freiTEXT | Martina Onyegbula

Die Frau

Dann sah sie, wie die Worte sich immer dunkler färbten und zäh aus seinem Mund tropften, sein Blick eisig, starr auf sie gerichtet. Sie fröstelte. Sie schlang ihre Weste fest um ihren Körper und verschränkte ihre Arme, um sich zu wärmen. Sie sah ihn an. Jetzt war sie etwas tiefer in sich gesunken, und konnte mit eigenartiger Gleichgültigkeit seine immer düster werdende fern gerückte Gestalt beobachten. Im Raum waren jetzt nur ihre Augen. Wenn sie sie schließt, das wusste sie, dann wäre sie ganz verschwunden für ihn. Das fand sie seltsam beglückend, fast meinte sie zu lächeln. Doch ihr Lachen ist doch schon lange geheim und sollte ihm verborgen bleiben. Sie erinnerte sich daran dass da, wo sie jetzt war, er sie ohnedies nicht sehen konnte. Nur ihre Augen auf ihn gerichtet und ihre Gestalt, wie sie ihm aus seiner Erinnerung vertraut, immer noch zu sein schien. Es ist lange her, dass er es wagte, in ihre Augen zu blicken, denn es gefiel ihm schon lange nicht was er dort sah und was er empfand, wenn er ihr dort begegnete. In diesem Abgrund. Es machte ihn immer wütend. Weil er verstand, auf eine nicht in Worte zu fassende Weise, dass er sie dort niemals erreichen konnte. Das sie immer unbeherrschbar bleiben wird und unfassbar, mit so vielen Gesichtern. Und er erschrocken vor langer Zeit beschloss, nie wieder an diese tiefgelegenen Orte zu blicken. Er verachtete sie für diese Freiheit, weil sie ihn damit beunruhigte und ihn zu einer panischen Erregung bringen konnte, wenn sie sich so weit aus seiner Moral herauswagte und ihn mitreißen wollte. Nein, er wollte keine unberechenbare Weite und wilde Stille, in der alles möglich ist. Er hielt sich an seine sorgfältig zurechtgelegten Träume vom Leben und sie sollte ihm das nicht kaputt machen, mit ihren Blicken und schwarzen Eingängen zu gefährlichen Beunruhigungen.

So blickte er stets nur bis an die Grenze ihrer Augenlinse, vermied es, dass ihre Pupillen sich trafen, denn das schien im riskant. Er klammerte sich an die ungefährliche Landschaft der Iris. Dort verweilte er als flüchtiger Gast, manches Mal suchend und selten als Eroberer in einem fremden Land.

Es wurde immer kälter. Sie bemerkte eine dünne Schicht Eis, die sich um ihn herum gebildet hatte. Eine langsam wachsende, alles verschlingende Kälte, die in ihrer strahlenden Reinheit einen krassen Gegensatz zu den dunkeltrüben Worten bildete, die zähe Lacken zu seinen Füßen bildeten. Die Eisdecke, die stetig in alle Richtungen sich verbreitete, schön in ihrer klaren Schlichtheit,  hatte schon das Sofa erreicht, die bestickten Kissen, die achtlos am Boden verstreute Zeitung, den Schrank, kroch schon unaufhaltsam die Wände hoch, überzog alles mit starrer Kühle.

Er sprach weiter. Sie wusste es, obwohl sie seine Stimme nicht hören konnte. Nur ein an und abschwellendes dumpfes Dröhnen aus seinem worteformenden Mund. Aber wenn sie sich zu sehr darauf konzentrierte, dann war wieder diese erdrückende Beklemmung da, die sie vergessen lies zu atmen. Ihr Herz klopfte jetzt etwas lauter. Sie dachte wieder an ihre Augen und das sie sie einfach schließen konnte. Sie atmete tief und da war wieder diese ruhige Gleichgültigkeit, die sie so wohlig empfand. Sie stand fest am Boden ihres Innersten. Sie lies ihren Atmen strömten, doch nur bis an die Grenzen ihres Körpers, nicht hinaus durch die Poren. Dann würde sie der im eisig kalten Raum aufsteigende warme Hauch verraten. So blickte sie atemlos still hinaus zu ihm.

