freiTEXT | Felix Wünsche

Mein Gesicht

Ich meide Spiegel. Den Blick in den Spiegel. Mir ist das zu schmerzlich. Dieses Bild dort im silbern hinterlegten Glas. Normalerweise versuche ich immer schon von außen festzustellen, ob in einem Café Spiegel hängen, an der Wand, hinter dem Tresen. Spätestens beim Hineinkommen entdecke ich sie, wenn ich prüfend kurz verharre, bevor ich ganz in den Raum trete. Doch jetzt, heute ist mir einer entgangen. Er hängt an einem schmalen Wandstück, hellblau gemalt, in schwerem, hölzernem Rahmen. Groß. Belauert mich. Wühlt in mir. Sein Blick. Dieser Blick, der mich so unangenehm bedrängt, dem ich nichts mehr entgegenzusetzen habe. All diesen Blicken. Etwas stimmt nicht mit mir, mit meinem Aussehen. Nicht die Kleidung. An meiner Kleidung liegt es nicht. Das habe ich in den letzten Wochen erprobt. Mehrfach, oft, für eine Weile mit dringender Besessenheit habe ich Kleidungsstücke gewechselt, den ganzen Stil meiner Erscheinung geändert, mir ganz ungewohnte Zusammenstellungen ausprobiert, die ich Modemagazinen entnommen habe. Eine kostspielige Anstrengung. Aber nichts. Keine Veränderung. Weiter treffen mich die Blicke. Unerbittlich. Habe ich sie zuvor nicht wahrgenommen?

Etwas habe ich verloren. Etwas sehen die Menschen in mir, das Unbehagen in ihnen erweckt. Ablehnung, Widerwillen, Ekel bis hin zu Abscheu, eine stille Wut entzündet sich, manchmal beschirmt durch ihre Lider, Verachtung auch, Hass. Sogar Hass. Überall diese Gesichter. Verstohlen die meisten, kurze Blicke, fast hastig wenden sie sich ab. Manchen steht ein erstauntes Erschrecken in der Miene. Prüfend andere, lange nach Wahrheit forschend, bereit, Gutes zu entdecken, plötzlich enttäuscht, wütend, anklagend, Mühe an mich verschwendet zu haben. Unverhohlen starren mich Einzelne an, voller blödsinniger Neugier, sich ihrer Begleitung lachend zuwendend, einige zeigen mit dem Finger auf mich, hämisch verschiedentlich, voller Lust an dem, was sie als meinen Makel, unauslöschlich, unverzeihlich betrachten. Eisige Härte versteinert immer wieder Gesichtszüge, eine angestrengte Angewidertheit, nur am fast unmerklichen Zucken der Mundwinkel erkennbar, der Begegnung mit mir ausgesetzt zu werden. Am erträglichsten sind die Kinderblicke. Ernst und neugierig erlauben sie mir, mich wie ein seltenes Zootier zu fühlen. Die Kellnerin hier hat mir ausdruckslos ins Gesicht geschaut, flüchtig, mit halb niedergeschlagenen Augen, ein Ausdruck, der ein vages Echo wachgerufen hat. Ihre Haare fallen ihr weit in die Stirn. Keiner dieser Blicke. Sind sie real? Nehme nur ich sie so wahr? Kann ich mir sicher sein, dass mich alle so ansehen, wo selbst jener Spiegel im Wandblau mich beklommen werden lässt?

