6 | Steve Strix
6. Dezember 2021Literatur,LyrikAdvent-mosaik,Steve Strix
kinderweihnacht
in der mitte der strasse
im schein der strassenlaterne
sehe ich mich aus einem der
schmalen fenster sehen
ich stehe in der mitte der strasse
jemand hat mich mit bunter kreide
auf schwarzen asphalt gemalt
ich gehe
nicht mehr
nach oben
nach unten
nach vorne
oder zurück
über entfernte abgründe
die strasse ist leer
ich wohne hier nicht mehr
ein paar dinge bleiben
verlaufen in mir
.
Steve Strix
.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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5 | Sofie Morin
5. Dezember 2021Literatur,ProsaAdvent-mosaik,Sofie Morin
Erster Advent
Der Advent ist unser Refugium. Die kerzenwarmen Grüße hat selbst das Löschpapier nicht verhärmt. Die Karten baumelnd an der Leine über dem Kamin, rotbebändert wie verknotete Zuversicht. Gesammelte Trophäen der Mitmenschlichkeit, saugen sie sich voll mit mistelumkränzten Blicken. Wie tief die Hoffnungen auch hängen mögen, wachsende Vorratshaltung der Wünsche. Sie gehen uns nie aus.
In der Küche wohnt das Leben selbst. Mutters Teig beatmet unsere Sehnsucht. Ihre Zuneigung flüssiges Metall. Insgeheim schlinge ich die Kekse noch warm hinunter. So gehen sie in mir auf wie kein Same je, und mein Körper wird zur Stadt. Ähnlich der, die unweit im Tal flackert. Uns lockt sie nicht. Wir bleiben im Territorium unserer Weiblichkeit.
Großmutter klopft ans Fenster und hat heute den Schnee dabei, den der Wolf sich aus dem Fell geschüttelt hat. Lässt ihn unterm Gejohle der Schwestern zu unseren Füßen auf den Küchenboden rieseln. Ein tiefes Gurren aus nahenden Raunächten kommt mit ihm ins Haus.
Ihr leichtes Gepäck hat sie dabei nicht verraten, sie trug die alte Mär gewandt in der Kraxn. Auf dem Steingut schmelzen die Schneekristalle passend zum Aggregatszustand meiner Sinne. Kein Geruch enthüllt die wilde Natur. Ich sehe mich um und bemerke keine Veränderung. Mutter wischt den See mit ihrer Nachsicht auf. Dieses Augenzwinkern haben wir an ihr noch nie gesehen. Gewiss hat sie im Fell der Nacht die Habergeiß gewittert.
Im oberen Stock die Tante in emsiger Bettstatt zugange. Wir hören sie gut und singen altbekannte Lieder darüber hinweg. Kein Mann habe ihre Lust entstellt. Und uns hat die Mutter vor den Perchten gewarnt!
Um den Küchentisch scharen wir Stoßgebete wie Kinderreime, während das Verlangen unaufhaltsam in uns tropft. Übers Stiegengeländer flocken Sporen der Leidenschaft zu uns herunter, vermischen sich schlierig mit dem Duft aus Großmutters Kaffeemühle. So unschuldig wie möglich sehen wir uns um, ob alles beim Alten geblieben wäre.
Zwiebelmuster aufs Porzellan gemalt und das Begehren an die Wand. Wir lösen einander das Haar. Der Zirbenkranz in der Tischmitte flicht unser Wissen zu einem einzigen Zopf. Lodernd
brennt darauf die erste Kerze.
Zweiter Advent
Tagesanbruch. Wir benennen nicht, was aus den Wäldern steigt. Wie Nebel, die Reste des vorangegangenen Tages und die Hütten halten darunter die Luft an. Aus unserem Schornstein aber steigt Rauch, dessen Schatten uns der Mond auf die Schneedecke legt. Zögerlich hebt sich die Nacht vom ermatteten Firn. Tief die Spuren johlender Schritte darin. Ihr Kettengerassel klingt uns noch in den Ohren, das schwere Klopfen an die Holztür, vom Verlangen, das Einlass begehrt. Glücklich haben die sorgsam geflochtenen Zöpfe uns davor nicht bewahrt.
Wir Schwestern wollen alles sehen. Sowie wir unsere Nasen an die Scheiben pressen, schmelzen die Eiskristalle. Draußen lichten sich unsere Sehnsüchte über dem Tal.
Dunstschwaden ziehen am alten Flusslauf entlang. Erinnerungsfetzen der Geschöpfe, die mit uns leben. Jäh ruft der Eichelhäher, wenn unsere Blicke die Baumgrenze überschreiten. Der Föhnwind hat die Perchten über die Bergrücken getrieben, heute kommt der Nikolo. Ich will über die Alm sehen, bis dahin, wo ich jüngst Haselruten geschnitten, ihr Mark mit meinem Monatsblut gefüllt. Zwischen Wurzelwerk ersteht die Stiefmutter aus Alraunen auf. Ihr Rauchwerk ist handverlesen. Sie betont jedes Wort wie ihr letztes: Alles, was uns wahrhaft gehört, ist geborgt von einem höheren Stern.
