mikrofone hin, war dann inlinernd mit einer Gruppe lachender Pastellfarben im Park unterwegs und knipste abends, den schönen Mann in einem Arm, die Fernbedienung in der anderen Hand, im Kleinen Schwarzen unsere Blicke aus. Und natürlich trank sie ihren Kaffee schwarz.
Sie war definitiv eine Frau, die sich nicht vor Titeln von Stellenanzeigen fürchten würde. Sie würde die Titel einfach weglachen und sich einen Lightkaffee in die mintfarbene Tasse gießen, in der Sonne am Fenster.
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freiVERS | Noha Abdelrassoul
Ziellose Wanderung
I.
Kleine Flasche Wasser, Nutella-Glas,
andere Gegenstände, die ich von meinem Platz aus
durch die Gitter des Korbs
unter dem ledernen Sitz eines Rollators
nicht erkenne.
Eine ältere Dame sitzt gegenüber,
wartet auf den richtigen Zeitpunkt
um aufzustehen.
würde sie meine ausgestreckte Hand annehmen,
meinem Tag einen Sinn verleihen?
Ich erinnere mich
meine Großmutter bewahrte Verschiedenes
bei sich
unter dem Sessel,
den sie kaum verließ
außer während des Erdbebens 92,
da hat der Sessel sie verlassen.
Damals rief sie meine Mutter an
sprach
leise, in halb-seriösem Ton:
„Tochter, rette mich
der Sessel tanzt mir weg.“
Auch meine Mutter hat jetzt
einen Lieblingssitz.
Alltagsdinge häufen sich dort an
eine Flasche Wasser
Papiere, Telefonbuch,
Mobiltelefon, Fernbedienung,
Familienfotos, Tablettenbox und Snacks.
Ihr Sessel ist, neben der Küche,
ihr einziger Arbeitsplatz
die Ecke, die ihr gehört.
II.
Einmal bin ich mit einer Fremden mitgerannt,
es war ein Rennen,
dem ich mich wie ein Eindringling
kurz vor dem Ende anschloss.
Ich wollte den Fahrer bitten, auf sie zu warten.
Nur hatte er sie bereits im Seitenspiegel gesehen.
III.
Vor einigen Jahren,
während wir auf der Autobahn
umgeben von Wüste fuhren,
sah ich mich rennend,
dem niedrigen Himmel entrinnend
sah, dass er mich doch am Ende traf.
Ich erfinde Wettrennen, die es nicht gibt,
einen Grund loszurennen
ohne Halt und ohne Ziel.
IV.
Einmal bin ich zu dir hinüber gerannt,
nahm an dass du mich brauchst,
dass nur ich deine Angst auflösen kann,
dass ich, allein, dich ins Leben zurückrufe.
Ich dränge mich den Wegen von anderen auf,
schleiche mich in Lebensreisen hinein,
verlasse persönliche Kämpfe
und meinen Fleck
leer und kalt,
wandere weit weg
wie die Seele einer Schlafenden.
.
.
