freiTEXT | Andrea Berger

Weder Kind noch Karriere

Tante Grete würde es beim mittwöchigen Kaffee- und Häkelkränzchen mit den ortsbekannten Bürgersfrauen nicht ohne Stolz wie folgt formulieren. Ihre Nichte Ilse ist noch keine dreißig und schon Frau Doktor und außerdem schreibt sie Artikel, die in Zeitschriften und Magazinen abgedruckt werden.

Denn Ilse war ja schon als Kind so brav und strebsam und hat jeden Sommer, wenn sie für drei Wochen bei ihr war, weil die Frau Mama unverständlicherweise auch nach zwei Kindern nicht auf die Arbeit verzichten konnte, darum gebeten wenigstens ein Kapitel pro Tag in Ruhe in ihrem mitgebrachten Buch lesen zu dürfen. Anfangs hat sie ja versucht dem Kind zu erklären, dass es jetzt Ferien hat und nichts für die Schule tun muss. Sie hatte ja sowieso ihre Schwester in Verdacht, die vorlauter auf Karriere getrimmt, dem Kind wohl eingeredet hat, es müsse sich auch in den wohlverdienten Ferien weiterbilden, um zumindest annähernd so erfolgreich zu werden wie sie. Doch mit der Zeit hat sie eingesehen, dass dem Kind das Lesen wohl Spaß macht und hat es in Ruhe gelassen, zumindest nach dem Mittagessen samt Palatschinke-Kakao-Nachspeise und einem Sandwich-Eis. Somit ist es also nicht verwunderlich, dass Ilse nun den Doktor hat; eigentlich hat ja sogar sie durch ihre Förderung in all den Sommern dazu beigetragen.

Bevor man sich nun in besagter Runde um nähere Details zur Vorzeigenichte erkundigen würde, wäre man sich unausgesprochen bezüglich Ilses Mutter, Gretes Schwester, und deren Fehlverhalten und Karriereambitionen einig. Denn wie kann es richtig sein, dass man zwar offensichtlich Kinder will, sie dann aber nach nicht einmal einem Jahr bereits in Betreuungseinrichtungen abschieben muss, nur weil man als Hausfrau und Mutter keinen besonderen Status und Ruf genießt. Vor allem hätte sie das ja wirklich nie nötig gehabt, bei dem was ihr Franzl verdienen muss. Oder wie lässt sich sonst der fette Audi TT samt Ledersitzen erklären. Immer war und ist er wie aus dem Ei gepellt, die teuersten Anzüge und Maßschuhe, edel Armbanduhren und am Wochenende geht’s auf den Golfplatz. Alles im Superlativ, alles eine Spur exklusiver als der Rest im Ort. Da wäre es sich doch ausgegangen, dass die Frau zuhause bei den Kindern bleibt. Jede der anwesenden Damen würde mindestens eine weitere kennen, die genauso familienunfreundlich agiert und der die Mutter- und Hausfrauenrolle wohl eindeutig zu wenig schick ist. Und den Vorwand der Unterbeschäftigung und Langeweile würden sie schon gar nicht gelten lassen. Denn wenn man sich nicht mindestens einmal wöchentlich Putz-, Bügel-, Einkaufs-, Garten- und Nachhilfe bestellen, sondern alles selbst ordentlich im Haus und Garten erledigen würde, würden die feinen Damen schnell merken, dass das Familienmanagement ein weitaus anspruchsvolleres Unternehmen ist als die Stelle als halbtags Schreibkraft.

Genauso echauffieren würde man sich jedoch auch über die Tochter des Bürgermeisters. Denn sie, die es ja gar zum Grüßen stets zu eilig, geschweige denn ein paar Minuten für ein Gespräch übrig hat, ist ja angeblich stets terminlich über Monate ausgebucht und kann wenn überhaupt erst nach mehrmaligen Anfragen ein Zeitfenster von maximal fünfzehn Minuten freischaufeln, in das sie einen dann ausnahmsweise reinschiebt. Die Frau Superwichtig. Man kann es sich schwer vorstellen, dass das Geschäft mit den farbenfrohen, Schlankheit versprechenden Vitaminbomben so gut läuft. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die demonstrative Vielbeschäftigung und der exzessiv zur Schau gestellte Freizeitmangel eher der Prestigevermehrung dienen soll als den tatsächlichen Workaholic markiert.

