freiTEXT | Senka

Die klirrenden Münzen eines monísto

Sandyr wühlt in Kumkas Deutsche Mark Sammlung und grinst. Ja, das ist genau das, was sie gesucht hat.

Brauchst du sie wirklich nicht mehr?

Kumka zuckt mit den Schultern. Er hat die Münzen aufgelesen, als er klein war, weil er kein Taschengeld bekommen hat, aber eigenes Geld für Gummischlümpfe im Lotto-Laden haben wollte.

Sandyr will die Münzen noch bearbeiten, die Gesichter der Frauen aus ihrem Stammbaum draufkleben und sie in ein monisto flechten. Das wird sie dann anai-anae nennen, als ein Stück für ihre Ausstellung. Da wird es noch geflochtene Panneaus geben, wird ganz hübsch sein. Sie stapelt die Münzen nach Größe. Anai-anae bedeute die Mütter der Mütter, hat sie vor Kurzem gelernt, das sei nämlich ihre Sprache, das Udmurtische, nur ihre Familie hätte das nicht sprechen dürfen. Aber wem erzähle sie das, der Kumka, der kenne das doch sicherlich auch! Sie lacht und wirft das rot gefärbte Haar über die Schulter. Kumka macht: Hm-m. Aber eigentlich kennt er das nicht. Seine Eltern sprechen Russisch, sein Opa auch, er wüsste nicht, ob sie jemals eine andere Sprache hätten sprechen wollen.

Kumkas Mama freut sich besonders, wenn Sandyr zu Besuch kommt. Sie zwinkert ihnen zu, sie sorgt dafür, dass Kumkas Eltern während Sandyrs Besuch nicht in der Wohnung sind. Sandyr hat eine Lebensgefährtin, aber das wissen weder ihre, noch Kumkas Eltern. Kumka weiß das, weil er ihr auf Instagram folgt.

Vor Kurzem hat sie dort ihren Namen von der russifizierten Fassung Aleksandra zu Sandyr geändert, außerdem in der Beschreibung alles gelöscht und „udmurtisch-feministische Liturgie im deutschen Exil“ hingeschrieben.

Kumka fragt, ob sich dadurch was verändert habe. Sandyr rümpft die Nase. Es gab danach einen Shitstorm in so einer Bubble von Leuten, von so scheiß Physiognomikern, die meinen, man müsse am Aussehen einer Person die Herkunft ablesen können, sonst sei diese nicht valide, aber mit solchen Idiotinnen will sie auch nichts zu tun haben. Und sie bekommt mehr Follower-Anfragen von russischsprachigen feministischen Profilen und russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland, aber sie sei sich da nicht sicher und nimmt nur die Anfrage von Leuten an, die Kunst machen. Hat Kumka gewusst, dass so viele russisch-orthodoxe Kirchen in Deutschland Instagram haben?

***

Sanja hänge andauernd am Handy, ein Wunder, dass sie überhaupt ihre Klausuren bestehe.

Die Mutter skypt mit ihren Freundinnen und sie eröffnen die Runde rituell mit Geschichten von ihren Kindern. Wer zum wie vielten Mal gebärt, wer sich geschieden, wer sich eine Anstellung bei der Gazprom geschnappt hat.

Sandyr macht sich nicht die Mühe, ihrer Mutter zu erklären, dass auf diesem Handy auch die Lektüretexte abgespeichert sind. Sie überfliegt Butler, Kristeva und Žižek, macht sich nebenher Notizen, wie sie alle später im Seminar verreißen wird, und behält die Benachrichtigungen im Auge, ob bei Kommentarverläufen der Eventposts von out-ural Trolle auftauchen, wen sie blockieren, wen sie mit einem präzise gewählten Mat zurechtweisen, wen sie konvertieren könnte.

Konvertieren, Lajma seufzt, Sandyr soll es endlich mal lassen, das so zu bezeichnen. Außerdem spiele sie doch damit voll in dieses Narrativ rein, auf das sich das Propaganda-Gesetz stützt, mit der sozialen Übertragbarkeit… Und sie seien doch keine Sekte.