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freiTEXT | Jakob Hagen
Verlaufen lernen
Schritt 1: Genesis
du bist resultat und anfang stehen voreinanderweggenommen werden ursache und wirkung miteinander ausgetauscht wird jeder einmal mehr das leben zeichnen und du strahlensonnen häuserdächer schützen was die zukunft in sich trägt ist weit weniger als jetzt die beine voreinander schlägt und deine stimme will nicht sprechen ist der erste schritt so schmerzhaft ist der niedergang wird dir nicht schaden zu vermeiden und als elter steht man meist nur nebendran vergeht die zeit noch schöner ist das licht das dich begrüsst die morgenluft verhältnismässig warm wird es um dich ein reigen und geliebte hände die sich vor dich stellen und dir den weg geleiten
Schritt 2: Exodus
bei allem was wir lernen niemals aus ist die bedenkenlosigkeit greift um sich nichts mehr vorzumachen schliesst du dich berührt nur noch der schmerz ist allumgebend tiefer atem haltend bis du auferschrickst in deinen nächten wanderst du umher verschlagen dich gedanken wiederkehrender beglaubigung als ausweg ausgebrannt und ungeformt sich durch die rippen frisst sich die erkenntnis dass du selbst dir überlassen bist
Schritt 3: Requiem
im schmerz der dunklen nächte bist du kälte über heizungsstäben flimmern nachtmusiken ziehen durch die träume wachen schlafend über dir im glockenspiel die knochenzwischenräume flüstern leise fluchst und fühlst du dich nicht ernst genommen werden unsere fragen schallen niemals muss die antwort lauten trommeln folgen wir und weisse schwäne malen hoch erhoben wolken traumverhangen bis zur atemlosigkeit so treibt sich schweiss zu perlen tränend alles dagewesene mit sich reissend nein du warst nie mehr für mich nie mehr als staub in sonnenflecken leuchtet starr verdreht sich etwas sagen wir vergehen unter uns erhebt sich weissgewandig was dich ausgemacht hat war weit mehr als deine worte schreiben jetzt nur noch der tau zwischen den fensterscheiben kreischen wild gewordene fetzen die die welt bekleiden scherben in dir schreit und faucht der teufel pauken schlagend gegen die gesichter sprechen alles fällt mit dir wird klar dass es in deinen zeiten niemals anders war es angst gewesen die dich zähmte niemand las je deine zeilen ungelesen sich zu wasserzeichen quellen die sich schlafen legen sorgenfalten um sich werfend
es erschlägt dich
du bist nicht mehr unverwundbar
du bist kind gewesen
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freiVERS | Nero Campanella
der fuchs
laubfarben lautlos
wie ein in den herbst gefallener
gedanke schnürt er dir ent-
gegen
ein träger pfeil
mit schnauzenspitze, ein zahn
seitlich sichtbar : scheinlächeln
neben
dem weg (wo du gehst), nicht parallel
doch gerade wie ein steinfall wie auf
geleisen äquatoren wie unbiegsames
licht – was folgt er?
so klar folgt man
weder der liebe noch dem zwang , nur
dem geflecht aus beiden : dem geschick
er
kann es wittern , noch die fernste zukunft
ist von seiner zunge feucht
man weiß nie:
hat er tollwut – oder nur methode?
.
indes sein atem dein gehör streift
wird dir fiebrig jäh von seinem fell
.
.
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freiTEXT | Henni-Lisette Busch
Maßnahme
Ich sehe keinen Horizont mehr, sage ich. Vor uns rollt sich in den Sand die See und krause Gischt sieht ganz kurz aus wie schaumgeschlagener Stoff, platzt und versickert. Die Wellenausläufer ziehen sich zurück in das himmelgraue Meer, das irgendwo ganz weit hinten sich vorn überwölbt und über uns rollen sich die Wolken in die Höh. Da ist kein Horizont, nur die Buhnen sind ein Strich.
Ich sehe auch keinen, sagst du. Da ist nichts in Sicht. Und aus deinem Mund klingt das nicht so, wie ich das eigentlich meinte, sondern hoffnungslos.