Das Mühlrad am Haus dreht sich und dreht uns. Ein leiser Windhauch durch Fensterritzen lässt uns wissen, worin wir geborgen sind. Du irrst dich, klagt die Schwester, nicht Mutterns
Nachsicht war es, ich habe den Schnee vom Küchenboden aufgeleckt!
Horch, Stiegenholzknarren. Herab steigt die Tante in neuem Gewand. Kein Ring an ihrem Finger weist sie aus. Staunend befühlen wir das niegekannte Stickwerk auf ihrer Walkjacke. Fäden aus vielen Jahren gesponnen. Voll Zuversicht bürstet sie sich die Vergangenheit aus dem Haar. Alles Brauchtum ist sinnlich, sagt sie. Wie auf ein Stichwort unter der Hörschwelle holt die Mutter das Kletzenbrot aus dem Ofen. Ob wir rauskönnen, fragen wir, nun, da die Nächte nicht mehr rau sind. Mutter und Tante sehen sich an und brechen in unbändiges Gelächter aus, das die Stube durchsprüht. Wie Wunderkerzen, flüstert die Jüngste und klatscht in die Hände. Ich verstehe den Mond nicht mehr, sagt die andere und schnäuzt sich in ihre Schürze. Wir Schwestern haben uns allzu lange nicht an den Händen gehalten, denke ich und tue es beidseits. Die Hoffnung reicht bis zum Esstisch. Und als läge uns nichts näher, zünden wir darauf die zweite Kerze an.
Dritter Advent
Das Feuer im Ofen ist fast heruntergebrannt. In den welligen Scheiben der Holzveranda brandet das Morgenrot. Tunkt das Haus in einen neuen Tag, noch bevor es verlischt. Ich lege drei Scheite nach, für jede Generation eines. Du hast die Urli vergessen, schimpft meine Schwester, und ich blase beschämt in die Glut. Zahllose Ahninnen, so viele Scheite hast du nicht, sagt die Großmutter und ihre Stimme war nie heller. Unter ihren kundigen Handgriffen wacht die Küche auf. Die Teekanne wiegt beinahe nichts. Nicht in ihren Händen, die einst Tag um Tag Gewänder über die Wäschehobel geschrubbt, weitab des Flussbetts.
Die Sonnenwende naht und der Schnee ist vor der Zeit getaut. Mir gefällt nicht alles, was darunter zum Vorschein kommt, doch ich weine ihm nicht nach. Großmutter kleidet sich in die Farben des Waldes. Eines Tages wird sie nicht zurückkommen. Wimpernumrandet ihr letzter Gruß und ihre Sanftmut bleibt. Käferbrut wird sich von uns nähren, lacht sie unlängst.
Meine Schwester meint, ihre Bluse müsse wohl sauber geworden sein. Atemwolken begleiten sie in die Waschküche. Ihre Herzhaut weicht nicht zurück. Sie trägt meine Bewunderung wie eine Zierde zum Festtag. Ich atme tief durch und gehe hinaus, Feuerholz holen, bevor der Stoß kippt. Kein Knirschen mehr unter den Schuhen. Die Erde ist scheinbar wieder näher gerückt. Stein und Stein schichte ich auf den bemoosten Baumstumpf. Opfergaben an die Treulosigkeit meiner Trauer. Darunter liegt das Tier begraben. Unser Streit darum ist beigelegt. Die Nachsicht hat der Mutter eine Kette um den Nacken gelegt, die alles andere ist als ein Hundehalsband. Der Großmutter hätte das Funkeln gefallen. Gib es nur immer weiter, sagt die Mutter und streicht der Ältesten übers Haar. Die Entbehrungen des Jahres sind über den Blutmond vergessen. Noch ein Viertel, sagt die Mutter. Und wir sehen zu, wie der Germteig beim Ofen aufgeht, wo die Katze am liebsten liegt. Wir haben genug, sagt sie und schlägt den Striezel ins Tuch. Im Tal raufen die Buben um den Sterz, weiß sie und wir mit ihr: Entfesselte Kräfte rauben unseren Mut nicht! Morgen zieht sie ihre Schuhbänder fest.
Der Bach, sonst ein Rinnsal, ist von der Schneeschmelze angeschwollen. Die Holzschaufeln des Mühlrads trinken sich gurgelnd satt und die Jüngste schlürft auf Mutters Schoß Zuversicht aus ihrem Becher. Ich schließe die Holztür mit dem Winterwind hinter mir. Ein Luftzug, der wie meine Großmutter heißt, ist mit mir gekommen und hat einen Docht ausgeblasen. Nicht die erste Kerze, nicht die dritte, frisch angezündete. Die zweite ist es. Die Zeit tut, als wäre nichts geschehen – bald schon, bald! – und lässt uns lichter auflodern.