Manchmal spricht Lajma so, als sei sie Teil von Sandyrs Aktionsgruppen. Manchmal tut sie auf gebürtige Deutsche und will Sachen erzählt bekommen, wie es da so ist, woran sich Sandyr erinnere. Und Sandyr erinnert sich nur an die Sprache, die sie erst nach dem Umzug nach Deutschland gelernt hatte. Alle Erinnerungen, die sie hat, sind Erinnerungen an Urlaube in Russland, im Sommer, wenn die Stadt leer ist, weil alle sich vor dem Stadtsmog in ihre Datschas zurückgezogen haben. Um im Winter hinzufahren, dafür hatten sie keine passende Kleidung.

Ja-ja, winkt Sandyr ab. Gegen den Mat hätte Lajma aber nichts einzuwenden, oder wie?

Gegen den Mat hat Lajma auch was, aber Sandyr verwendet ihn mit Fingerspitzengefühl, da vertraut ihr Lajma schon. Sandyr weiß, dass das keine Worte sind, die man schreit oder inflationär verwendet. Eine knappe präzise Setzung bewirkt mehr. Wie bemitleidenswert verhält es sich im Gegenzug bei den Deutschen oder auch bei den Engländern – wo sie zwanzig Mal „Fuck!“ brüllen müssen, braucht Sandyr nur einen einzigen besonnen ausgesprochenen Begriff und damit ist alles gesagt. Lajma beschreibt Sandyrs Art oft als besonnen. Das lässt Sandyr manchmal daran zweifeln, ob Lajma wirklich hört, was aus Sandyrs Mund kommt.

Du musst halt echt allen in diesem Land andauernd beweisen, dass du kein Kamel bist! schreit Sandyrs Mutter ins Laptop-Mikrophon, damit es bis Russland hörbar ist.

Lajma prustet los. Sie bekommt durch die Kopfhörer nur Fetzen mit, die sie allesamt sehr amüsieren, sie zieht sich den Stöpsel aus einem Ohr: Was soll das denn bedeuten?

Das mit dem Kamel? - Ja.

Kennst du das nicht? Sagt man halt so. - Wo sagt man das?

Na, bei uns. - In Russland? Oder in eurer Familie? Oder auf Udmurtisch?

Sandyr zuckt die Schultern, das weiß sie nicht, aber man sagt es halt so.

Seitdem sagt Lajma, wenn es Sandyr von innen schüttelt und sie niemanden um sich haben will und alle hasst: Du bist kein Kamel. Und Sandyr stimmt zu: Ich bin kein Kamel.

Wenn die russischsprachigen Bekannten in der Uni ihr inadäquates Verhalten vorwerfen, weil sie den Dozenten darauf hingewiesen hat, dass Belarus und Russland zwei unterschiedliche Länder sind, und sein Nachfragen nach ihrer persönlichen Meinung zu Lukaschenko nichts in einem Literaturseminar verloren hätte, sie außerdem nicht qualifiziert sei, irgendwelche Auskunft zu Belarus zu geben, weil sie keinerlei Berührungspunkte mit dem Land hätte. Ich bin kein Kamel.

Wenn ihre Mutter ihr sagt, sie solle die eigenen Nerven schonen und ein gesundes Maß an Ignoranz an den Tag legen und die Nachrichten Propaganda sein lassen.

Today’s affirmation: Ich bin kein Kamel.

***

Wenn Sandyr den Ellbogen versehentlich auf den Tellerrand abstellt, noch während sie merkt, dass es das spitze Gewusel von Perlen an ihrer Haut ist und nicht das glatte Tischholz, und den Ellbogen schnell hochreißt, klappt der Teller bereits um und die Glasperlen platzen unsichtbar über die Küchenfliesen, in die Schatten, die die Tischlampe nicht ausleuchtet. Sie lauscht, ob der Lärm ihre Mutter aufgeweckt hat, aber diese schnaubt leise weiter vor sich hin. Als sich Sandyr auf allen vieren auf den Boden niederlässt, bohren sich die Perlen in ihre Knie, Zehen und Handflächen. Sie verzieht das Gesicht und schüttelt sie sich von den Händen.