Immer, wenn wir uns sehen, bist du geschminkt, sind deine dichten Wimpern hochgeschwungen, ein Lidstrich gezogen und manchmal schmückt deinen unteren Wimpernkranz eine grüne oder graue dünne Puderlinie. Ich trage, wenn, dann nur Mascara und ich traue mich nicht, zu sagen, dass ich morgens keine Zeit habe zum Schminken, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du, den du jeden Morgen manchmal mehrmals anziehst, weil er einen anderen Pullover will, den mit dem Löwen, nicht den mit den vielen kleinen Dinos drauf, oder weil er zu übermütig einen Schluck Saft nahm. Nicht, weil ich einen Sohn habe, wie du, dem du jeden Morgen Frühstück machst, zumindest ein kleines, und dann Zähne putzen und nochmal spielen und ihn dann davon überzeugen, dass seine Freunde bestimmt schon warten auf ihn im Kindergarten. Und während du durch deine Drei-Raum-Wohnung läufst von Tür zu Tür hängt an fast jeder Wand und auch am Kühlschrank ein Bild, wo ihr noch zu dritt seid, oder eins von dir und ihm, der jetzt zwar weg ist, aber immer noch der Vater deines Sohnes und immer noch jeden deiner Gedanken und jede deiner Tränen wert. Ich habe morgens keine Zeit, nicht, weil ich einen Sohn habe, wie du, den du dann um acht in den Kindergarten bringst und dann sitzt du manchmal erst um neun wieder im Auto, weil dein Sohn dich nicht gehen lassen wollte und dann musst du zur Arbeit fahren und selbst gefrühstückt hast du meistens nicht. Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich morgens keine Zeit habe zum Schminken, weil ich geschlafen habe bis um neun und dann um zehn auf Arbeit sein muss.
Wie weit ist es wohl bis dort hinten, frage ich, und stell dir vor, du hast ein Schiff, das dich bis dorthin trägt. Ich glaube, ich würde an Bord gehen, sage ich, und Maß nehmen bis wir dort sind, wo sich das Meer vorn überwölbt. Du sagst, nein, ich nicht, aber du zögertest, lächeltest noch kurz bevor du das sagtest. Komm, wir gehen, es wird kalt und du wendest dich um und gehst. Ich sehe dir nach, deine Gestalt verschwindet, sie wird an Land geweht bis dorthin, wo sie gebraucht wird.
Immer, wenn ich dich besuche, hast du gekocht, Kartoffeln mit Schwarzwurzeln und Fischstäbchen oder Lasagne, die nicht aus Nudelplatten besteht, sondern aus dünnen Zucchinischeiben, dazu einen frischen Salat und Getränke hast du immer da, Saft, Mineralwasser und Schokomilch. Ich trinke immer nur Leitungswasser und traue mich nicht zu sagen, dass ich keine Getränke kaufe, weil mir das zu aufwändig ist. Einen Nachtisch gibt es auch jedes Mal und manchmal, bevor ich losgehe, ein Betthupferl für alle, denn dein Sohn muss ins Bett und der kann schon verhandeln. Und noch bevor ich gehe, läufst du durch deine Drei-Raum-Wohnung von Tür zu Tür und ziehst dich nebenbei schnell um, wenn dein Sohn gerade nochmal kurz spielt, legst schon das Buch bereit, das ihr euch zusammen anguckt, bevor ihr schlafen geht, schminkst deine schönen Augen ab und kündigst nebenbei immer wieder an, aber gleich geht es ins Bett, damit dein Sohn, der gerade wieder spielt mit kleinen Töpfen und Plastikobst, hoffentlich langsam müde wird. Dann gibst du mir noch Abendbrotreste in einer Tupperdose mit und dann gehe ich vorbei an all den Bildern an der Wand, wo ihr noch zu dritt seid. Hinter mir schließt du die Wohnungstür und drehst den Schlüssel zweimal um und winkst dann kurz noch aus dem Fenster, bevor du irgendwann müde in dein Kissen sinkst. Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich keine Getränke kaufe, weil mir das zu aufwändig ist, mir aber fast jeden Tag einen Karamell Macchiato hole, bevor ich um zehn auf Arbeit bin.