Vierter Advent
Das ist die letzte lange Nacht. Wir alle vollziehen die uns verbliebenen Rituale der Dunkelheit. Atemluft zwischen Handflächen gewärmt, schüren wir eine Glut, die sich tags vor uns verbergen mag, winden Bänder um entflohene Mythen. Auf dem Fensterbrett die Stille in Milchschalen gegossen, die letzte Anrufung, um die wir sicher wissen. Wenn auch die Großmutter gegangen sein wird, so bleiben wir ruchbar im Schwesternuniversum. Und jede unserer Gesten sei angetan, die Wiederkehr der erstarkenden Sonne zu bezeugen.
Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Lockend ziehen Schwaden neuen Glücks dicht an der Hauswand vorbei. Nichts hat uns darauf vorbereitet. Vogelpaare streiten in der Dämmerung lautstark um den Nachwuchs, der ausbleibt. Wartet noch, wartet, will ich sie trösten, die lichte Zeit kommt bald zurück! Sie glauben nicht mir, sondern allein der Witterung der Zeit selbst. Ahnen nicht, dass mich nichts sonst derart verwirrt, wie ihr steter Verlauf.
Was wissen wir schon? Meist sehen wir die Welt durch unser Fenster, schicken unseren Blick hinaus, tags mehr als nachts. Aus Scheiben, das Werk alter Hände, spiegelnd aus Quarzsand getaucht. Heften Zwirnfäden an unsere Bestimmung, verlassen uns auf die Saligen. Dass sie von den Gletschern herabsteigen, uns innewohnen, sobald die Welt aus dem Nebel fällt.
Ich wage einen Schritt vor die Tür. Jetzt ist da ein Glitzern von tanzenden Schneeflocken rund um mich. Tränen kristallisieren auf meinen Wangen. Ich gehe bis zur Grenze. Dort treffe ich sie. Sie bietet mir Obst an, das ich zunächst nicht annehmen will. Einen glasierten Apfel, glänzend und ahnungsvoll süß knackend. Sie lacht, beißt selbst hinein. Die Apfelhaut rotglühend in ihrem Mund wie das Schwesternzahnfleisch. Sie bückt sich, die Haare fallen ihr über die Schultern nach vorn, ich glaube es sind meine, formt mit bloßen Händen aus der Erde neues Leben. Reicht es mir. Das und die Bitte, es unterm Gaumendach zu verwahren.
Zurück in der Stube sehe ich meine Schwestern verändert an. Die Mutter birgt ihr Gesicht in Kinderhaut weich. Am Tisch ist mein Platz frei. Die Karten liegen über ihn verstreut, wie kleine Zündflammen, schmelzen die Schatten der Schriftzeichen, über Jahre ins Holz gekerbt. Ihr Abdruck ist weithin nahbar. Wir wissen, was diese Umarmung bedeutet und behängen die Äste. Das Christkind zählt drei Tage von der Sonnenwende hinauf. Verlässliches Uhrwerk meiner Geborgenheit. Die baumelnden Schokokugeln in weißes Fransenpapier geschlagen, sind ihre Zahnräder. Vier Kerzen zitieren uns die Himmelsrichtungen. Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Die Feuer werden die Hänge hell erleuchten. Alles hat uns darauf vorbereitet.
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Sofie Morin
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4 | Marlies Blauth
4. Dezember 2021Literatur,GrafikAdvent-mosaik,Marlies Blauth
Landschaft
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Marlies Blauth
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3 | Angela Ahlborn
3. Dezember 2021Literatur,ProsaAdvent-mosaik,Angela Ahlborn
Spurensuche
Jost atmet tief durch. Jetzt nur nichts sagen, es hat keinen Sinn, es würde die Situation nur verschlimmern. Er meidet den Blick seiner Mutter; zu oft hat er sie in dieser resignierten Abwehrhaltung gesehen, tapfer ausharrend, mit Tränen in den Augen. Die Stimme seines Vaters schwillt an, jedes ausgespieene Wort ist ein Treffer. Wo lauert die unbändige Wut, die unberechenbar wie aus dem Nichts immer wieder aufflackert? Hatte sie stets in seinem Vater gebrodelt, nur gedeckelt und gut versteckt? Die Wesensveränderung sei der Krankheit geschuldet, beteuern die Ärzte. Jost will das glauben, bei jedem einzelnen Zornesausbruch seines Vaters gibt er sich größte Mühe.
Ihn quält wie so häufig die Frage, ob man hätte achtsamer sein müssen. Als sein Vater begann zu verschwinden, hatte es kaum jemand bemerkt, im Rückblick erscheinen ihm die Vorboten schmerzhaft deutlich. Vor Jahren schon verstand sein Vater bei einem Weihnachtsfestessen den bei solchen Gelegenheiten ständig erzählten Familienwitz nicht mehr. Mit merkwürdig großen Augen erklärte er Josts Schwester, ihn noch nie gehört zu haben. Er sorgte mit dieser Aussage für ein kurzes erschrecktes Innehalten der fröhlichen Gesellschaft. Josts Mutter lachte die Beklommenheit weg. Einige Wochen später fand Jost beschmutzte Unterwäsche seines Vaters, versteckt an den unmöglichsten Stellen. Seine Mutter schmunzelte auch darüber und riet ihm, sich nicht zu sorgen, der Vater sei nun auch nicht mehr der Jüngste, da passiere so etwas und es sei ihm sicherlich peinlich.