Etwas schaut mich aus den Gesichtern an. Richtet Gesetze auf. Schafft Recht. In dem Moment, in dem mich die Blicke treffen, verurteilt es mich. Ich gehe nur noch mit gesenktem Kopf dahin. Was hat mich hierher gestellt, in fortgesetzte Begutachtung? Ein Wall ist niedergebröckelt. Allmählich, schleichend? Habe ich es nicht gemerkt, hätte ich es verhindern können? Oder ist er niedergebrochen, plötzlich? Zwischen mir und ihnen. Diese stille Fassade, unauffällig getüncht, schmucklos, die sich einreihte in die Häuserfronten entlang einer der vielen Straßen. Mich verbarg in der Menge der anderen Gesichter. Weg jetzt. Alles liegt offen da. Jeder kann beanspruchen, alles über mich zu wissen. Puppenhauswände, das Innere dem prüfenden Blick dargeboten. Wer schauen will, schaue. Meine Seele. Liegt offen. Scheint jenen Blicken offen zu liegen. In meinem Gesicht, auf meiner Haut. Mit einem Mal möchte ich mich verbergen. Bin ein Flüchtling geworden. Fremd. Gehe gemessen. In mir der Impuls zu rennen, wegzulaufen, ein ständiger Begleiter. Ich schlage den Blick nieder. Unwillkürlich. Bald hatte ich gelernt, Blicken subtil auszuweichen. Immer mehr hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt, die Ursache sei in mir zu finden, strahle nach außen, müsse aufgehalten werden. Ich trage einen Hut, eine Sonnenbrille mit großen Gläsern. Ziehe ihn tief in die Stirn. Dann wieder fühle ich mich getrieben, von meinem Recht getrieben - welchem? -, hinauszugehen, mich dem Gericht zu stellen, entgegenzustellen, unverhüllt, mit hoch erhobenem Kopf. Vergebung erhoffend. Gerechtigkeit fordernd. Ein blöder Trotz vielleicht. Denn gleichzeitig will ich nichts mehr als mich verkriechen. In meiner Wohnung. Fest abschließen. In dieser Wohnung ohne Fassade. Mit dem Spiegel, dem einen Spiegel, den ich nicht meiden kann. Ständig am Anfang und auch jetzt in manchen Momenten, viel seltener und unter stetig zunehmendem Unwohlsein, das sich zu einer quälenden seelischen Pein steigern kann, habe ich mich selbst dort im Silberglas examiniert. Dem einzigen Spiegel in meinen Räumen. Teil des pompösen Aufbaus einer alten Kommode, die ich, ganz dem momentanen Geschmack an alten Möbeln entsprechend, im Internet erworben habe. Mit sorgfältiger Akribie fahre ich jede Linie, Kerbe, Erhebung meines Gesichts nach. Lippen, Augenfalten, Nasenflügel, die feinen Hügel der Wangen. Wieder und wieder, weiche meinem eigenen Blick aus, während sich ein erstickendes Ekelgefühl an mich heranschleicht, von mir Besitz ergreift, mich in der Magengrube packt, schüttelt, würgt, sauer und schal. Obwohl ich nichts, wirklich nichts auffinden konnte, was mir auf irgendeine denkbare Weise nicht menschlich erschien. Eigenheiten der Gestalt, der Haut, Porung oder Färbung, Deformierungen. Keine Merkmale, die mich eindeutig von anderen abheben würden. Etwas später, wenn ich mich erholt habe, durch gleichmäßiges Atmen beruhigt, einen Tee trinke, jagen meine Gedanken wild dahin, drängt sich mir der Verdacht auf, ich könnte in einer Illusion von mir selbst befangen sein, mein Gehirn könnte mir eine Gestalt zeigen, die nicht der Wirklichkeit, der schrecklichen Wirklichkeit entspräche. Ein Wunschbild, das ich mir von mir selber mache. Leider habe ich keine vertrauten Menschen, die ich dahingehend befragen könnte. Freunde sicher, aber niemanden, den ich in die mögliche, allergrößte Verlegenheit bringen wollte, eventuell eingestehen zu müssen, dass auch sie oder er etwas an mir anstößig finde, bisher in Stillschweigen verhüllt. Etwas, das auch sie möglicherweise nicht voll in ihr Bewusstsein dringen lassen, um den Kontakt mit mir überhaupt möglich und erträglich zu machen.

Hier muss ich etwas gestehen. Vor ein paar Tagen, bei einer dieser schwierigen Selbstbeschauungen habe ich zu meinem zitternden Erschrecken eine rötlich-braune Läsion auf der linken Wange entdeckt. Sie ist klein. Unscheinbar. Und so muss sie meiner Aufmerksamkeit entschlüpft sein. Oder ist es ein Riss in meiner Illusion über mich selbst, der mich diese Stelle hat auffinden lassen? Nun treibt mich die ständige Besorgnis um, dass sie wächst, sich ausbreitet. Wie konnte ich sie übersehen? Wie lange ist sie schon da? Vielleicht ist dieses Mal die Ursache für die Aufmerksamkeit, die ich errege. Gleichzeitig bin ich sicher, dass es diesen Fleck anfangs nicht gab, er eher hervorgekommen, gewachsen ist mit der erzwungenen Entfremdung. Eine Markierung. Mir aufgedrückt. Natürlich habe ich überlegt, einen Arzt aufzusuchen. Doch hält mich zurück, dass mir so recht kein Weg einfällt, wie er Abhilfe schaffen könnte, wollte er mir nicht ein gänzlich neues Gesicht verpassen, da es mit der Entfernung der Stelle nicht getan sein würde. Dies aber etwas ist, das mir medizinisch nicht möglich erscheint und trotz all meiner Pein auch nicht wünschenswert.