Ich stelle mir vor, ich gehe auf das Schiff, dass mich dorthin trägt, wo sich das Meer vorn überwölbt. Dass ich keinen Horizont mehr sehe, heißt Lust, ihn zu übersteigen, aber ich traue mich nicht zu sagen, dass es mich in die Ferne zieht und weg aus meinem kleinen Leben, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du und Verantwortung, die erdrückt. Du legst jeden Monat Geld zurück und hast immer noch die Spielsachen deines Sohnes von früher und die Kleidung, in die er nicht mehr passt, weil du eigentlich ein zweites Kind willst, aber den Vater dieses Kindes gibt es nur als Fotos an Wänden und der Kühlschranktür. Ich traue mich nicht zu sagen, dass es mich in die Ferne zieht und ich nicht weiß, ob ich mal Kinder will, nicht, weil ich einen Sohn habe wie du und nur mich selbst dazu, sondern weil ich Angst davor habe, das alles nicht zu schaffen.
Ich lasse das Schiff ohne mich ablegen und gehe landeinwärts hinter dir. Hinter uns rollt sich in den Sand die See und krause Gischt sieht ganz kurz aus wie schaumgeschlagener Stoff, platzt und versickert. Die Wellenausläufer ziehen sich zurück in das himmelgraue Meer, das irgendwo ganz weit hinten sich vorn überwölbt. Ich würde dir gern sagen, dass, nur weil ich keinen Horizont dort sehe, es trotzdem einen gibt für dich und bestiegen wir beide das Schiff, nähmen wir Maß, bis wir ihn erreichten und je nach Wetter und Höhe des Schiffs sind das auf offener See ungefähr 20 nautische Meilen.
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freiVERS | Ferenc Liebig
Das Haus. Stillstand.
(1)
Das Haus ist zu groß für einen,
der seinen Lebensbaum längst
gefällt hat, um Brennholz
für den Winter zu haben.
Aber groß wäre es auch,
wenn man nicht einsam wäre,
inmitten der Leere,
die zu jeder Jahreszeit
durch die Fenster lugt
und ihre abgenagten Kadaver
auf die Veranda legt.
(2)
Man spricht über Tiere.
Der Marder hat den Schlauch
der Scheibenwaschanlage durchgebissen,
Ein Waschbär hätte die Vorräte im Schuppen
geplündert und unter dem Dach nisten Vögel,
im Anbau zeigst du auf drei Bienenstöcke,
draußen dann sagst du,
schau mal hier, durch dieses Loch im Zaun
wäre der Fuchs hindurchgekommen
und hätte sich die Hühner geholt.
Deine Erinnerung an früher
ist wie morsches Holz.
Du puhlst darin den Staub
der Vergangenheit hervor.
(3)
Und dann ist es ruhig.
Du hast die Axt zurückgestellt,
läufst barfuß über das hüfthohe Gras,
berührst die Blütenköpfe
mit der Neugier eines Kindes.
Die Sehnsucht würde dich
am Leben halten.
Die Sehnsucht lässt dich aufstehen
und an früher denken.
Wenn der Herbst kommt,
beruhigt dich die Dunkelheit.
(4)
Das Haus ist groß,
von innen wirkt es nochmals größer,
als würde einen optischen Trick geben,
der das Äußere kleiner erscheinen lässt.
Das Haus war schon immer zu groß gewesen,
selbst als die Eltern noch lebten,
mit Decken um den Beinen,
in den letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers.
Du sprichst von Vergebung,
Hohlräumen unter deiner Haut,
damals noch mit Berührungen befüllt,
trocknen sie nun langsam aus,
werden kleiner, drängen sich an die Knochen,
bis sie gänzlich verschwunden sind und
nur noch ein ledriger Film verbleibt.
(5)
Durch die Wälder treibt es uns,
ganz tief hinein in die seligen Schatten,
wo wir uns Läuterung versprechen
und so sind es unsere bemoosten Füße,
die hinein ins wuchernde Dickicht laufen,
sich Schneisen bahnen
durch benachbartes Grün.
Nichts vermenschlicht,
nicht einmal mehr wir,
werden nur eins dieser Geräusche,
das noch kurz widerhallt
und sich dann gänzlich niederlegt.
(6)
Du holst tief Luft, hältst die Luft
in deinen Lungen, schließt deine Augen,
atmest langsam wieder aus.