Am kleinen alten Holztisch in der Mitte des Raumes, blank glänzend von einer Schicht Eis bedeckt, hatten sich mittlerweile am Rand tropfend gefrorenen Eiszapfen gebildet. Schön, einem märchenhaften Tuch gleich, mit handgefertigten Quasten. Ein Gedanke an zärtliches Verlangen und einer weiten Sehnsucht mit umschlungenen Küssen heftete sich an diese Eisgebilde. Haben sie die ersten eisigen Fasern dieses handgewebten Tuches, jetzt spiegelnd glatt mit einer Borte Eiszapfen, von ihrer ersten Begegnung mitgebracht? Die vage Erinnerung blieb mit ihrer Frage in der Mitte des Tisches kleben und wurde augenblicklich zu einer kleinen merkwürdig geformten Eisskulptur. Sein Mund war nun bewegungslos. Die Lippen aufeinander gepresst.

Jetzt hatte das Eis ihre nackten Füße erreicht. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Ein leises Zittern blieb und fortan bewegte sie sich, fast unmerklich sachte schwingend, im Rhythmus dieses fröstelnden Zitterns. Er war näher an sie herangetreten. Sein Blick war immer noch eisig. Doch jetzt verdunkelten keine zähen Tropfen seinen Mund. Er stand einfach da. Sie machte einen Schritt zurück. Ein Knirschen. Das Eis brach. Tiefe Sprünge durchzogen den Boden und sie machte einen weiteren Schritt rückwärts, hin zur Türe. Alles Eis schien zu zerspringen. Das Klirren war ohrenbetäubend laut und doch hell klingend schön. Die dunklen Schatten um ihn verblassten. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie. Sie schloss die Augen, doch nun war sie nicht mehr tief in sich versunken, wo alles wohlig warm und sicher war. Die Töne der zerspringenden Eiskruste hatten sie hervorgelockt. Sie klangen wie ein Versprechen, das sie schon oft gehört hatte. Wie konnte sie so unvorsichtig sein. Doch diesmal hatte sie Glück gehabt. Er hatte es nicht bemerkt. Er ging wortlos aus dem Raum. Er sah fast wieder aus wie der Mann, der sie einst angeblickt hatte.

Sie sah hinab zu ihren Füssen und ein feines Rinnsal Blut erinnerte sie an den kurz zuvor so scharf gefühlten Schmerz. Jetzt blieb ein sanftes Pochen. Langsam löste sich ihre innere Verdichtung und sie verbreitete sich weit hinein in ihren Körper und lies ihren Atmen wieder herausströmen durch alle Poren und richtete Ihren Blick wieder weit hinaus.

Er war zurückgekommen. Sie konnte seine Worte wieder hören. Es waren keine dunklen Flecken, nur seine Stimme. Ruhig, wie er sie immer erklingen lies nach solchen eisigen Ausbrüchen. Und sie war wieder ganz zurückgekehrt in den Raum und sah in an, mit dem Teil ihrer Selbst, der noch für ihn bestimmt war.

Martina Onyegbula

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freiVERS | Andreas Pargger

sandkörner unter den zehen ein / tänzelnder schritt aus dem bild / rauschen aus einem unsichtbaren / riss in der kulisse brandung meer / aus einer anderen / welt aus einer längst vergessenen zeit und / die augen zum himmel gerichtet die augen über- / gangslos chromgraue flächen wasser / horizont löst sich der nebel geht eine schneise / auf ein schwindel nichts schemendasein eine / schamanenwelt im marmor des sands / fußabdrücke und die immer- / gleichen windschleifen über den dünen über den / schaumkronen zeitlos eine körnung des lichts ein / grobwerden von luftpigmenten ein verblassen  ver- / blasen-werden von konturen ein zer- / fließen des nachmittags ins grelle

Andreas Pargger

Andreas ist Teil der 3. Babelsprech-Konferenz in Salzburg 2016

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freiTEXT | Ernest Perfahl

Die Übriggebliebenen

Es war Abend und die Familie hatte sich um den üppig gedeckten Esstisch versammelt. Es fehlte ihnen an nichts. Wenn alles glatt lief, dann wäre dies das letzte Mahl, das sie zusammen einnehmen. Denn morgen wird die Welt untergehen, da waren sie sich alle einige, die Großmutter sowie der Jüngste.