Am meisten drängt es mich dazu, in Gesichter zu schauen. In so viele, wie nur möglich. Ich setze mich auf eine Bank in der Fußgängerzone, in Shopping-Malls, in Cafés, wie jetzt, mit Hut und Sonnenbrille, schaue die Gesichter an, die vorüberziehen, registriere jedes Mienenspiel, jeden Ausdruck, jedes kleine Muskelzucken. Sie gleiten vorbei. Stetig. Ein Strom. Frisch, ausgelaugt von der Zeit, jedes ein bisschen anders, alle ein wenig gleich. Vorderfronten. Schützen ihre Träger. Markieren ihre Ansprüche. Zeigen ein Bild, von dem ich nicht weiß, was es über die Räume dahinter erzählt. Alle haben es. Was ich verloren habe. So scheint es mir. Ein Gesicht. Das meine Seele trägt, verhüllt zum Ausdruck bringt. In den anderen suche ich meins. Hoffe, dass es mir jene Blicke, die es mir gleichgültig entrissen haben, genauso gleichgültig zurückgeben. Eines Tages. Wenn ich nur lange genug ausharre.

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Felix Wünsche

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freiVERS | Nora Schramm

wie du vor dem gebirge liegst

den finger auf dem käfer ziehst du
unter fetzen von wetter
vorbei hast den boden an der schläfe
kleben siehst flechten in lawinen

wachsen als wäre alles erde nur du
ein kleiner stummer mond als wäre
alles krater nur du eingerollt an seinem
tiefsten punkt klopft dein puls an glas

es überschlägt dich einfach
bergab kannst

nie aufhören. bis du aufhörst
mit fleischfühlern im licht zu
wühlen aufzuplatzen wie keimende
bohnen kannst du einfach nie

aufhören. den boden zu bewohnen

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Nora Schramm

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Bereits veröffentlicht in Literarische Blätter, Juli 2020

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freiTEXT | Peter Sipos

wenn ich verschlafe

wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“

         beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.

         „ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).

         ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“

doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.

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Peter Sipos

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freiVERS | Michael Pietrucha

Großvater und der Herbst

gesät wird immer um die erzengel herum

und wie und wie
ist der weizen schon geerntet der roggen
die hecken die bäume sie müssen
ausgerissen werden
wer soll das machen
niemand kann das machen

der rücken der krümmt sich tief und tiefer
der atem der wird flacher

und wie und wie
ist der boden schon gepflügt
wo bleibt der regen

neunundsiebzig achtzig einundachtzig
mal den geburtstag gefeiert
zahlen sagen nicht viel nur
was dazwischen alles geschieht
bis die täglich suppe
zu salzig scharf fettig
ist
und fleisch und obst und gemüse
zu hart zu kauen
sind
zwei gläschen zu viel fürs herz

und wie und wie
wieso zeugen die enkel keine kinder nicht
während der großvater wie ein
chamäleon geht
das ihm der fernseher zeigte erklärte und
wieder erklärte
und er nicht mehr jeden satz aufschnappt
der herum schwirrt
bei tisch
wenn die suppe zu salzig scharf fettig
kalt ist

der herbst ist da
pflügen und säen
wer soll das machen
machen kannst du es nicht mehr
großvater

gesät wird immer um die erzengel herum

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Michael Pietrucha

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freiTEXT | Katrin Rauch

A und B und C, oder Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen?

Wissen Sie, verehrte Lesende, mit der Reibung ist das so eine Sache. Es kann durch Reibung zum einen ganz warm werden – heiß direkt. So heiß etwa, dass beim Eislaufen das Eis unter den Kufen schmilzt und dadurch die derartige Fortbewegung überhaupt erst ermöglicht wird. Wird’s aber zu heiß oder passiert die Reibung an unangebrachten Stellen, kann es zu garstigen Verbrennungen führen: man reibt sich auf oder gar wund. Zum Auf- bzw. Wundreiben braucht es im Übrigen nicht zwangsläufig zweierlei. Das funktioniert allein mitunter ebenso gut. Diese diversen Reibeverhältnisse werden in freier Wildbahn des Öfteren eindrücklich demonstriert und beobachtbar gemacht – wie etwa im Folgenden bei A und B und C. Sämtliche möglichen Formen der Reibung – alleine, aneinander, heiß, kalt, wund, warm, um nur einige zu nennen – wurden und werden derart lehrbuchartig praktiziert, dass A und B und C und deren jeweiliger Reibung eigentlich ein Platz in denselben gebühren würde – gäbe es solche Lehrbücher denn. Denn mit der Reibung ist das so eine Sache. Sie entsteht nun mal nicht nach Lehrbuch, sie entsteht dazwischen.