Jedoch würden alle anwesenden Damen auch mit äußerst erfolgreichen, meist männlichen Prachtexemplaren aus den eigenen Familien auftrumpfen können. Söhne, Neffen und gar schon Enkel, die mit Häusern und Ferienapartments in bester Lage, Einrichtungen, Uhren und Bekleidung von Top-Designern, Kindern auf Privatschulen, privaten Golflehrern als Manager, Anwälte und Ärzte 80-Stunden-Wochen absolvieren und die Anzeichen des gesellschaftlich akzeptierten Burnouts, sozusagen die De luxe-Variante der Depression, wie eine Medaille mit stolzer Brust vor sich hertragen.

Gegen Ende des Treffens würde man sich dann aus Neugierde schon noch nach Gretes Nichte Ilse erkundigen, vor allem würde man sicher gerne erfahren in welchem Krankenhaus die Frau Doktor denn nun tätig ist. Grete würde etwas verunsichert erklären, dass das nicht so ein richtiger Doktortitel ist, sondern einer, den man in geisteswissenschaftlichen Studien erhält. Schließlich hat Ilse etwas mit Sprachen studiert. Etwas irritiert würde man dann natürlich nachfragen wo die Nichte nun arbeitet und wäre dann etwas verblüfft, dass sie mit ihrem Doktortitel in der örtlichen Buchhandlung aushilft. Verkäuferin also. Ein wenig kleinlaut würde Grete auch die Fragen zu den Artikeln in diversen Magazinen beantworten. Denn so ganz verstehen würden es ihre Freundinnen nicht, warum man so etwas unentgeltlich macht. Was ihr diese Veröffentlichungen dann eigentlich bringen, könnte auch Grete nicht ganz eindeutig beantworten. Man würde jedoch schließlich davon ausgehen, dass Ilse mit ihrem Alter vermutlich ohnedies bald in die Mutterrolle schlüpfen wird. Da Grete jedoch auch dies nicht zur Zufriedenheit der Runde beantworten würde können, da Ilse offen und klar über ihren nicht existenten Kinderwunsch spricht, würde man sich schon ein wenig wundern und insgeheim auch fragen, worauf Grete da eigentlich so stolz ist.

Andrea lebt und arbeitet in Graz / absolvierte das Doktoratsstudium der Romanistik (Literaturwissenschaft/Italienisch) und Kunstgeschichte / schreibt unregelmäßig kurze Texte für verschiedene Magazine und Zeitschriften / liebt Ohrringe

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Andrea Berger

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freiVERS | Anika Hoffmanns

Kegeln gehen

Jeden Freitag Abend
marschierte der Club in die Stadt.
Über den Kirchplatz, rechts in die Gasse
zum hell erleuchteten Kolpinghaus.

Wie früher in den Sechzigern
malt sie sich heute die Lider blau an.
Schlüpft in ihr altes Lieblingskleid,
das kraftlos hängt wie ihr Haar.
Die Dauerwelle zur Feier des Tages
hat der Friseur ihr verwehrt.

Sie öffnet die Haustür, schließt sie wieder,
die Nachrichten fallen ihr ein.
Die leeren Straßen und die Sonntage
an denen der Pfarrer schweigt.

Aber trinken! Das kann sie noch,
im Kühlschrank steht billiger Sekt.
Und später beim dritten Doppelkorn
hat sie die Kugel in der Hand
und Holztäfelung unter den Fingern.

Es läuft ein Schlager im Radio,
der macht sie zur Königin.
Während sie blinzelt, keucht und schnieft
wiegt sie sich weiter im Takt der Musik.

Klirrend wirft sie mit leerer Hand,
beim ersten Versuch alle Neune.
Sie taumelt, reckt stolz die Arme empor,
die Scherben lässt sie liegen
wie jeden Freitag Abend.