Mit den Jahren ließ das Lachen in Josts Elternhaus nach. Sämtliche Versuche, die Mutter auf den Zustand des Vaters anzusprechen, wurden von ihr boykottiert. Die zunehmende Vergesslichkeit ihres Mannes sowie seine sich plötzlich entwickelnden Eifersuchtsanfälle entschuldigte sie mit seinem Alter. Josts Vorstoß, einen Neurologen zu konsultieren, wurde mit groben Unflätigkeiten kommentiert; nie zuvor hatte er seinen Vater solche Worte sagen hören. Wie ein Tuch legte sich die Sorge vor drohendem Unheil auf die Familie, Frohsinn und Unbekümmertheit wurden herausgefiltert.
Demenz. Der Zustand des Vaters hatte jetzt einen Namen. Kompromisslos und nicht diskutierbar. Erstmalig ausgesprochen und als weitere Diagnose in den Entlassungspapieren schriftlich festgehalten. Sein Vater hatte mehrere Tage wegen einer Niereninsuffizienz im Krankenhaus verbracht. Der Damm war gebrochen, Josts Mutter konnte sich alles von der Seele reden, sie war befreit vom Druck, die Situation zu verharmlosen. Gleichzeitig zwang sie der Befund, sich von der Illusion einer normalen Alterserscheinung zu verabschieden. Jost konnte das Ausmaß ihrer Einsamkeit nur erahnen. Der Vater war von allem unberührt. Niemand traute sich, das Thema anzusprechen, zu groß war die Furcht vor einem erneuten Wutausbruch, den letztlich seine Mutter mehrere Tage auszubaden hätte.
Die Krankheit war launisch; es gab hellere Tage, in denen man sich der Hoffnung hingeben konnte, der Verlauf wäre eventuell zu stoppen oder würde sich gar bessern. Als die Diagnose endlich feststand, kam fast so etwas wie Euphorie bei Jost auf. Er hoffte, nun könne man handeln, Ärzte um Medikamente und Therapien bitten, Ratschläge von Betroffenen einholen, einen Pflegedienst hinzuziehen. Die Erkenntnis über die Unheilbarkeit einer Demenz traf ihn schwer. Auch der Rat, das Wohlbefinden des Betroffenen zu fördern, stellte keine Entlastung dar; sein Vater wehrte sich gegen jede noch so kleine Hilfeleistung, da er keine Krankheitseinsicht empfand.
Jost vermisste seinen Vater schmerzlich. Die ausführlichen Gespräche zwischen ihnen gehörten der Vergangenheit an, jedwede Logik erreichte den Vater nicht mehr. Von dem ehemals klugen und belesenen Feingeist schien nur noch die optische Hülle existent zu sein. Immer wieder suchte Jost seinen Vater in dem so vertrauten, doch meist ausdruckslosen Gesicht. Tatsächlich fand er ihn manchmal ganz weit in der Vergangenheit; dort waren sie beide sicher, es war fast wie früher, die Rollen klar definiert, Vater und Sohn. Viele Ereignisse aus der Kindheit und Jugend waren noch abrufbar und belebten die sonst so leere Miene des alten Mannes. Jost hatte noch nie zuvor den Wunsch verspürt, etwas schriftlich festzuhalten, aber jetzt gab er dem Bedürfnis nach, jedes Detail ihrer Beziehung aufzuschreiben, bevor sein Vater sich gänzlich in sich zurückziehen würde.
Ihm war die Sinnlosigkeit der Frage bewusst, ob die Veränderung des Vaters ausschließlich auf die Demenz zurückzuführen war oder die damit verbundene fehlende Impulskontrolle seinen wahren Charakter zum Vorschein brachte. Jost hatte sich schon immer an der Dominanz und Selbstgerechtigkeit seines Vaters gerieben, jedoch gingen diese Eigenarten vor der Krankheit nie über ein erträgliches Maß hinaus. Etwas in ihm flehte danach, den Vater aus der Verantwortung zu ziehen, wenn dieser wieder einmal seine Mutter mit wüsten Beschimpfungen und haltlosen Eifersuchtstiraden quälte. In diesen immer häufiger vorkommenden Situationen besaß Jost nicht den Abstand, die verbalen Gewaltexzesse seines Vaters mit dem dementiellen Syndrom zu entschuldigen, sondern sah einen bösartigen Menschen, der eine nicht auszuhaltende Belastung für seine Mutter darstellte. Im Anschluss empfand er Scham und versuchte, sein Verhältnis zum Vater neu zu definieren, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Hatte er früher seine Bindung zu ihm ohne Zögern mit Liebe und Zuneigung assoziiert, war da jetzt ein verwirrendes Vakuum, das er gerne mit mehr als pflichtbewusster Sorge befüllt hätte. Und er fürchtete sich vor der Erinnerung an seinen Vater: Würde er ihn später nur noch als den Menschen sehen, der er in seinen letzten Jahren gewesen war?