Also, es ist so: Ich reise berufsbedingt überdurchschnittlich viel. Jede Woche eine andere Stadt, ein anderer Gig. Jede Woche eine andere Destination. Dafür buche ich der Gewohnheit halber One-Way-Flüge. Einen von A nach B, einen von B nach A, einen von A nach C, einen von C nach A, und so weiter, nur in den seltensten Fällen von B nach C oder dergleichen. Und am Ende jeder dieser Buchungen werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Auch bei den Buchungen nach A werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Dabei ist A so oft Ausgangspunkt und Rückkehrort meiner Flugstrecken, man möchte meinen, die Algorithmen hätten bereits eins und eins zusammengezählt und konkludiert, dass A wohl mein Wohnort sein muss. Aber ich werde am Ende jeder einzelnen dieser Buchungen von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Wofür?

Ich finde, wir sollten wieder einmal Sex haben. Wir könnten uns wieder einmal treffen und uns betrinken, dann läuft es ohnehin darauf hinaus. Wir würden einen Wein trinken, oder mehrere, bei dir im Wohnzimmer oder in einer Bar – ganz egal, es würde dann damit enden, dass wir uns angreifen und uns gegenseitig ausziehen – dafür reicht die Leidenschaft, fürs sich gegenseitig Ausziehen – und dann würden wir wieder einmal Sex haben. Betrunken. So lange, bis wir nicht mehr betrunken sind. Dann ein bisschen Dösen und Reden und Dösen und Reden und nochmal Angreifen und dann würde ich nicht dableiben, weil ich ja wie immer schon was vorhabe.

Es wird mir also vorgeschlagen, nur temporär hier zu wohnen, wieder abzuhauen. Es wird mir vorgeschlagen, ein temporäres Bett zu kaufen, kein eigenes zu haben. Es wird mir vorgeschlagen, mir ein Bett mit den Gästen zu teilen, die vor mir in diesem Bett geschlafen haben und nach mir in diesem Bett schlafen werden, und dazwischen die Bettwäsche nicht selbst zu waschen. Es wird mir vorgeschlagen, keine eigene Küche zu haben. Ich soll mich in der Früh, zu Mittag und/oder abends bekochen lassen. Es wird mir vorgeschlagen, bald wieder abzuhauen, denn das wird doch von einem verlangt, wenn man im Hotel schläft.

Reibung wird gelegentlich als Friktion bezeichnet und beides weist doch unabdinglich onomatopoetische Qualitäten auf. Passend, wenn man bedenkt, dass Reibung oder Friktion etwas ist, das zuweilen durchaus hörbar ist.

Die Nachbarn über deiner Wohnung haben deiner guten Freundin, die noch eine Wohnung darüber wohnt, mal gesagt, dass da wohl jemand neuerdings regelmäßig recht „ausführlich“ miteinander schlafen muss. Sie hatten laut deiner guten Freundin tatsächlich „ausführlich“ gesagt, weißt du noch? Was haben wir uns tot gelacht und dabei nickend zugeben müssen: Mit welchen Worten man unsere Male auch beschreiben wollen würde, „ausführlich“ wäre das passendste unter ihnen. Und hinter dem Gelächter hatte unser Inneres mitgenickt und zugegeben: Das ist auch schon das Einzige, das an uns „ausführlich“ ist.

Warum sollte ich mir ein Hotel in einer Stadt nehmen wollen, in die ich immer wieder zurückkehre? Also ein- bis zweiwöchentlich. Also andauernd. Als wäre das nicht Grund genug, mir eine bleibendere Bleibe zu suchen als ein Hotel. Aber was soll’s – dann wird mir eben vorgeschlagen, dort ein Hotel zu nehmen, wo ich eigentlich eh wohne. Dann wird mir eben vorgeschlagen, nicht meinen eigenen Kaffee zum Frühstück zu trinken. Nicht mein Kaffee. Ich muss mich ja nicht darauf einlassen und kann die Meldung genauso einfach übersehen, wie ich auch die anderen Meldungen übersehe: Mietauto, Zusatzgepäck, Reiseversicherung.