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Anika Hoffmanns

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mosaik35 - Hahn oder Henne

mosaik35 - Hahn oder Henne

INTRO

„Besonders gut im Erzählen sind natürlich Kinder. Daneben aber auch marginalisierte Menschen – sie verbringen viel Zeit mit Tätigkeiten, die man gemeinhin unter Müßiggang fasst, spielen also zum Beispiel in den Parkanlagen, sprechen dem Bier zu und unterhalten sich ziellos. Genaugenommen sind sie Erzählprofis, vielleicht sogar in einem strengeren Sinne als wir Schriftsteller*innen, denn sie tun tagelang nichts anderes, als sich Geschichten zu erzählen.“

Die Fragen, wer im Literaturbetrieb erzählt und welche Geschichte(n) dadurch erzählt werden, treiben uns schon seit Langem um. Mit der Entscheidung, keine Biografien abzudrucken, prägen wir seit 35 Jahren die Tradition #fucklebenslauf. Gleichzeitig wissen wir dadurch auch kaum, wer hinter all den Texten in der Zeitschrift steckt. Wir hoffen, euch wieder möglichst ausgewogene Diversität präsentieren zu können.

Und zur Sicherheit haben wir einige Autor*innen, die wir besonders schätzen, eingeladen, im Kulturteil ihre Erfahrungen beizusteuern. So berichtet uns Alexander Estis – von dem auch das Eingangszitat stammt – über
seine Begegnungen in Köln-Kalk. jiaspa fenzl entführt uns nach Wien und in BABEL könnt ihr wieder neue Stimmen aus ganz Europa kennenlernen. Wer auf der Suche nach spannenden Zeitschriftenprojekten ist, wird im liberladen fündig – eine Hand voll stellen wir euch wieder gegen Ende der Zeitschrift vor. Und weil Kinder
anscheinend besonders gut im Erzählen sind, endet auch diese Ausgabe wieder mit Texten von Kindern für Kinder.

euer mosaik

Inhalt

Schöne süße Welt

Verena Dolovai – Fütterung
Marlene Schulz – Hilla
Stefan Heuer – flitschen
Steve Strix – schwein im angesicht

Ein leises Oh

Stefanie Maurer – Die Eschen fallen
Christian Günther – Drei ältere Männer
Roland Grohs – Allein-Arbeit
Sagal Maj Comafai – music for commercials
Hanna Quitterer – Das Haus an der Bahnlinie

Zum lieblosen wechseln

Raoul Eisele – fast k:eine Liebe
Majka Hausen – Der vergessene Krieg
Otto Dvoracek – In idealer Fremde
Tara Meister – Nach den Samstagen
Alexander Weinstock – Im Schrank

Kunststrecke von Stefanie Hintersteiner
BABEL - Übersetzungen

Die Einsamkeit der Lastwägen, die frische leere Autos abtransportieren – Autos fahrende Autos also, oder doch die Beichte eines Selbstmörders? Ins Spaghettiregal eingetauchte Finger, und die letzten Zeichnungen eines todkranken Mädchens. Egal ob in tschechischer, ukrainischer oder serbischer Sprache – dem Tod und der Einsamkeit haftet Zeitloses in der Literatur an. Die Suche nach Sinn obliegt einer universellen menschlichen Sehnsucht, die Fragen stellt, ohne konkrete Antworten zu ernten: Was bleibt von uns, wenn wir einmal weg sind? Wohin gehen wir? Wer waren wir überhaupt?

Alle Texte in der vorliegenden Ausgabe von BABEL widmen sich auf die eine oder andere Weise diesen existenziellen Fragen, die in der Literatur – wie wohl in keiner anderen Kunstform derart – Trost zu spenden suchen vor der Welt und ihrer Endlichkeit.

  • Petr Hruška – paluba v normandii / Ein Deck in der Normandie
  • Petr Hruška – market ve frankfurtu / Ein Supermarkt in Frankfurt (Tschechisch)
  • Matiiash Dzvinka – Тиждень / Die Woche (Ukrainisch)
  • Uroš Ristanović – Кравата / Krawatte (Serbisch)
[foejәtõ]

Wir stellen die Frage, wie divers der Literaturbetrieb ist – und dann ist am Titelbild des [foej tõ] ein weißer Mann abgebildet. Ein Versehen? Eine Provokation? Rückmeldungen bitte an schreib@mosaikzeitschrift.at
Was wir in diesem Kulturteil aber aufzeigen möchten: Es gibt sie, die neuen, spannenden Projekte. Marginalisierte Gruppen finden Gehör. Und dennoch stößt z.B. queere Literatur weiter oft auf Unverständnis. Es gibt noch viel zu tun.