Nichts könnte dich von hier trennen.
Während du das sagst, wird dir bewusst,
wie wenig du von der Welt gesehen hast.
Gestriger Regen tropft von den Blättern.
Ein Jaulen kommt aus den Tiefen.
Du holst erneut tief Luft,
berührst dabei deinen Brustkorb.
Es riecht nach Erde.
Die Baumkronen verdecken
den Großteil des Himmels.
(7)
Im Haus ist es dunkel.
Geweihe hängen an den Wänden.
Im Schrank warten polierte Gewehre.
Auf unbehandelten Holzbrettern in der Küche
befinden sich Tassen und Gläser und ein Foto
der Eltern wurde neben ein Kruzifix befestigt,
wie sie auf einem Berg stehen,
Arm in Arm, ein angedeutetes Lächeln,
im Hintergrund Wald und Wanderer.
Da waren sie noch glücklich, sagst du,
nimmst das Bild in die Hand und
schüttelst wortlos den Kopf.
(8)
In der Bestallung gibt es ein Versteck.
Als Kind hättest du dort im Verborgenen
Gedichte geschrieben.
.
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freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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freiTEXT | Thea Mantwill
Wurm
Neulich wachte meine Freundin, die in ihrer Freizeit Bäume zu fällen pflegt, neben dem Mann in ihrem Bett, das bis zu dieser Minute ebenfalls seines gewesen war, auf und stellte fest, dass sie ihn nicht wollte, nicht kannte und schon jetzt nicht vermisste. Auch über das Verrücktwerden habe ich nachgedacht und fand den finalen Frieden damit darin, dass ich es gar nicht bemerken und die Konsequenzen meiner Ver-rücktheit, ähnlich wie bei meinem Tod dann, die Umwelt tragen müsste, ja dass ich sogar die am wenigsten davon berührteste Person überhaupt wäre. Damit bin ich mehr als nur einverstanden. Außerdem fragte ich HC, was ihr Name bedeute – vor allem eine Sache ganz besonders, aber man habe leider vergessen, welche. Patricia Lockwood hat dieses unglaubliche Buch geschrieben, über das Kind und das Portal; ein winzig kleines Virus hat die Welt meinen Bedürfnissen als Soziophobikerin endlich angepasst und die ganze Verdorbenheit meines Charakters in überbordender Freude auf menschenleeren Straßen sichtbar gemacht, die ich wegen eines knittrigen Zettelchens von einer Firma zu jeder Tages- und Nachtzeit betreten durfte; mein Vater hatte im Krankenhaus pünktlich und publikumswirksam zur Visite einen Herzanfall, vor all den Ärzt:innen und war, als er im Zoom davon erzählte, von einer so unüberbrückbaren Einsamkeit umgeben, dass ich mich danach weinend mit dem Gesicht nach unten auf den guten Holzboden legte – aber nur, bis es klingelte und die Pizza kam, weil die sonst kalt geworden wäre. Was meine Welt aber wirklich zum Kippen brachte, war der Wurm an meiner Zimmerdecke.
Würmer sind nämlich nicht oben, es gibt keinen Grund und vor allem keine physiologischen Möglichkeiten für einen Wurm, sich dort aufzuhalten, das bestätigte mir später auch Google. Trotzdem war er da, in der regenreichsten Nacht dieses Sommers, die den heraufziehenden Morgen wie ein riesiges, alles umgebendes Schwimmbassin klingen ließ. Ich war um fünf Uhr aufgestanden, um genau den Zwischenraum abzupassen, in dem ich am wenigsten ich bin und trotzdem da, in dem alles mir gehört und niemand von mir weiß – die Antipode zur Blauen Stunde.