Jost schreckt auf, ein klirrendes Geräusch unterbricht die zornigen Beschimpfungen. Sein Vater hat eine Tasse nach seiner Mutter geworfen. Er unterstellt ihr einen zu freundlichen Umgang mit dem Pflegehelfer. Die Mutter weint leise, der Vater erhebt sich, Jost steht bereit, sich schützend vor die Mutter zu stellen, doch sein Vater geht stumm in den Garten. Hilflos nimmt Jost seine Mutter in den Arm, versucht zu trösten. Noch als er die Scherben auffegt, ist er von Wut erfüllt.
„Kannst du nach ihm schauen, Jost?“, bittet seine Mutter. „Ist wohl besser, wenn du das tust.“
Mit dem Gefühl, der Situation nicht mehr gewachsen zu sein, geht Jost auf den Rücken seines Vaters zu. In Erwartung einer wie immer sinnlosen Auseinandersetzung setzt er sich neben ihn auf die Gartenbank. Ohne ihn anzuschauen greift der alte Mann nach seiner Hand.
„Ich weiß nicht, was los ist, Junge, irgendwas stimmt nicht in meinem Kopf“, weint er leise. Fest umschließt Jost die Hand seines Vaters.
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Angela Ahlborn
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2 | Marc Späni
2. Dezember 2021Literatur,ProsaAdvent-mosaik,Marc Späni
Zielorte
Im Homeoffice habe ich die praktische Philosophie entdeckt.
Wann immer es die Arbeit zulässt – und das ist eigentlich immer –, gehe ich zur S-Bahn-Station und helfe den Leuten, ihren Weg zu finden.
Ich bin aber keiner von denen, die Bibeln verteilen oder mit Kreide den ganzen Asphalt vollschreiben, Gott ist der Weg. Jesus rettet dich. Das Gebet wirkt.
Das Zentrum meines Wirkens ist der Billettautomat, dieser stählerne rot-blaue Altarblock, das Kontrollzentrum der Station, ihr Gehirn.
Zehn, fünfzehn Minuten bevor der Zug fährt, stehe ich da.
Ich helfe auch denjenigen, die mit dem Automaten nicht klarkommen, wie man ein 24-Stunden-Anschlussbillett für drei Zonen löst oder ein halbes nach Olten 1.Klasse. Meine eigentliche Zielgruppe sind aber diejenigen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ihnen mache ich Vorschläge. Mittlerweile sehe ich es den Leuten nämlich immer besser an, wo ihre Bestimmung liegt. Schwierig sind diejenigen, die behaupten zu wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht von ihrem Irrtum abbringen lassen. Erst einmal ist es mir gelungen, einem solchen gegen seinen Willen das Ticket zu seiner richtigen Bestimmung zu lösen und es ihm im letzten Augenblick in die Hand zu drücken, als sich die Zugstüren schon schlossen. Man muss diese Leute zu ihrer Bestimmung zwingen. Schwierig sind auch diejenigen, die den Automaten für sich in Anspruch nehmen, da kommt es schon mal zu kleineren Rangeleien, vor allem zu Stosszeiten.
Selten ist niemand da. Meistens wenigstens Oberholzer, mit seinem karierten Hemd und der verschlissenen Manchesterjacke.
Ihm brauche ich nicht zu helfen, er kennt seine Bestimmung: Er will nirgendwo hin.
Mit Oberholzer erörtere ich philosophische Fragen: Wer sind all die Leute, die ein- und aussteigen? Wer sind wir? Worauf warten wir eigentlich? Was sollen wir sonst noch tun? Am Automaten komponieren wir immer ausgeklügeltere Tickets: Mit einer Mehrfahrtenkarte erster Klasse von Goppensteig nach Ganterswil via Le Locle, Arosa und Brunnen SZ haben wir neulich die Marke von 17'000 Franken gesprengt. Natürlich kann man solche Billette am Ende nicht am Automaten kaufen. Es sind Gedankenexperimente, Denkspiele.
Immer freitags kauft Oberholzer ein Ticket, nach Amriswil, Puntrutt, Höri oder sonst wo hin, faltet es, steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie und geht nach Hause. Er muss schon eine große Sammlung haben.
Wenn ich ihn frage, warum er nie fährt, schüttelt er den Kopf. «Der Zug fährt genau dahin, wo die Schiene hinführt, egal was du dir für ein Billett kaufst.» Seit einiger Zeit ist er auch überzeugt, dass Orte wie La Tine, Tinglev, Tinizong oder Tincques nur Erfindungen eines verrückten Programmierers sind.