Kreativraum mit Lisa Gollubich

freiTEXT | Regina Rechsteiner

Im eigenen Zelt

Sie schiebt. Ich halte mich an meinem Kaffeebecher fest und denke an den Keller, in dem wir uns sonst abends trafen. Sie ist jetzt auch eine. Ich gehe die letzten Schritte über die Kreuzung auf sie zu. Ihr Gesicht ist nackt. Wen muss man als erstes begrüßen? Sie wirkt, als hätte sie sich verirrt, obwohl sie den Treffpunkt vorgeschlagen hat. Ich schaue in den Wagen, es lebt, ganz eindeutig, eine winzige Hand macht eine Faust.

Sie trage die Jacke ihres Vaters, sagt sie und beugt sich über den Wagen. Schon seit der Schwangerschaft, es sei einfach komfortabler, was den Platz angehe und besonders die Wärme, von der Funktion des Stoffes ganz zu schweigen. Wir sehen beide nach vorn, sprechen den Weg entlang, die Straße entlang, vorbei an den Autos, die links und rechts die Spielstraße zuparken vor den Häusern am Hang. Die Luft im November ist klarer als in den anderen Monaten, auch eindeutiger, schärfer in der Bewegung. Ich muss Handschuhe anziehen, weil mir die Finger fast abfrieren.

Das Kind lacht mich an, wahrscheinlich wegen meiner roten Baskenmütze, die heraussticht aus dem trüben Grau, das alles bedeckt. So ein Kind im Wagen schaut ja an uns vorbei direkt in den Himmel. Aber was weiß ich, was in einem Kinderkopf vorgeht. Wir reden über Kunst, nur kurz. Ich erwähne die Zitronen und sie sagt, sie wolle auch wieder mitmachen, habe schon den Aquarellkasten zurechtgelegt und die Papiere, online gehe das ja alles, nur das Kleine wolle nicht schlafen, wann sie wolle, es interessiere sich nicht für die Selbstständigkeit des Vaters und die langen Stunden am Abend, überhaupt nicht, es zerre an ihren Nerven, es gäbe so viel zu tun. Aber wenn es dann lächle. Sie greift nach meinen Arm. Wenn es lächle und du wüsstest, du begleitest einen Menschen ins Leben, etwas das wächst, er oder sie, darauf komme es heute ja nicht mehr an. Ob ich mal kurz schieben könne.

Wir erreichen die Mitte des Stadtteils, das früher mal ein Dorf war, mit dem kleinen Marktplatz, der fast historisch wirkt, wegen den drei Fachwerkhäusern, auch im November verkaufen sie Obst an Ständen und ich halte Ausschau nach Zitronen. Das Kind braucht Milch, die Mutter spürt es. Wir gehen ein paar Schritte weiter, zu einer Bank und sie öffnet die Jacke. Sein Mund kennt den Weg, die kleinen Zähne sind aus Magnet, halten von selbst. Innig sind sie, zwei in eins, verlaufen sie ineinander. Ich drehe mich um, wir sitzen vor einem Schaufenster mit Elektrogeräten aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine elektrische Wage, ein Föhn, ein Radiowecker, alle in verblichenen Schachteln im Regal aufgetürmt. Wer das heute noch will? Das Kind ist fertig. Meine Hände in den Handschuhen sind immer noch kalt. Ein Krankenwagen ruft durch die Ferne. Sie sagt, man müsse dankbar sein, froh sein, für das was ist, nicht anders herum und packt das Kind zurück in den Wagen.

Manchmal fällt es mir schwer, mich zu entscheiden, sage ich und sie schlägt vor, den Weg zurück über die Weinberge zu nehmen. Selbst das Obst in meinen Bildern schimmelt inzwischen. Genau wie in meinem Kühlschrank übernimmt das Zersetzen, das ja im Grunde genommen auch ein Wachsen ist. Der Haarwuchs auf dem Zitronenkopf beginnt als weißer Flaum, wirft dann grüne Schatten in den Pelz auf der Haut, die an manchen Stellen bläulich schimmert. Und das Schrumpfen ist wie das Ausdehnen ein Verändern der Form. Oben am Hang, mit der Stadt zu unseren Füßen, sagt sie, ich solle nicht so viel nachdenken, man könne nicht alles planen, es komme wie es komme, irgendwann. Ich sehe an ihr vorbei, hinab zu den Lichtern, die eigentlich Wohnungen sind mit Menschen, die ständig die Form verändern, sich ausdehnen und schrumpfen. Die kaputte Frucht habe ich später in der Toilette entsorgt. Sie sagt, die Natur verwalte sich im eigenen Becken und wer könne sich gegen Naturgesetze stemmen, wer? Sie sieht mich an. Es sei ein Wunder, was da geschehe in den neun, sogar zehn Monaten im eigenen Körper, größer als der Bogen Papier auf dem die Farben in die falsche Richtung zerlaufen.