Ich finde, wir könnten jetzt langsam wieder einmal Sex haben. So ohne Netz und doppelten Boden. Ohne Poolnudel und Schwimmflügerl – wofür denn? Wir wären locker und ungezwungen und würden uns angreifen und ich könnte es mittlerweile sogar greifen, denn inzwischen hätten wir uns ja schon öfter angegriffen und irgendwann gewöhnt man sich. Außerdem wäre in der Zwischenzeit viel passiert. Vielleicht haben wir da ja gelernt, keinen Rettungsring zu brauchen, und ich, dass du doch keine Gewohnheit bist.

Interessant zu beobachten sind auch die Reibungsunterschiede, je nachdem in welche Richtung gerieben wird. Hinwärts verhält es sich ähnlich, wie bei einer Wasserrutsche, wobei am Ende das erfrischende Schwimmbecken wartet. Dazwischen ist vor allem in den Kurven verhältnismäßig viel Herzklopfen zu erwarten. Rückwärts: mehr so flauschige und feste Seite des Klettverschlusses.

Es ergibt eigentlich von der Logik her überhaupt keinen Sinn, aber ich finde die Anreisen immer anstrengender als die Rückreisen. Ich bin bei der Ankunft im Hotel in B und C und dergleichen immer fertiger, als bei der Rückkehr in meine Wohnung in A.

Nur blöd, dass die Schwimmbeckenreibung die Klettverschlussreibung überhaupt erst verursacht.

Von der Logik her müsste doch die Anreise vor lauter Vorfreude und so weiter viel weniger zermürbend sein. Vielleicht liegt’s daran, dass ich beruflich und zu viel reise.

Manchmal erzähle ich lieber, wir hätten uns auf Tinder kennen gelernt, denn die Eislaufgeschichte glaubt uns eh kein Mensch. Du rutschst aus, fällst in mich hinein, ich falle und schlage mir am Eis einen Zahn aus. What are the odds? Manchmal denke ich: Heute würdest du nicht mal mehr in Tanzschuhen auf dem Eis ausrutschen, um nicht in mich hineinzufallen.

Vielleicht liegt’s dran, dass ich im Hotel in B und C und dergleichen nicht erst herausfinden muss, wie die Dusche funktioniert, und dass [zuhause] (Anm.: nachträglich eingefügt) die Bettdecke vertraut riecht.

Das vorletzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben, hätte ich sogar noch ein bisschen bleiben können, aber du hattest schon was vor.

Das letzte Mal hab ich dich auf Tinder gesehen.

Vielleicht liegt’s auch daran, dass bei der Anreise gefühlt mehr schiefgeht als bei der Rückreise. Aber das kann auch Einbildung sein.

Vielleicht liegt das daran, dass du immer so selten zu mir und ich immer so oft zu dir gefahren bin. Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich dann wieder nicht dageblieben bin, weil ich – ja, warum eigentlich?

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Katrin Rauch

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freiVERS | Sofie Morin, Marion Tauschwitz, Jutta von Ochsenstein, Dorina Marlen Heller

Amerika zeigt: Flagge

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Sofie Morin (So), Marion Tauschwitz (Ma), Jutta von Ochsenstein (Ju), Dorina Marlen Heller (Do)

zu Frank Lloyd Wright „Composition in light”, Interpretation der amerikanischen Flagge,
Glasfenster für das Landhaus von Avery Coonley, Riverside, Illinois, um 1912,
(Glas, Zinkstege, bemalter Holzrahmen, 135,6 x 30,5cm)

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freiVERS | Dominic Röthlisberger