Anfänglich hatten sie noch versucht, andere Menschen davon zu überzeugen, dass es diesmal tatsächlich soweit sei, doch es war ihnen gleichgültig gewesen. Seit der letzten Prophezeiung einige Jahre zuvor dachten sie, sie wären immun gegen eine sol-che Gefahr. Ein wenig vermisste die Familie den medialen Rummel, den Austausch, das Spekulieren mit den Nachbaren. Aber das alles war nebensächlich. Bald würde es vorbei sein. Gemeinsam nahmen sie nun Abschied. Bis spät in die Nacht blieben sie auf und stopften sich die Mägen voll, lebten so, als würde es keinen Morgen geben, bis einer nach dem anderen bei Tisch einschlief. Die Großmutter mit dem Kopf rück-wärts und mit offenem Mund. Die Mutter neben dem Vater mit dem Kopf an dessen Schulter. Der Sohn hatte den Teller nach vorne geschoben und lag nun mit dem Kopf auf dem Tisch.

Beinahe zeitgleich erwachten sie am Morgen. Fassungslos starrten sie sich in die Augen. Wieder eine Pleite, dachten sie, ihre Gesichter voller Enttäuschung. Sie sagten kein Wort. Dann sprang die Mutter auf und lief zur Eingangstür. Sie riss sie auf. Ihre Kinn-lade klappte nach unten und ihre Zunge überragte leicht die untere Zahnreihe. Ihre Augäpfel quollen aus den Höhlen und ihre Pupillen weiteten sich. Verdutzt stand sie da. Ohne sich umzudrehen, winkte sie die anderen zu sich.

Sie erblickten eine Ruinenlandschaft. Die Gebäude waren in sich zusammen-gefallen. Die Erde war geziert von nackten leblosen Körpern. Sie waren übrig geblie-ben. Sie waren vergessen worden.

Fluchend wandte sich der Vater ab und durchkämmte die Wohnung.

Die Farbe der Gemälde war verblasst, der Fernseher flimmerte, der Radioapparat rauschte, die Konturen der Letter in den Büchern waren aufgebrochen und die Druckerschwärze hatte die Seiten schwarz verfärbt.

Die Übergebliebenen, sie warteten, sie warteten darauf, dass auch sie endlich erlöst werden würden.

Ernest Perfahl

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freiTEXT | Matthias Engels

wir bauten eine mauer

wir bauten eine mauer um die mauer um die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer zu schützen und hatten über das mauern schon lange vergessen was hinter der mauer und der mauer dahinter und der mauer dahinter und hinter der mauer lag

Matthias Engels

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freiVERS | Sigune Schnabel

Unter die Haut

Es gibt einen Raum unter deiner Haut,
in dem Legenden wohnen.
Dort rennt das Glück
die Adern entlang.
Manchmal,
wenn sich die Welt
voll gesogen hat
mit Regen,
dass sie sich an den Rändern einrollt;
wenn ich ihre Geschichte
glatt ziehen muss,
um sie zu lesen –
manchmal werden meine Schritte groß
und springen
aus den Umrissen
meiner Existenz
unter deine Haut.

Sigune Schnabel

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freiTEXT | Deniz Ohde

Habe vorhin eine Schallplatte weggeworfen, die ich vor zehn Jahren von Nicolás geschenkt bekommen hab. Angehört hab ich sie nie.

Nicolás hatte damals eine Vorliebe für Rocko Schamoni. Er erzählte mir immer wie cool der wäre und wie ironisch, besonders die Kurzfilme „Rollo Aller“ hatten es ihm angetan. Die wären einfach großartig, großartiger als alles, was ich mir so ansehen würde. Ich habe, um ihn zu ärgern, gesagt, Rollo, das höre sich doch an, als ob jemand mit den Augen rollt. Von da an haben wir „rollo!“ statt *augenverdreh* bei MSN geschrieben – hat sich leider nicht in der Jugendsprache etabliert.

Jedenfalls ist Nicolás dann eines Abends zu einem Rocko-Schamoni-Konzert gegangen und da hat er mir eine Schallplatte mitgebracht, nämlich „Der Muschikatzenmann“, die original Titel aus „Rollo Aller 4“. Signiert mit „Für Deniz, Dein Rocko *schiefes Herz*“ und ich fand das total aufmerksam, auch wenn ich gar keinen Plattenspieler hatte. Nicolás hat dann natürlich gesagt, ich müsse mir sowieso unbedingt einen Plattenspieler kaufen, das wäre viel besser als CD, viel ästhetischer, viel bewusster usw.