Am Ende gehen wir schneller. Die Weinberge verschwinden in der Dämmerung, ich keuche ein wenig bei der letzten Steigung. Ich frage nach der Geburt. Der Körper geht offener um mit den Rissen, den kaputten Gefühlen und dem, was nicht passt. Aber ihre Geburt lief glatt. So wie es sein soll, glatt wie die Metallausstattung im Kreissaal. Man müsse wissen, was man will, sagt sie und ich nicke. Manchmal stelle ich mir vor, meine Leinwände wären genauso deutlich wie die Zitronen. Ich stelle mir vor, sie hingen in einer Galerie und nach dem Applaus schaute die Frau, die die Laudatio gehalten hätte, irritiert auf die obere Ecke des Bildes. Im Kühlschrank hätte sie ausgemistet, hätte die schimmlige Frucht entfernt, um den Rest nicht mit den Sporen anzustecken. In der Galerie müsste sie den Schimmel ertragen.

Das Kind wimmert während wir sprechen, beteiligt sich mit seinem leidigen Jammern. Wir sehen uns an, einen Moment. Ihr Gesicht fällt weg, zuckt zurück in den Wagen, wo es gebraucht wird. Ich merke, die Mutter kämpft mit sich, sie will nicht gleich nachgeben, will erst noch ihre Überlegenheit fühlen, dem Kind gegenüber und der Situation. Ich sehe sie weiter an, wie sie so mütterlich, so mit Verantwortung beschrieben, nach unten greift zu ihrem Kunstwerk, das in den Wagen gebettet, nun einmal Aufmerksamkeit fordert. Sie nimmt es hoch an die Brust und vor den Bauch geschnallt, verdoppelt sich mit einem Tragegurt in weniger als zwei Minuten das Leben und unter die Jacke des Vaters passen sie beide, sie füllt sie jetzt aus mit ihrem um den Bauch geschnallten Leben, sie wird warm in ihrem eigenen Zelt.

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Regina Rechsteiner

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freiVERS | Johannes Bruckmann

Der Weg von der U-Bahn nach Hause und der Aufenthalt in der Wohnung

Weil ich
Ein U-Bahnfahrgast
Ebenso gut auch U-Bahnführer hätte sein können
Nahm ich mich vor mir selbst in Schutz
Bis ich
Den unterirdischen Blumenladen passierend
Spürte
Dass ich auch Florist hätte sein können
Statt U-Bahnführer statt U-Bahnfahrtgast

Aber dann
Als ich in mir einen Nachtwächter sah
Irrte ich mich in der Zeit
Ebenso
Als ich in mir einen sah
Der den linken Fuß vor den rechten setzt
Weil ich doch in diesem Moment
Den rechten vor den linken setzte

Erst in meiner Wohnung
Konnte ich nicht mehr alles sein
Konnte ich nicht mehr versehentlich auf neue Gedanken treten
Allerdings nur, bis ich mir den Klang des Telefons vorstellte
Und mich fragte
Was würde derjenige, der abhebt
Demjenigen antworten, der anruft
Würde derjenige sich als eine Castingagentur ausgeben?
Und würde es sich dabei um einen Scherz handeln?