Nachts

Nachts werden die Babys von Ratten
gebissen
ist der Titel dieses Artikels über Flüchtlinge
auf Samos (da war ich auch schon mal, als ich noch ein unschuldiges
Kind war, in meinen Sommerferien).
Eine Hebamme erzählt von Frauen und Kindern,
die auf dem langen Weg zur Toilette vergewaltigt werden,
und der einzige Weg sich zu schützen, ist es,
einen Eimer zu kaufen.
Doch die Hebamme und andere Helfer
haben nun eine weitere Toilette gebaut,
eine, für 100 Menschen,
und die ist schmutzig und der Abfall
zieht Ratten an und die Ratten ziehen
Schlangen an, die seien nicht giftig,
immerhin,
aber die Ratten, die beißen eben nachts
die Babys und ich denke daran,
dass ich vor dem Einschlafen einfach keine
Nachrichten mehr lesen sollte.
Und all das hier (und noch mehr)
stand ziemlich genau so in diesem Artikel,
ich weiß,
das reicht nicht für ein Gedicht,
aber ich muss diesen Artikel irgendwie
loswerden,
und zu bestimmen, wo
die Zeile bricht,
gibt mir ein Gefühl der Kontrolle
und der Ordnung,
damit ich gleich gut schlafen kann,
während nachts an anderen Orten
Babys von Ratten gebissen werden.

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Dominic Röthlisberger

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freiTEXT | Nele Ziemer

binnen

Ich hänge im Bad das Handtuch über die Heizung und sie schneidet mir den Finger, teilt mich in zwei, ich hinterlasse Tropfen, rutsche in mein Kleid, Marie will mich an der Theke, jetzt gleich.

[…]

Marie will mit mir über Männer, das heißt: über issues reden, sie fährt mit ihrer Hand: sie rückt ihren BH-Träger zurecht, das heißt: etwas weiter in meine Richtung. »Wir folgen doch alle nur unseren Trieben«, sagt Marie, »wollen Jäger«, sie wolle endlich mal wieder gerissen, »sind Gejagte«, und ich denke an meine, denke an deine SPUREN, Marie greift an ihr Glas, Marie macht Einkerbungen, die Griffe des Barkeepers: TRAMPELPFADE, sie hinterlassen schwitzige Abdrücke und mir wird schlecht.

[…]

Ich denke an das SCHNEETREIBEN, an dein Schultergelenk, denke an den Eingriff um drei in der Früh, denke an: den langsamsten Moment.

[…]

Marie denkt mit mir an seinen Schwanz, »einfach wirklich gut war das«, sagt sie, lässt mir, lässt sich nachschütten, fragt: »An wen denkst du?«, fragt: »Hat er auch einen guten?«, aber Marie weiß nicht, wie es um mich steht, fragt den Barkeeper: »Trinkst du auch einen mit?«, Marie hat keinen Schimmer von dem Problem jedenfalls und ich sage ihr, dass du gute Finger, beschreibe ihr deine Fingermaße und Marie lacht über mein Längen-, lacht über mein Zahlenverständnis, lacht über mein leicht flaues Verdrehen, Marie lacht den Barkeeper und seine Handgriffe, sie fährt sich über das Schlüsselbein, geht sich an den Hals, Marie hängt sich an der Kinnlade und ich: unterdrücke den Brechreiz.

[…]

Man spricht da von Geocaching: im GRENZBEREICH.

[…]

Maries Träger hängen an den Oberarmen, der Barkeeper schickt sein Blut an alle LÄNGEN- und BREITENGRADE, Maries Beine liegen frei, Marie eröffnet SPIELWIESEN und ich suche nach FLUCHTWEGEN, ich sollte mich den Druckstellen entziehen, vor uns stehen 3x Baileys und Marie setzt an.

Da ist ein Tropfen in ihrem Mundwinkel, wenn man Marie etwas sagt, dann bedeutet das: Marie klappt sich auf, sie zieht sich auseinander, dann denke ich daran, wie es mir den Hüftknochen zerrissen, wie da noch immer eine DRAINAGE, noch immer der Muskelkater, dass da noch immer die Taubheit auf dem Schienbein.

[…]

Wir betrieben: FELDFORSCHUNG, du: hast umgepflügt (unter anderem), an der Theke gilt: ein Schluck mehr ist gleich ein Schritt weiter, ein Schluck mehr ist gleich die Frage nach dem Richtungsfaktor, aber auch Marie und der Barkeeper haben nicht über die Spielregeln und niemand hier weiß also, jeder hier weiß: es wälzen sich nur mehr alle Instinkte im Licht der Likörvitrinen.

[…]

Am Nachbartisch reden sie über rechte Winkel, ich kann Marie schon auf ihm sitzen sehen, ich befürchte: WINKELGESCHICHTEN und weitere strategische Unfälle, beim nächsten Mal sollte ich die Nullpunkte abgleichen, ich hätte um drei in der Früh, hätte im Schneetreiben nach Ersatzteilen, nach KOORDINATEN fragen sollen.