Aber der Wurm war da und zerstörte alles – meinen bis dato unerschütterlichen Glauben an die Allwissenheit des Internets und der verlorene Morgen bildeten noch den geringsten Verlust, nein, viel schlimmer, dass ich mich mit der Tatsache befassen musste, dass es einen solchen Wurm laut dem Rest der Welt (also dem Internet) nicht geben konnte und dass kein Plan, keine Morgenroutine, kein unbedingter Wille und schon gar nicht das letzte durch die Desillusionierung gerettete bisschen Disziplin mich vor Einbrüchen dieser, jener, einer anderen Welt in meine zu schützen vermag. Ich bin 14,33 mal größer und 6000 mal schwerer als dieses Lebewesen mit seinen fünf Herzpaaren in den Ringen 7-11, und trotzdem ist es einfach bei mir eingezogen.
Seine Flucht vorm eigenen Element hatte ihm wohl zu Höchstleistungen verholfen, aber das ist nur logisch: wer nicht feige ist, kann auch nicht mutig werden. Das Wasser hat er klug gewählt, und wenn ich recht überlege, sind auch Bücherwürmer wirklich gefuchst (Foxing is an age-related process of deterioration that causes spots and browning on old paper documents such as books, postage stamps, old paper money and certificates). In einem einzigen Material alles zu vereinen – das Haus, das Bett, das Mahl – liegt noch mindestens drei Level über der Schnecken-Experience (home is where my heart is). Will ich in mein Bett beißen? Zumindest wäre es nice to know, wie mein Nachtplatz und mein Zimmer schmeckt, ob es einen Zuhause-Geschmack gibt und wie man diesen erfahren kann, bevor er einem zwischen dem Gaumen und den Fingern zerrinnt wie die Zuckerwatte diesem eifrigen Waschbären auf Youtube. Übrigens noch so eine Frage, an deren Antwort Google grandios scheiterte, wenn man ihr auch durch langsames Einkreisen – wie riecht meine Nase von innen? – zumindest näher kommen kann als der Lösung des Wurmrätsels.
Offenbar brauchte es ein Würmchen, um mir meine Hilflosigkeit gegenüber der Welt und ihre Gleichgültigkeit gegenüber mir als unverrückbare Tatsachen bewusst zu machen – mit denen man sich dann plötzlich doch arrangieren kann, wenn sie auf einmal da sind. Vielleicht ist es auch eine sinnvolle Übung, sich diese Tatsachen, die Verletzlichkeit, die Furcht und die Ohnmacht gelegentlich selbst vor Augen zu führen, oder zumindest mit ihrem Auftauchen, ihrer Existenz als (bisweilen sehr ästhetischem) Riss oder rosa glänzendem, recht elegantem und kletterbegabtem Wurm zu rechnen – mit irgendeiner überraschenden, deplatzierten und besonders glitschigen Wendung des Lebens zu rechnen, oder man wacht eben eines Tages als Käfer auf, oder als größenwahnsinniger Schuhlöffel.
Vielleicht sind wir auch gar nicht imstande, die Welt um uns herum wahrzunehmen, ohne den Riss. Vielleicht macht erst dieser Fehler, eine plötzliche Öffnung, die nicht rückgängig zu machende Macke das Verhältnis der Dinge zueinander, unseren vermeintlich neutralen Blick auf die Welt, die bisher unbeachteten Dinge sichtbar, ihre und unsere Bedeutung, den bisher nicht geschätzten Wert. Wie immer glänzt alles erst so richtig in Abwesenheit.
Wie schön es ist, wieder zu lesen, nachdem man fast nichts mehr sah. Was für ein unersetzliches Gefühl, zu laufen, wenn auf einmal nicht mehr sicher ist, dass man das für immer können wird. Das erste Mal auf der Straße, unter freiem, unverbautem Himmel in frischer, schneidend kalter Luft nach einer Woche Lockdown und Atemnot. Der Mangel und der Makel als Vergrößerungsglas für die Schönheit der Wunde – was eben noch klang wie ein rotweingetränktes Altherrengedicht wird zur Erfahrung, wenn es begrenzt, und zum Kleinod, kurz bevor es zerstört wird.