Und langsam gelange ich zur Überzeugung, dass er recht haben könnte.
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Marc Späni
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1 | Tara Meister
1. Dezember 2021Literatur,ProsaAdvent-mosaik,Tara Meister
richtung mittel
Socken
Mike hob den Karton hoch über das zerlegte Bettgestell und seine Muskeln glänzten, deltoideus, trapezius, biceps, das volle Programm.
Mia seufzte, schon den ganzen Vormittag. „In ein paar Tagen habe ich vergessen, wie es ausgesehen hat.“
Ihre nackten Füße ragten über den Couchtisch, dahinter stapelte sich beinahe alles, nur das Regal stand noch.
In der Küche wickelte Ben Gläser in Zeitungspapier ein, Wassergläser und Weingläser, die ein bisschen klebrig waren. Dass sie nicht zerbrachen, auf den 47 Kilometern zwischen hier und dort.
Aus der Musikbox kam Big Thief, regelmäßig unterbrochen von dem Akku-leer-Geräusch.
Ob er in der neuen Wohnung noch den 2 Euro 80 Wein trinken würde, überlegte Ben, oder nicht mehr, bei 2,3 brutto.
Mia kam in die Küche, drehte die Musikbox leiser. „Es geht mir zu schnell“, sagte sie und: „Kann ich deinen Duschvorleger haben?“
„Ja.“
Zerbrechliches
Ben stapelte ein eingepacktes Glas nach dem anderen in den Karton.
„Da steh ich dann nackt drauf und nass, wenn ich aus der Dusche komme und denk an dich“, sagte Mia, „voller Mitleid.“
Sie griff nach den restlichen Weintrauben in der Obstschale.
„Danke“, antwortete Ben.
Junger Mann fällt mit Fahrrad in den Donaukanal hieß es auf der Doppelseite, in die er die Zuckerdose einwickelte.
„Wer als nächstes, frag ich mich“, Mia ließ eine Traube zwischen ihren Zähnen platzen, „hat bei dir auch niemand kommen sehen, dass du eines Tages arbeiten gehen würdest.“
Sie trug ihren fliederfarbenen Pullover, mit Absicht, vermutete Ben. Den, den er an einem Abend ein wenig angesengt hatte. Wenn sie ihm den Rücken zuwandte, sah er das dunkle Brandloch.
„Ich bau das Regal jetzt ab!“, rief Mike aus dem anderen Zimmer.
„Passt!“, rief Ben zurück.
„Willst du alle Bücher behalten?“
„Ja!“
„Alle, alle?“
„Ja!“, brüllte Ben über das einsetzende Geräusch der Bohrmaschine.
„Wer liest denn Bücher zweimal?“
Sonstiges
Ben stand zwischen den Kisten, nippte an seiner Bierflasche, seine Augen waren ein bisschen feucht. Mia bemerkte es erst, als sie ihre Zigarette fertig geraucht hatte.
„Schon gut“, sagte sie und zwickte ihm in die Wange, „irgendwann wären wir sowieso hässlich geworden. Sogar Mike, das glaubt er mir nur nicht.“
Später war der Flur vollgeräumt und die Wohnung leer.
Zu dritt setzten sie sich vor die Zimmertüre auf den Boden und begannen die Sticker von dem Milchglas zu kletzeln. Es dauerte lange und unter jeder Schicht kam eine neue. Politische Parolen, Veranstaltungen, Musikbands, klebrige weiße Fussel sammelten sich unter ihren Fingernägeln.
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Tara Meister
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freiVERS | Jakob Stoiber
28. November 2021Literatur,LyrikfreiVERS,Jakob Stoiber
sonnenkönige auf flammenden streitwägen (berge dersims in mir)
vor dem schönsten
urlaub:
ich komme um zu brennen
wer will mich aufhalten?
vor der zittrigsten
party
nacktes fleisch,
schaum und
linien zuhauf:
ich komme für den krieg
wer will mich aufhalten?
vor dem eintritt
in ein sonnenreich
das sich dreht
wie indische götter:
ich komme um zu sterben
wer will mich aufhalten?
hü!
.
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freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
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POEDU - Text des Monats November
.Miley
(10 Jahre alt)
Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.
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Die Aufgabe diesmal kam von Anna Hetzer:
Bildgedichte (visuelle Poesie) - Stell dir vor, Wörter sind wie Spielzeuge, die du auseinandernehmen, drehen, rückwärts schreiben etc. kannst. Dein Blatt Papier ist ein Raum, in dem du mit den Wörtern und Buchstaben spielst. Ich habe mit den Wörtern „NEBEL“ und „LEBEN“ gespielt (ließ sie mal rückwärts!)