Sie stellt sich vor, wie die Perlen zwischen den Fliesen Wurzeln schlagen, sprießen, Blumen tragen und zu Perlensträuchern emporwachsen. Die Perlen reifen in Hülsen heran, wie die dünnen Akazienhülsen, aus denen Sandyr mit ihrem Vater Pfeifen gebastelt hatte. Er pustete rein und es kam ein Ton heraus, Sanja pustete und die Hülse blieb stumm. Sie pustete und pustete, spuckte wütend in die Hülse. Da zeigte ihr Vater auf das Wiesen-Rispengras: Schau mal, Hahn oder Henne? Sanja ließ die Hülse fallen, maß die Rispen mit dem Auge ab: Henne. Ihr Vater zog die Rispen mit Daumen und Zeigefinger am Stiel entlang hoch. Eine lange Rispe schaute aus den restlichen hervor. Na, doch ein Hahn, hm? Sanja schüttelte den Kopf: Nochmal!

***

Sandyr lehnt am Fensterbrett und hält die Tasche und den Mantel ihrer Mutter. Diese schimpft und es hallt bis zur Toilettendecke hoch. Der Termin für den Antrag für die Große Witwenrente, nach dem Absetzen der Kleinen Witwenrente, zieht sich bereits seit zwei Stunden. Sandyr versteht nicht, warum ihre Mutter darauf bestand, dass sie zum Übersetzen mitkam, denn diese versteht alles einwandfrei und schafft es, gleichzeitig auf ihre Tochter und die Sachbearbeiterin einzureden. So schnell kann nicht mal Sandyr zwischen den Sprachen switchen.

Es rieselt in die Kloschüssel. Weißt du, bei uns, da stellt man sich mental auf Schikane ein, ja? Und hier tuen sie auf zivilisiert, machen Sicherheitskontrollen, geben dir so ein Nummernzettelchen und was dann?

Hm-m, macht Sandyr mechanisch.

Und dann sitzt da diese Tussi und wühlt sich durch die Papierstapel und kann nicht mal Kopfrechen! Sandyrs Mutter wäscht sich die Hände ab. Weißt du, bei uns, da weiß ich halt, ich bringe einen Cognac mit und ich erniedrige mich ein wenig, aber dann wird da auch was gemacht!

Sandyr reicht ihrer Mutter die Sachen zurück. Das ist klassistisch, Mama, und du romantisierst Korruption.

Die Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Wer hat dich bloß erzogen, dass du so aufgeklärt bist, hm?

Sandyr zieht ihr Smartphone hervor, trottet der Mutter hinterher und klickt sich durch die Nachrichten. Neuigkeiten vom Justizministerium Russlands, weitere Eintragungen von queeren und feministischen Initiativen als Ausländische Agenten, Auszüge aus Gesetzesentwürfen gegen Agitation…

Sie öffnet die Kalenderübersicht und starrt auf den roten Eintrag, geht die Check-Liste durch, die sie sich dafür notiert hat. Ja, sie hat definitiv alle Papiere vorbereitet. Sie hat darin einzigartige Expertise, mit acht Jahren ist sie bereits Behörden-Briefe mit den Eltern durchgegangen und war stolz darauf gewesen, wenn sie den Eltern ein „Nein, das muss so!“ sagen konnte. Der Antrag auf das Auslandssemester in Perm sei ohnehin rein formal. Es will ja sonst keiner hin.

***

Lies mir aus den Krym’schen Legenden vor.

Oh, nein, Kind, nicht schon wieder! Hast du danach keine Alpträume?

Nein. Ich will das Märchen über Oksana!

Und das Märchen über das Rübchen? Wollen wir nicht gemeinsam alle Tiere herbeirufen, damit sie zusammen die Rübe herausziehen?

Nein! Ich will das Märchen über Oksana!