Ich hab mir bis heute keinen Plattenspieler gekauft und diese Platte aus Trotz nie angehört aber aus Sentimentalität aufgehoben. Als ich sie dann vorhin gefunden habe, hat sie mich ausschließlich daran erinnert, dass Nicolás ein prätentiöser Sack war, den ich froh bin nicht mehr zu kennen und der mir eigentlich immer nur gesagt hat, was man zu machen und zu gucken hätte und mir damit nicht nur Rocko Schamoni, sondern noch tausend andere gute Leute über Jahre verdorben hat.

Als ich mir die Unterschrift auf der Platte angesehen habe, hab ich irgendwie auch nicht mehr so richtig geglaubt, dass wirklich Rocko das unterschrieben hat. Wahrscheinlich war Nicolás es selbst, damit er mir wieder eine großspurige Geschichte erzählen kann und sich durch die fettigen Haare fahren und am Sacko rumzuppeln und mir sagen, wie uncool ich bin ohne Plattenspieler. Das war echt das einzige, was mir beim Anblick dieser Platte eingefallen ist und ich hab mir gedacht nee ey, rollo, und das Ding in die Tonne gehauen.

Deniz Ohde

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freiTEXT | Stephan Weiner

Scrollin’

W. scrollt. Zuckt zusammen. Schaut sich um. Nippt an seinem Kaffee. Scrollt langsamer. Noch langsamer. Stoppt. Scrollt nicht mehr.

Schikane! Rufen sie. Später. Er hätte weiter scrollen sollen. Ist schließlich sein Job. Der Abteilungsleiter tobt. W. begründet sein Verhalten nicht. Auch nicht auf Nachfrage. Es lasse sich alles im Browserverlauf nachvollziehen. Mehr sei nicht zu sagen. Er könne aber doch wenigstens sagen, warum. Warum habe er nicht mehr gescrollt? W. schweigt. Sie würden es nicht verstehen. Würden es verwechseln, mit einer Pause.

W. starrt auf den Bildschirm. Er sollte weiterscrollen. Das weiß er. Weiter nach Bugs suchen. Gründlich. Sollte sich tief in die Webseite hineinscrollen. In jedes Verzeichnis. In jedes Unterverzeichnis. Sollte den gesamten Quelltext abscrollen. W. tut es nicht. Tut gar nichts. Ist es ein Bug? Wenn ja, müsste er die Programmierer informieren. Als W. an diesem Tag nicht mehr scrollt, wird kein Programmierer informiert. Hat W. keinen Bug gefunden? Nur welchen Grund gibt es sonst, nicht mehr zu scrollen? W. ist sich nicht sicher. Heute. Ein Bug ist immer eindeutig. Ein Fehler. Ganz klar. Eine Fehlfunktion. Irgendwas tut nicht das, was es soll. W. erkennt es, gibt es weiter. Scrollt weiter. Nur heute nicht. Heute entscheidet sich W. zu klicken. Glaubt vielleicht, etwas auf der Spur zu sein? In den Protokollen sind später genau zwei Klicks verzeichnet. Nur eines ist nicht zu erkennen. Wo W. hin will, was er bezweckt. Nirgends ein Hinweis. Wo soll der Bug sein? Es muss ihn geben. Schließlich scrollt W. nicht mehr. Hat sich stattdessen in den Server geklickt. Der erste Klick. W. wird angesprochen. Von einem Bot. W. sollte eigentlich gar nicht hier sein. Ist es dennoch. Und der Bot fragt: Wo ist der Bug? W. antwortet nicht. Der Bot hält W. für einen Virus. Will ihn entfernen. W. wehrt sich. Klickt ihn weg. Der zweite Klick. Der Abteilungsleiter bekommt bei jeder Virenattacke eine Nachricht auf sein Handy. Auch auf Verdacht. Direkt aufs Display. Kann zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht draufschauen, da er seiner Tochter bei der Suche nach ihren Gummistiefeln helfen muss. Ohne die geht sie nicht in den Kindergarten. W. verlässt den Server wieder. Hat er etwas gefunden? W. initiiert einen Neustart. Danach: Nichts. Keine weitere Unterbrechung. Der PC fährt hoch. Jemand sieht W. am Kaffeeautomaten. Jetzt scrollt er wieder. Was war? War was? Unterdessen hat der Abteilungsleiter die Gummistiefel seiner Tochter gefunden und erfährt von der vermeintlichen Attacke.  