[…]

Der Barkeeper streift umher, ein Schluck mehr ist gleich und er macht sich groß, er hebt das Bein, der Barkeeper pisst Marie an den Stuhl, die Bar als sein Binnenmeer, er und seine Karte, ungeklärt, ob hier an einem Sammelband gearbeitet, ob wir uns schon im Index befinden.

Weiter: Der langsamste Moment war unter zwei Sekunden lang.

[…]

Marie nimmt Anlauf, das ist gleich ein Schritt weiter und ich stoße auf und mit dem Ellenbogen gegen die Gläser, mich beschleicht: dass der Barkeeper sich bereits in sie, er will ihr an den Null-, will sie an den höchsten Punkt, sie triefen bereits und er lässt alles überlaufen, lässt sie beinahe draufgehen, ich weiß: Frost kann Ursache sein, ich zähle: drei, sie erleiden Rohrbruch, zähle: zwei, ob man sich aus diesem Manöver noch hinaus, ich bin bei: eins und dann muss ich kotzen.

[…]

Man könnte sagen: dass Gelenke als SOLLBRUCH.

[…]

Zwölf Stunden später sagt Marie: »Du warst ganz schön drüber«, sagt: »Er hat dann gewischt für dich«, und Marie lacht, also lache ich mit, das dauert unter zwei Sekunden, »sein Schwanz«, muss Marie doch sagen, »über vierzehn Zentimeter«, sollte sie doch eigentlich, aber sie sagt nichts und dann sage ich: »Die Heizung steht noch auf drei«, die Tropfen immer noch nur von mir und ich frage: nach meinem Kleid, erkläre: dass der einzige sich außerhalb der Erde befindende aktive Geocache auf der ISS versteckt ist.

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Nele Ziemer

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freiVERS | Markus Kloimwieder

An die Nachgeborenen, reloaded

Brecht schreibt
Neunzehnneununddreissig:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Auf FM4 ein commercial für die Kronenzeitung.
Später dann werden die Weltnachrichten
abgelassen.
Die Sportnachrichten sind Best of Breed.
Der Baum im Hof tropft
nach dem Regen.

Wir sind keine Zeitgenossen.
Keine Widersprüche, nur Ergänzungen.

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Markus Kloimwieder

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freiVERS | Dorina Marlen Heller & Sofie Morin

bachmann*brennt*immer

ein lyrischer Funkenflug zwischen Dorina Marlen Heller und Sofie Morin

 

*bachmann brennt*

sie brannte in der nummer 66
sie ist dort verglimmt wo
man den tiber schon riechen kann
jeden tag der boccanera in den
schwarzen schlund gestiegen
treppe rauf treppe runter
immer die wörter im kopf
die wörter im mund
immer im wettlauf mit der
verhassten gestundeten zeit
im traum wieder an den gittern gerüttelt
seine hände halten sie nicht
schon lange nicht mehr
morgens für den ersten rauchlungenzug
den kopf auf die via giulia gebeugt
ein paar häuser weiter der wutgesang delle donne
no alle isteriche nel movimento
no algioca di potere fra donne
sie nimmt noch einen zug
glühende asche auf den küchenboden
heute nur ein brandfleck
morgen
brennts.

.

Dorina Marlen Heller

.

.

denn eine brennt*immer

und längst ist nichts gelöscht
was nur so scheint
wie wir und wir und
unsere brandgefährlichen Reden
Das sind all unsere Todesarten
heute oder war es gestern
morgen bestimmt immerdar festgelegt
auf den HöllenschlundzwischenunserenBeinen
dunkle Erdteile wie Venus
die uns bewohnt uns insbesondere
wie Rausch und Sperrung im Mund
In einer Zeit von unregelmäßiger Bedeutung
schrieb sie und sie beschrieb sie
auf dem Spielfeld Sprache fraglos zumutbar
Erklär mir: Leben
Denn kein treffenderes Blatt schwamm je
einer Mündung entgegen
nicht eines darunter das nicht Bläue gewesen wäre
Und was wenn es nicht mehr reicht
aus dem Zimmer zu gehen
wenn das Ersticken bereits anfängt?
Denn irgendwann reicht es
Nicht mehr.

.

Sofie Morin

 

Ingeborg Bachmann verbrannte am 17. Oktober 1973 in ihrer Wohnung in Rom, in der Via Giulia Nr. 66.

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