Kämest du jetzt nach Hause
Dann könnte ich vielleicht am Ton deiner Stimme eine Antwort...
Dann könnte ich vielleicht an deinem Geruch...
Dann könnte ich vielleicht...
Aber dafür müsste es dich geben
Dürfte ich jedenfalls in Bezug auf dich
Keinem Irrtum unterliegen

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Johannes Bruckmann

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freiTEXT | Natascha Maier

Wie T. nicht mehr mein bester Freund wurde

Risse einer Freundschaft - was ich weiß

Du hast gesagt, ich würde immer nur die Anfänge mögen, was danach kommt nicht mehr so sehr. Heute weiß ich, du hattest recht. Ich weiß, dass ich deine starke Neurodermitis abstoßen und anziehend zugleich fand, ich weiß du hattest am ganzen Körper blutige, aufgekratzte Stellen. Deine Klamotten und dein Bettlaken waren immer übersät von Hautschüppchen, verkrustetem Blut und manchmal waren die Textilien miteinander verklebt. Ich muss an einen Artikel denken, den ich mal gelesen habe, in dem es um kleine Fische ging, die man in einer Badewanne auf Neurodermitispatienten loslässt und die die ganzen Hautschuppen vom Körper des Betroffenen klauben. Ich wusste nicht, ob ich das weird oder okay finden sollte. Wir haben immer nur von "der Haut" gesprochen, wie geht es "der Haut" habe ich dann gefragt. "Die Haut" haben wir, aus Unwissenheit und der Einfachheit halber, auf die Trennung deiner Eltern geschoben, die offensichtlich viele kleine Risse und blutige Spuren bei dir hinterlassen hat.

An dem Tag an dem wir uns begegnet sind hast du dir einen anderen Namen für mich ausgedacht, du hast gesagt Spatzenhirn oder Spongo würde viel besser zu mir passen, an Tagen, an denen du mich weniger mochtest, hast du mich Kotzgesicht genannt. Liebesbeweis 2004. Ich habe die Namen nie in Frage gestellt und sie bedingungslos akzeptiert, es war das Siegel auf dem Kreis des Vertrauens, den wir seither bildeten. Meinen richtigen Namen hast du nie verwendet. Spatzenhirn sollte mich daran erinnern, dass man nicht einfach nur auf dem Sofa liegen und dabei gut aussehen kann. Du mochtest viel lieber meine cuteness als meine dunklen Seiten, die haben dir nie gefallen. Ich mochte, dass wir real sein konnten und dass wir wussten wie wir die Dinge meinten.

Bei uns war es love and magic, das weiß ich. Zwischen Schokoaffen ohne Milch, Frühstück am Abend also, mit deinem BMX durch München, Nürnberg, Ravensburg und auf dem Rückweg immer M&Ms von der Tanke. Du hast, während meinem Vordiplom, Anna Blume für mich animiert. Von hinten wie von vorne, so habe ich mir damals meinen Schein für diese ätzende Vorlesung mit dem Multimedia Kram erschlichen, das weiß ich so genau, weil ich dafür eine 1,8 bekommen habe, ohne zu wissen, wie das Programm überhaupt aussah. Einmal hast du mir auch eine selbstgemachte Postkarte mit Männern in Turbanen geschickt und dazu geschrieben, es wären Terroristen, die eine Party in eurem Garten feiern und die die ökoterroristischen Grünkernbratlinge deiner Mutter essen müssten. Ich weiß, es gab diese Bratlinge bei euch zu Hause und ich weiß, dass ich sie Gott sei Dank niemals essen musste. Nach der Trennung deiner Eltern war irgendwie immer Terror in dir. Unsere Freundschaft war analog, Postkarten, Briefe und ein grünes Schnurtelefon von Swatch, welches ich in meinem Zimmer stehen hatte. Weil ich gerne Klavierspielen gelernt hätte, hast du mir sogar mal ein Klavier geschenkt. Es war aus Papier, hatte Klebelaschen und schwarz-weiße Tasten auch das weiß ich.

Ich weiß noch, kurz nach unserem Schokoaffenfrühstück gegen 19 Uhr, stand ich hinter dir. Ich wollte gerade gehen, ich hatte einen grünen Cordrock an, es war Sommer und es war warm. Ich weiß ich stand hinter dir und habe den Geruch deines Nackens inhaliert während du mir mit deiner Hand zwischen die Beine gefahren bist und einen Finger in mir versenkt hast. Wir waren verliebt und wir waren es nicht, immer wieder. For ever, so dachten wir, wäre unsere Freundschaft.