Stephan Weiner

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mosaik20 - Zweifel zwischen Zwieback

Zweifel zwischen Zwieback

Intro

Das soll ein Thema sein? Was soll man denn da schreiben? Wem ist denn das eingefallen?

Nein, leicht haben wir es unseren Autor*innen nicht gemacht. Und wir haben selber auch gezweifelt, ob zur zwanzigsten Ausgabe des mosaik der Zwieback ein geeignetes Thema ist, haben uns zwischen Zwetschgen und Zwiebeln (und ganz klar gegen „Zwanz-ich“ oder „2.0“) entscheiden müssen. Aber eine Buchausschreibung braucht ein Thema – und so bewegen wir uns mit ZZZ nach „X“ zur zehnten Ausgabe 2014 nicht nur im Alphabet voran.

Viel ist passiert seit der letzten vergleichbaren Ausschreibung. Auch diesmal wurden die Texte für diese Zusammenstellung aus den zahlreichen Einsendungen, die um dieses Thema kreisen, anonym ausgewählt. Ein Dank an dieser Stelle an die Jury: an Sigrid Klonner, Marlen Mairhofer und Christian Lorenz Müller.

Dass uns der Junge von der Zwiebackpackung in Texten begegnen würde, konnten wir ahnen, in welche Körperöffnungen er bröseln kann oder welche Rolle er in der Weltgeschichte gehabt hat, nicht. Uns freuen die zahlreichen zweifelnden Texte, die Beziehungen, die Erinnerung oder die Logik an sich in Frage stellen. Zwischendurch mussten wir uns fragen, ob sich der eine oder andere Text zu weit vom Thema entfernt – die Kreativität der Autor*innen hat uns dann aber nicht mehr zweifeln lassen.

Ein großer Dank gilt Manuel Riemelmoser als leitenden Lektor dieses Bandes sowie Felicitas Biller, Marko Dinic und Antonia Leitgeb, die ihn (und uns) dabei unterstützt haben. Ein Dankeschön auch an Gabor Schuster vom Verlag Neues Leben, der uns und der edition mosaik das Vertrauen entgegenbringt – und nicht zuletzt auch an die Literaturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie dem Bundeskanzleramt Österreich und der ÖH Salzburg, die unsere Arbeit in den letzten Jahren ermöglicht haben.

Zwanzig Ausgaben des mosaik liegen mit dieser hinter uns – wir hoffen, dass noch viele folgen mögen. Darum bedanken wir uns bei jeder und jedem von euch, die ihr gerade dieses Vorwort lest und damit ein Teil des mosaik seid. Ohne dich wäre das alles hier nicht möglich. Vielen Dank.

Zwölf Texte von zwölf Autor*innen wurden von der Jury ausgewählt:


freiVERS | Safak Saricicek

absetzversuche des kaffeehausbesuchers

dich will ich absetzen
wie diese weißen tabletten
dich das toilettenrohr
hinunterspülen
und spulen die zeit
hinunterspülen die erinnerung an dich
zurückspulen
tage und nächte
vor den weißen tabletten
die mich glücklich machen
seitdem du
mich unglücklich gemacht
hast wie diese fette fliege
mich unglücklich gemacht
hat die ich das toilettenrohr
hinunterspülte

dich will ich überstehen
wie diese parästhesien
momente wenn die welt sich dreht
die pulsierende migräne
überstehen atem der atemlosigkeit
entgegnen
und das absetzen fällt nicht leicht
werden die schritte der schwindel
treibt die bilder von dir
die stumme packungsbeilage
der tabletten die ich überstehe das
tablett am freitagabend du lächeltest
das tablett mit deinem kaffee
der stürzt ein fernes lachen will dich
vergessen

bin nicht mehr
ich selbst bin
nicht schon fast
weg von dir
deine augen waren
braun wie dein
kaffee am freitagabend
weg von dir
gestürzt ist mein
ich will dich
nicht
mehr.