Na, wenn schon, dann vielleicht das Märchen von den Schwestern? Wo der einen Schwester der schöne lange Zopf von einer Hexe abgeschnitten wird und sie stirbt, und dann muss die andere Schwester sich den Zopf von der Hexe holen?

Nein! Das Märchen von Oksana!

Und das Zauberwort?

Nein!

Das ist nicht das Zauberwort.

Bitte. Danke. Nein! Sanja plustert sich auf.

Die Mutter seufzt.

Oksana, Oksanochka, so eine schöne Frau, so stark, niemand konnte sagen, er hätte jemals eine Träne in ihrem Auge gesehen. Die schwarzbärtigen Kazaken scheuten sich, sie anzusprechen. Nicht, dass sie sich fürchteten, aber vorsichtig waren sie.

Am heißen Tag ist Stille in der Siedlung. Jeder versteckt sich von der Hitze, und die Oksana trägt das Tragjoch mit den Leinwänden zum Fluss zum Bleichen. Gej-gej, Oksana, Oksanochka…

Gej-gej, Oksana! ruft Sanja.

… Wenn du gewusst, wenn du geahnt hättest, wärst du nicht mit den Leinwänden zum Fluss hinunter gegangen. Du wärst nicht weggegangen, wenn du gewusst hättest, dass von der weiten Steppe Unheil naht.

***

Ein Panneau flechten bedeutet, die Muster der Welt wahrzunehmen, abseits der Muster, die uns von dem ӟуч beigebracht werden. Es bedeutet, zu heilen. Die Hände arbeiten, der Geist arbeitet, langsam mit dem Atem, die Fäden in den Fingerknöcheln eingekeilt. Befeuchte den Wollgarn mit der Spucke, drehe ihn schmal, ordne ihn in das Gewebe ein, kämme die Knoten aus. Du wirst starke Finger haben, starke Handmuskeln. Sanja prustet los und schaltet sich stumm. Starke Finger, ja-ja…

Und behalte unbedingt das Werkzeug deines Vaters, wnuchka, die Birkenrinde und das Brenneisen und das Messerchen. Wer weiß, vielleicht holst du es hervor und merkst, die Rinde, die schmeichelt deiner Haut und du willst sie formen. Dann schnitzt du ein tujesok nach dem anderen und sagst den Deutschen, das sei traditionell, vegan und nachhaltig, aus aufgeforsteten sibirischen Wäldern. Die Oma, die hat ein gutes Auge fürs Marketing, das kommt gut, wenn du die Preise hoch setzt.

Das ist kultureller Exhibitionismus, Oma.

Was sagst du? Du verwendest so schlaue Worte, mein Kind, ich bin so stolz auf dich. Zeigen sie in den Nachrichten bei euch die Brände? Das sind nicht die Gewitter - wann hat es zuletzt Gewitter gegeben? Das sind nicht die Torfbrände wegen der trockenen Erde, nein. Das sind Menschen, die das Gras anzünden, weil sie es immer so gemacht haben, um es schnell auszuroden. Weißt du, das Gras, das könnte man ja auch abmähen. Da sollte es Strafen geben, heutzutage, auf oberster Ebene sollen sie da was erlassen, dass das auch ankommt, bei den Menschen. Dieser Dunst über Moskau vor ein paar Jahren, das hat der Kreml davon, wenn sie Sibirien brennen, wenn sie die eigenen russländischen Menschen das eigene Land anzünden lassen. Wir sind ja schon weit weg hier, was die da oben mit Europa und den USA machen, falls das mal gefährlicher wird, wir sind hier sicher. Wir fürchten Gayropa nicht, wir räuchern uns schon selbstständig aus.

Oma, was sagst du da, das macht keinen Sinn, nimmst du deine Medikamente ein?

Du fragst mich immer nach den Medikamenten, wenn ich dir etwas Wichtiges sagen will.

Ja, aber nimmst du die?

Sanechka, mir gefällt dieser bevormundende Ton nicht. Ich werde jetzt auflegen.