Wir haben Kellerasseln, die auf wundersame Weise immer wieder aus dem angeklebten Teppichsockel in deiner Wohnung kamen, versucht mit Sekundenkleber zu bekämpfen. Der Kleber hat verloren, weiß du noch? Wir haben Death Cab for Cutie, Kettcar und The Postal Service gehört, wir haben Küsse getauscht, wir haben uns aus deiner Wohnung ausgesperrt und nachts deine Vermieterin rausgeklingelt. Ich weiß, dein kleiner Bruder hat Raffaello Torte für uns gemacht. Zu deiner Mutter haben wir immer nur Edi gesagt, wir haben nachts Klavier gespielt, haben geflennt, gestritten und uns wieder vertragen. Du hast mir eine CD in der Schule auf den Schrank gelegt. Alles mit dir war elektrisierend, aufregend, viel zu kurz und doch auch lang, es war nicht perfekt mit greatest hights and lowest lows. Ich habe mit deinem besten Freund geschlafen, lowest low ever. Später dann mochtest du Tattoos und Muskeln und bist irgendwie zu einem Surfer mutiert, so der O.C. California Style. Du fandest Ryan gut, ich hatte eher nen crush auf Seth Cohen, er hatte immer die coolen schwarzweißen Vans, smarter Typ, guter Humor. Du bist für zwei Jahre nach Australien, hast dir Tattoos und vor allem swag zugelegt. Dein neuer Style würde von deinen Mausaugen ablenken, hast du gesagt und ich wusste das du deinen weichen Kern meintest.

Was ich ganz sicher weiß ist, dass deine Nichtanwesenheit weh tut, so sehr dass ich mir seither manchmal absichtlich Hautfetzen an meinen Fingern wegreisse bis es blutet, um den Schmerz durch einen anderen zu ersetzen. Ich wache nachts vom Pochen an meinen Fingern auf, das die Risse verursachen. Der Trost der Yucca Palme, deren Blätter einen Schatten an die Wände in meinem Wohnzimmer werfen, ist zu dieser Uhrzeit dann das einzige was bleibt, Gespenster an der Wand, ein Schattenspiel aus allem was wir mal waren.

Als ich Abstand gebraucht habe, hab ich habe dir mal gesagt, space makes the heart grow fonder, fuck off space, weiß ich jetzt. Ich hatte den Plan diese Phase auszusitzen, so wie wir es meistens taten und es dann irgendwie schon wieder wurde. Ich weiß, dass die Aussicht, dass nach sieben Jahren noch was gut werden könnte eigentlich nicht mehr besteht. Ich weiß ganz sicher, es war die time of my life, was ich auch weiß, es war auch deine.

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Natascha Maier

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freiVERS | Andreas Hippert

Inkarnation

Mit Schwung
spannt der Turmfalke
über flüchtiger Feldmaus
den Bogen.
Zischend,
pfeilt
er hinab
auf die
Stoppelzeile.
Die Rückennaht trennt er,
den Felleinband schlägt
krallend er auf
Eingeweide durchblätternd
stößt er
vor
zum pulsierenden Herz.

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Andreas Hippert.

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freiVERS | Klaus Roth

mittags

die tauben stieben auf
und wir erwachen
aus unseren tagträumen
am stadtbrunnen
die tauben stieben auf
und immer neue gespräche
entspinnen sich
über die asymmetrie
der verhältnisse
und das glück
dem wir nachjagen
seit jahren
mit flatterigen herzen
die tauben stieben auf
und hinterlassen
ihre unsichtbaren spuren
so sitzen wir so reden wir
so reden wir so sitzen wir
und geben einander ein alibi
für all unser versäumtes leben

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Klaus Roth

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Was geht ab in: Wien

Was geht ab in: Wien

In dieser Kolumne aus der Zeitschrift mosaik laden wir jede Ausgabe jemanden ein, uns eine Stadt und deren Kulturleben näherzubringen. jiaspa fenzl zeigt uns Wien - und bietet zahlreiche Veranstaltungsvorschläge. Hier ein exklusiver Vorabdruck.

Seit kurzem habe ich die Frage „Was mache ich heute Abend?” für mich entdeckt. Nach durchgestandener Covid-Erkrankung war für mich die Schnelllebigkeit Wiens heruntergebremst, sodass mein Kalender weitgehend leer ist. Bisher habe ich großen Spaß daran, ihn so zu belassen und mit dieser Planlosigkeit an die manchmal ausufernde Überfülle kulturellen Programms heranzugehen.