Safak Saricicek

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freiTEXT | Clara Heinrich

Ameisenstraße

Es ist Sommer. August. Die Tage waren eben noch lang. Schon werden sie kürzer. Alles was ich sehen kann ist die Dunkelheit, es ist als hätte es keine langen, hellen Tage gegeben. Ich versinke im Schneechaos. Im August. Kinder toben vergnügt, Wassertropfen aus kreischenden, bunten Spritzpistolen treffen auf gemusterte Badebekleidung, das kalte Nass ändert die Farben. Bälle rollen. Knie werden aufgeschürft. Sand fällt aus den geringelten Socken, auf die kalten weißen Badezimmerfließen, die von grauen Fugen getrennt werden. T-Shirts mit Flecken vom geschmolzenen Eis landen auf dem Schmutzwäschehaufen in der Ecke.

Und ich mittendrin. Bis zu den Knien im kalten Schnee. Stecke fest. Kann nicht vor, nicht zurück. Die Kälte krabbelt durch meinen Körper wie die Ameisenstraße, die in der Küche ein neues zuhause gefunden hat. Die schwarzen Punkte haben sich so stark angepasst, dass es scheint als wären sie immer schon da gewesen. Als hätte der Architekt sie genau an dieser Stelle eingeplant. Ich sollte ihre fleißigen Arbeitstage unterbrechen, ihre Linie, die die Küche durchzieht vor die Türe setzen.

Doch das kostet Kraft. Die winzigen Eiskristalle, die um meine Füße Klumpen bilden, kosten Kraft. Das Essen von der Hand zum Mund ist schwer. In Anbetracht dessen sind die kleinen schwarzen Monster nicht mein größtes Problem. Dabei beneide ich sie, während ich mit meinem inneren Monster kämpfe. Sie stehen jeden Tag auf. In aller Früh und schuften ohne dabei Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Ich bin schon erschöpft, bevor ich anfange zu arbeiten. Erschöpft bevor ich überhaupt aufstehe. Gar zu erschöpft um zu Schlafen. So tief bin ich gesunken. Ich beneide Insekten.

Die Sonne steht wieder einmal hoch und brennt auf den kleinen Balkon, auf dem ich den dritten Espresso trinke um die Müdigkeit zu vertreiben, doch wie die Ameisen hat sie sich längst eingenistet und brütet ihre Eier. Aus den Eiern schlüpfen Ekel, Selbsthass und Scham, die sich weiter mit der Erschöpfung und der Müdigkeit paaren bis ihre Larven beginnen an meinem Innersten zu nagen und ich verfalle. Die schwarzen Stoffe in die ich mich hülle verbergen die hässliche Seele, die ich mit mir herumtrage, für die ich mich schäme.

Das Feuerwerk, das vor meinem Fenster tobt und ein Schillern in der Luft zeichnet dringt dumpf zu mir durch. Ich verabscheue. Wen? Was? Alles. Die Farben im Nachthimmel sind längst wieder weg. Es erinnert mich an mein Leben. Kurze Farbexplosionen gefolgt von Dunkelheit. Im bewölkten Himmel der Nacht ohne Mond und ohne Sterne finde ich einen Verbündeten. Durch das offene Fenster strahlt er mich an mit einer Schwärze, die sonst niemand wahrnimmt, weil die Welt schläft. Nur ich bin wach. Die Gedanken kreisen in spinnenden Bewegungen und der Wind weht die laue Spätsommerluft ins Schlafzimmer. Die Müdigkeit drückt mich ins Bett, die Decken umschlingen mich. Mein Kopf versinkt im Kissen und die Worte in meinem Kopf geben keine Ruhe. Sie wollen weitermachen, herumschreien und springen, statt sich in meine Traumwelt zu verzupfen. Und mich einfach schlafen zu lassen. Bald kommt die Sonne wieder. Ich werde nicht viel schlafen. Gleich wird sie mich wecken und morgen werde ich wieder müde sein und nichts schaffen. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein und träume wirr von Worten, die wie Flummis aussehen und Farben, die verschwimmen.

 

Clara Heinrich

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