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freiTEXT | Adrian van Schwamen
26. November 2021Literatur,freiTEXTProsa,Adrian van Schwamen
Sommersprossen
„Was kostet die hier?“, wollte Clara wissen und reichte einem in sein Buch vertieften alten Mann eine Puppe über den Flohmarkttisch. Der Mann schien das kleine Mädchen im dichten Gedränge vorbeilaufender Schnäppchenjäger jetzt erst bemerkt zu haben. Er richtete sich in seinem Klappstuhl auf. Sein Blick wanderte von seinem Buch über die Puppe hin zu dem Mädchen.
„Die verkaufe ich dir nicht.“
„Warum legen Sie sie dann hier hin, wenn sie nicht verkauft werden soll?“, fragte Clara trotzig.
„Oh, sie soll verkauft werden“, sagte der alte Mann und lehnte sich im Stuhl nach vorne. „Aber ich werde sie nicht dir verkaufen.“
„Warum nicht?“
„Nun ja“, begann der alte Mann, „sie passt doch gar nicht zu dir.“
„Aber ich finde sie schön“, sagte Clara und strich mit ihrer sommersprossengesprenkelten Hand durch die blonden Haare und über die gleichmäßig gewebte Haut der Puppe.
„Und ich finde die hier schön, Moment…“, sagte der Mann, zog einen Karton unter dem Tisch hervor und begann darin zu kramen.
„Hier ist sie!“, sagte er und legte eine weitere Puppe zwischen sich und das Mädchen. Es war eine dieser Porzellanpuppen, wie Clara sie schon oft bei ihren Großeltern in einer Vitrine gesehen hatte. Sie hatte flammend rotes Haar und ihre Haut war mit hellroten Punkten übersät. Ihre kleine Jeanslatzhose war bereits stark ausgeblichen und ausgefranst.
„Die ist alt. Und hässlich“, protestierte Clara.
„Keinen Tag älter als ich“, sagte der Mann und schenkte Clara ein knittriges Lächeln. „Und bei hässlich muss ich aber ganz stark widersprechen.“
„Sie ist fleckig“, sagte Clara.
„Du bist auch fleckig“, erwiderte der Mann.
„Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Artgenossen“, singsängelte Clara und nahm die Porzellanfigur vorsichtig in die Hand.
„Wo hast du denn so einen Blödsinn her?“, fragte der Mann und warf seine Stirn in etliche Falten.
„Das sagen sie in der Schule manchmal zu mir.“
„Wer?“
„Die anderen.“
„Ach, was wissen die anderen schon?“, sagte der Alte und winkte ab, als wolle er einen aufdringlichen Gedanken verscheuchen. „Die kennen vermutlich nicht die Geschichte von Lylithia, der Kriegerkönigin.“
Clara schaute den Mann herausfordernd an.
„Kennst du denn die Geschichte?“, fragte er schließlich.
„Nein“, erwiderte Clara.
„Das gibt’s doch nicht! Na, dann nimm Platz und hör mal zu“, sagte der Mann und wies auf einen kleinen Schemel, der einem Karton mit alten Platten als Podest diente. Clara wuchtete den schweren Kasten auf den Boden und setzte sich.
„Also, die ganze Geschichte von Lylithia wäre lang genug, um für Stunden darüber zu sprechen. Lange vor unserer Zeit, sogar noch lange bevor die Ägypter an den Bau der Pyramiden denken konnten, war Lylithia die Königin vom inzwischen versunkenen Kontinent Greadria. Sie war der erste Mensch, der es geschafft hatte, die unzähligen kriegerischen Stämme, die den Kontinent bevölkerten, miteinander zu versöhnen und zum Frieden zu bewegen. Von der Stadt Genephilaes aus, die sie selbst gegründet und der sie zu ihrer Größe verholfen hatte, herrschte sie liebevoll, aber konsequent über das Land. Ihr Weg dahin war allerdings kein leichter. Unzählige Kämpfe hatte sie austragen müssen, um sich Respekt zu verdienen in einer Gesellschaft, die sich am besten in der Sprache der Gewalt verstand. Und jeden Sieg hatte sie mit einem kleinen Brandmal auf ihrer Haut bezeugt, um sich stets selbst vor Augen rufen zu können, wie weit sie gekommen war. Zunächst noch an Stellen, die niemand sehen konnte, hatte sie irgendwann auch auf Beine, Arme und schließlich ihr Gesicht ausweichen müssen, um jeden einzelnen Sieg auf die gleiche Weise wertzuschätzen. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht war ihr Körper schließlich fast gänzlich mit den kleinen Malen überzogen, und jedes Einzelne erzählte eine eigene Geschichte.
Diese Male, so erzählt man sich, gab sie weiter an ihre Tochter, die bereits mit einem mit kleinen Punkten gesprenkelten Körper auf die Welt kam. Und auch deren Töchter besaßen die Male der Kriegerkönigin Lylithia. So wurden sie Generation um Generation weitergegeben. Manchmal weniger ausgeprägt, einige kamen mehr nach ihren Vätern, und manchmal dann wieder so deutlich, wie es bei dir der Fall ist. Das auf deiner Haut sind nicht irgendwelche Flecken, es sind die Geschichten von den großen Taten Lylithias, getragen durch die Zeit auf der Haut ihrer Nachfahren, um diese daran zu erinnern, wozu sie in der Lage sein können.“
„Das haben Sie sich doch ausgedacht“, sagte Clara und sprang vom Schemel auf.