Als sie das sensible und sture Herz meines Vaters wieder zusammengeflickt hatten und man wieder reisen konnte, traf ich ihn eines Mittags zufällig auf der Straße in meinem Stadtteil. Ich hatte keine Lust mehr gehabt, zu arbeiten und daher einfach damit aufgehört, um nach Hause zu laufen. In meiner Hand trug ich, wie er, Brot und Aufstrich, er noch in Gedanken und ich in Gedanken bei ihm, meinem Besuch, der mir nun durch die helle, aber milde Sonne entgegen lief und mich nicht sah, wie ich stehen blieb vor seiner Gedankenverlorenheit, die ihm allein gehörte. Eine Verirrte in seiner Welt, eine Verwirrte, die aus einer bis in die Dreißiger geretteten kindlichen Vermessenheit und Gier bisher davon ausgegangen war, dass dieser Mensch nicht ohne sie existieren und das auch gar nicht wollen konnte, dieser Mensch, der so lange vor mir hier gewesen war und mich viel länger kannte als ich ihn, der einzige andere Mensch mit so albern winzigen Händen auf dieser Straße, in denen er wie eine Speerspitze den fleischfreien Wurstsalat vor sich trug, mit dem zuvorderst er dann in mich hinein lief.
Zärtlichkeit ist ein seltsam stilles Wort für ein Gefühl von solcher Wucht, ein Gefühl, das befürchtet (und weiß), dass er eines Tages fort sein und dieses Licht, diese Selbstvergessenheit, das leise Lächeln eines Gedankens und die Beiläufigkeit dieses gewöhnlichen besonderen Tages, an dem er mich besuchte, mitgenommen haben wird; ein Wort, das bedeutet, dass diese Straße von nun an immer ihm gehört und ich so lange wie möglich dort dankbarer Gast sein will.
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freiVERS | Lorena Pircher
Blaurot
.
I. Blau
erinnerungen / erfrierungen worte an wimpern ge- / weisses feld über mir
nachthimmel mit wundmalen / ränder austretend / nacht deckt das damals zu
dein gesicht
lider geschlossen / blass die tage
weich
dein gesicht
.
erfrierungen / erinnerungen dein sein / wunden an meinem körper
ich sitze / im weißen gras des vergangenen / zupfe deine hände von bleichen halmen
dein gesicht
der nachthimmel
austretend nässend
.
erinnerungen / erfrierungen gemeinsames leben atmet
in den begrenzungen eines damals
weich dein gesicht
.
ich trinke
gebrochenes wasser
bläuliches feld über mir
die dämmerung wund
an den rändern
.
morgen weckt das damals auf
deine arme deine beine
zähflüssig die finger lange die tage
.
sonne steht hoch
schmelzwasser meine erinnerungen
algen fische meine nahrung
gräte schmücken mein haar
weich dein gesicht
.
erinnerungen / ein fluss gebärt in seinen tiefen
unser damals
.
II. Rot
feucht meine erinnerungen / erde schluckt dein gesicht
rötliches feld über
mir glutsonne
begrenzungen auslaufend
die ränder bluten
.
tag schürft das damals ab
dein rumpf deine rippen
spröde die schultern
süß der schweiß
sanft die stunden
.
es keimt
gräsern dein gesicht
gelbliches feld / über mir
fragiler horizont / abendkühle zerfleddert an den rändern
.
abend legt das damals zur ruhe
deine lippen dein haar
dein schweigen deinen namen
leise die abende
.
mond steigt
wind wacht
deine worte kühlen meine wunden
weich dein gesicht
begräbt meine erinnerungen
rot die nacht
.
stille in der begrenzung / über mir der wundhimmel
an meiner seite meine hände meine augen haare lippen rumpf arme beine
blau der morgen / rot die nacht
.
.
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