Warte, warte, ich werde bald ganz in der Nähe sein, in Perm.

Was willst du hier?

Naja, arbeiten. Nützlich sein.

Also, ich weiß nicht, meine Liebe, du machst doch was mit Literatur, oder? Das braucht doch hier niemand.

Ich wollte mehr sowas in Richtung Menschenrechte und Feminismus machen.

Ja, aber das braucht doch in Perm erst recht keiner. Sind doch nur Kriminelle dort, gab’s neulich wieder mal eine Statistik, da haben sie das auch dokumentiert, ja.

Sandyr lacht verunsichert auf. Brauchst du mich denn?

Versteh mich nicht falsch, mein Kind, aber ich musste mich daran gewöhnen, euch nicht zu brauchen.

***

Sandyr wartet, bis Lajma eingeschlafen ist, schiebt sie vorsichtig von sich, dreht sich auf den Bauch und legt die Nase an den Bettrand. Sie hat sich in der Kindheit angewöhnt so einzuschlafen. Damals trug sie einen langen Zopf und damit die Hexe ihr das Haar nicht abschneiden konnte, hatte sie es sich unter den Bauch geklemmt. Sie hatte ja keine Schwester, wer hätte ihren Zopf zurückbringen können? Und hätte die Hexe versucht, ihr den Zopf unter dem Bauch hervorzuziehen, da wäre Sandyr schon aufgewacht und hätte sich gewährt.

Am Anfang hat Lajma gefragt: Tut dir der Hals nicht weh, wenn du so schläfst? Sandyr hat versucht zu erklären, mit der Hexe und dem Zopf und der Schwester, und Lajma hat den Kopf zur Seite geneigt: Aw, du warst so ein phantasievolles Kind.

Lajma mag es, Sandyr Eigenschaften zuzuschreiben, bei jeder Zuschreibung runzelt Sandyr die Stirn. Sie fühlt sich nicht besonnen, sie war nie phantasievoll, sie ist nicht mutig. Sie wendet den Kopf zu Lajma und stupst mit dem Zeigefinger in Lajmas Bauchnabel. Sie hat eigentlich keine Ahnung, aber Lajma hat das noch nicht durchschaut. Sie nimmt sich jede Nacht vor, Lajma am Morgen zu fragen: Willst du mich in Perm besuchen?

***

Sandyr schaltet sich stumm, winkt in die Kamera und ergänzt ihre Pronomen im Namen für den Zoom-Calls. Die meisten haben ihre Kameras ausgeschaltet. Sie hat vorab ein Handout an die Organisierenden geschickt, mit Beratungsstellen in Deutschland für russischsprachige, queere Menschen, Migrationsmöglichkeiten und die ersten Schritte, um sie einzuleiten. Es wurden fünf Personen eingeladen, die auf Social Media in Support-Gruppen aktiv sind. Jede soll einen Impulsvortrag halten, was an Deutschland besonders toll sei. Sandyr hatte vorab nachgefragt, ob es denn nicht sinnvoller wäre, aufzulisten, was ihr nicht gefalle, um auf Herausforderungen vorzubereiten, aber das hätte nicht ins Konzept gepasst. Der Umzug ins Ausland sei schon anstrengend genug, die Desillusionierung käme auch so, an diesem Punkt gehe es vor allem darum, Mut zu machen und Kraft zu geben. Sandyr soll als letzte sprechen.

Die Deutschen seien höflich und grüßten immer, das Justizsystem sei gerecht und die Medizinausstattung auf höchstem Niveau, die Polizei behandle einen wie einen Menschen, die Krankenversicherung erstatte alles, der Sozialstaat sorge für jeden, die Politik sei feministisch, klar, weil ja Bundeskanzlerin, die Medien berichteten unparteiisch, Lesben und Schwule dürften heiraten, Kinder kriegen, trans und nicht-binäre Menschen eine Personenstandsänderung machen…