„Wenn du das denken möchtest“, sagte der alte Mann und hielt Clara die Puppe entgegen. „Möchtest du sie dennoch haben?“
„Sie bekommt heute nichts“, sagte die Stimme einer Frau, die plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. „Kinder, die sich prügeln, bekommen nichts. Komm, dein Vater sucht auch schon nach dir.“
„Du hast dich geprügelt?“, fragte der alte Mann.
„Nein…“, sagte Clara.
„Aber du warst kurz davor. Entschuldigen Sie, dass sie Sie belästigt hat“, sagte die Frau und schob Clara sachte vor sich her.
„Einen Moment!“, sagte der alte Mann und beugte sich über den Tisch. „Dann nimm wenigstens das, es ist ein Geschenk. Deine Mutter sollte nichts dagegen haben.“
„Ein Stift?“, fragte Clara.
„Den kannst du gleich Zuhause nutzen, um deine Entschuldigung an Damian zu schreiben“, sagte ihre Mutter, nahm den Stift und steckte ihn ihrer Tochter in die Manteltasche.
„Dafür wird er sich nicht eignen“, sagte der Alte an Clara gewandt, „Er schreibt in einem Karamellton, in etwa wie die Farbe deiner Flecken.“
Bevor Clara sich weiter darüber wundern konnte, wurde sie von ihrer Mutter davongezogen.
„Aber pass auf“, rief ihr der Mann noch hinterher. „Die Farbe geht nicht wieder ab!“
*
„Sie hat was getan?“, schnaufte Claras Mutter zornig ins Telefon und wandte sich um. „Ulrich, unsere Tochter hat Damian heute die Nase gebrochen.“
„Ist Damian nicht zwei Köpfe größer als sie?“, fragte Claras Vater und schaute von einem laut arbeitenden Laptop auf. „Wahnsinn Schatz, wie hast du das denn geschafft?“
„Mit der Faust“, erwiderte Clara. Auf einem hohen Hocker an einem Tresen sitzend gab sie eifrig vor, ihre Hausaufgaben zu machen, während ihr Vater neben ihr gleiches mit seiner Arbeit tat. „Er hat mich geärgert.“
„Bravo, meine Süße“, sagte ihr Vater, strich Clara über den Kopf und wandte sich wieder dem Laptop zu.
„Du heißt das doch nicht etwa gut?“, sagte Claras Mutter entrüstet.
„Dass unsere Tochter sich zu wehren weiß?“, erwiderte Claras Vater.
Ihre Eltern stritten noch eine ganze Weile. Clara malte sich mit ihrem neuen Stift indes füßebaumelnd einen kleinen, karamellfarbenen Punkt zwischen zwei Sommersprossen auf ihrem Unterarm. Als die Farbe getrocknet war, fiel der Unterschied zu den anderen Punkten nicht mehr auf. Man könnte meinen, er war nicht mal mehr vorhanden.
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freiVERS | Alexander Rall
21. November 2021Literatur,LyrikfreiVERS,Alexander Rall
Alte Wege - Altes Land
ein paar altbekannte Wege
die ich gehe, der
jüdische Friedhof, den man nur
über eine Mauer erreicht, im Versteck
reicher Gärten, aus Stein
ein aufgeschlagenes Buch
Chiffren ausgewaschener Zeit
Spiele die nie zu Ende gespielt wurden
als Kind schlug ich den Tennisball
gegen die Wand mit kleinen Händen
gegen die Zeit - heute
lag er mitten im Herbst zwischen
gelb-roten Spuren, rau welk
abgespielt war sein Filz
alte Garagen offen ein Käfer
die Kotflügel abgefallen, rostig und halbtot
wie die Raupen und der Kran
im Stillstand des zukünftigen Bauens
da kommst du nicht mehr vor
in den neuen Geschichten
in lichten Fenstern, wie abgeschnitten
die Strassen - du brauchst nur
zu klingeln, alte Bekannte
sind immer noch da, verharren
grüßen und laden sich ein - wenn
du willst gehör ich dazu - rede
über den Match-Ball
den perfekten Volley, das
Stipendium im Ausland
das nächste Kind, den neuen Besitz, die
kranke Kasse ‚Anything goes‘
nicht weit das alte Land
Licht in den Bäumen
Gezwitscher in Gärten
faulendes Obst, Moor und Moos
massig im Schlaf
schau weiter in die Stille
blicklos das auftauchende Meer
eine Landschaft aus Dünen und Worten
gezeichnete Wege mit weichen
stampfenden Schritten im Sand
hinter geschlossenen
hellwach spiegelnden Augen
bis zum nächsten Zug
einatmen und aus
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