So landete ich etwa am 5. Juli vor dem Roten Stern Mexikoplatz (ein politischer und kultureller Freiraum im Stuwerviertel des 2. Wiener Gemeindebezirks) und stieß mit einem Apfelsaft gespritzt auf die neueste Ausgabe des WeiberDiwan an. Der WeiberDiwan ist eine feministische Rezensionszeitschrift, die zweimal jährlich erscheint (Rezension der aktuellen Ausgabe in der mosaik35). Diesmal gab es eine Releasefeier, nette Gesellschaft und natürlich Gespräche über die neu erschienenen und besprochenen Bücher der Ausgabe. Ich war wie jedes Mal baff, wie viele Bücher von Frauen*, Feminist*innen auf einem Fleck versammelt sind. (Der WeiberDiwan wird mit den an.schlägen verschickt und ist vielerorts in Buchhandlungen und Infoläden zu finden – nicht nur in Wien.)

Nachdem Kultur und Literatur diesen Sommer nun doch mehr oder weniger stattfanden, war ich ganz froh, keinen Überblick behalten zu wollen. Manches nehme ich mir aber vor. Es ist so wichtig, dass es dick im Kalender eingetragen wird. Von 21. August bis weit in den September findet das Literaturfestival Bridging the Tongues statt. Konzipiert und geleitet von Radostina Patulova, Ovid Pop und kollektiv sprachwechsel: Literatur in der Zweitsprache, gibt es wochenlang Programm, um die Mehrsprachigkeit der Stadt zu präsentieren und Communities zu vernetzen. Im August starten Werkstätten zu Sprache als Handlung und Erzähllust. Anfang September werden Tandemlesungen und Diskussionen in der Brunnenpassage am Yppenplatz aufgezeichnet, da wegen der Pandemie nur begrenzt Publikum vor Ort sein darf. Ab 23.9. hat das Festival digitale Premiere, die Veranstaltungen werden auf der Homepage von kollektiv sprachwechsel gestreamt. Mehrsprachige, in Wien lebende und internationale Autor*innen lesen und diskutieren ihre Texte, reflektieren über Mehrspachigkeit, neue Sprachen, Vermischungen und Möglichkeiten. Außerdem gibt es Ende September Literaturspaziergänge auf den Spuren von Textproduktion Schwarzer Aktivist*innen in Wien, Wienerliteratur auf Romanes und Jiddisch und (am europäischen Tag der Sprachen) Queering the Language of the City.

Und wenn dann vielleicht doch wieder alles zumacht, geht das Festival im Oktober und November auf Radio Orange weiter, das freie Radio in Wien (das dank Internet überall zu empfangen ist). Es lohnt sich, das Sendeprogramm durchzuklicken. Da wir schon dabei sind – hier noch etwas, das dauerhaft stattfindet und unabhängig von Corona-Maßnahmen abendfüllend sein kann:

Jeden vierten Sonntag im Monat von 15:00 bis 15:30 gibt es auf Radio Orange eine Literatursendung, die zeitgenössiche Literatur präsentiert. Autor*innen werden gebeten, ihre Texte selbst einzulesen, Zielgruppe sind alle Literaturinteressierten und jene, die es werden wollen. Die Sendung gestalten PS: Politisch Schreiben und Das fröhliche Wohnzimmer – zwei Literaturinitiatven mit (einer) Homebase in Wien. PS ist ein Projekt, das ich mitgegründet habe, Das fröhliche Wohnzimmer sind famose Verbündete, wenn es darum geht, sich zu fragen, wie das mit politischem Schreiben überhaupt ginge, wie der Literaturbetrieb mehr genossen werden könnte und auf was ich mich einlasse, mit dem ich nicht gerechnet habe.

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jiaspa fenzl

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Die mosaik35 erscheint Ende Oktober - erhältlich auf liberladen.org.


freiVERS | Philipp von Bose

Nun verzichte ich wissentlich

erkläre mir das lied vom tod,
damit ich mich nicht fürchten muss.

gibt es eine große tat, im tiefen
etwas mystisches,
wenn alles kalt & nennbar ist?

mondän ist die erschütterung, die
aufgeklärt durch köpfe zieht...
wie wolken: keine schäfchen mehr.

das wunder liegt verwundet da
und die tat, die möglich ist – erosion
durchs definieren

der zeit
der farben
und des lichts.

am anfang gab der geist
uns scham, nun...

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Philipp von Bose

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freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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