Sandyr hält die Luft an. Sie möchte fragen: Kennt ihr Deutsche, so privat? Allesamt ewig freundliche Übermenschen, die immer hilfsbereit sind, ja? Wart ihr denn nie ernsthaft krank, habt ihr nie nächtelang in der Notaufnahme warten müssen, mit Verdacht auf Schlaganfall bei der Mutter, und dann eine völlig übermüdete Ärztin angeschrien, die auch nichts dafür konnte? Habt ihr schon mal versucht, eine Anzeige gegen fremdenfeindliche Gewalt zu erstatten, und euch angehört, wie der Polizeibeamte immer neue Rechtfertigungen für den Angreifer fand, Verständnis wecken wollte, das sei ja ganz anders gemeint gewesen? Habt ihr nie einer gerichtlichen Auseinandersetzung beigewohnt, Sachbearbeitung von mehreren Jahren, Richter, die irritiert sind, von kulturellen Unterschieden? Habt ihr schon mal jemanden hier verloren und beerdigt?

Sie atmet aus, da ist es wieder: Sie unterstellt, sie wirft anderen vor, etwas nicht erlebt zu haben, als mache sie das zu etwas Besserem, als hätte sie dadurch eine klareren Blick. Sie ist die falsche Person, um bei solchen Runden Erfahrungen zu teilen, oder vielleicht auch: Sie hat die falschen Erfahrungen in einem richtigen System gemacht. Sie muss ein Einzelfall sein, denn wenn sie der Lajma Sachen erzählt, dann erwidert sie: Also, das glaube ich jetzt nicht! Und wenn sie Lajma sagt, das klinge für sie so, als meinte Lajma, dass Sandyr lügt, sagt Lajma: Das verstehst du nicht, das sagt man so in Deutschland, das heißt doch nicht, das ich dir wirklich nicht glaube. Und die Oma, die sagt: Jetzt bist du aber undankbar! Was glaubst, wie es den Kindern auf dem Nordpol geht. Und allen, allen geht es gut in Deutschland und nur Sandyr rutscht durch die Paragraphen, durch die Regelungen, durch die Konzepte.

Sie schaltet ihr Mikro an, zieht die Mundwinkel auseinander und streckt die Nase hoch, damit die Tränen nicht aus den Unterlidern schwappen: Es wurde ja alles schon gesagt, ich würde einfach nur Sachen wiederholen. Wollen wir direkt mit der Fragerunde starten?

***

Sandyr schaut vom Lektüretext hoch. Der Zug ist auf einer Brücke über dem Rhein angehalten. An den Stangen türmen sich  bunte Schlössertrauben mit aufgedruckten Initialen. Sandyr fragt sich, ob bei der Konstruktion von Brücken das Gewicht von solchen Liebesbekundungen mitberechnet wird und ob sie einstürzen könnten, wenn zu viele Schlösser angebracht sein würden. Sie stellt sich vor, wie unter ihr die Brücke knarzt, wie der Zug langsam anfängt, in sich zusammenzufallen, und sie für einen kurzen Moment schwerelos wird, ehe der Waggon auf dem Wasser aufschlägt. Sandyr drückt die Wange an das kalte Glas und überlegt, welche Schlagzeilen es gäbe, zu viel Liebe bräche Brücken ein, ein älterer Herr, der sich über den Vandalismus beschwert, den die jungen Leute mit den Schlössern betreiben, vage Stellungnahme der Eisenbahngesellschaft… Sie entsperrt mechanisch das Smartphone und scrollt durch die News Broadcasts, ohne mit dem Blick an den Überschriften hängen zu bleiben. Sie öffnet eine Datei für eine neue Liste. Was zu tun wäre, sobald der Antrag für Perm genehmigt ist. Der Cursor blinkt. Sandyr schaut wieder auf die Schlösser draußen. Die Genehmigung würde erstmal nur eine Reihe weitere Aufgaben zum Abarbeiten bedeuten, das war’s. Sie checkt die Mails, den Telefonverlauf, falls sie zufällig die Benachrichtigung über einen verpassten Sprachanruf weggedrückt hat, wechselt zur leeren Datei zurück.

 

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Senka

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