09 | Christian Lange-Hausstein

Blaue Wolken

Das Leben ihres Großvaters hatte Didem über Bande kennengelernt. Und zeitversetzt. Auch nicht vollständig. Aber deshalb hatte sie vielleicht ein umso besseres Bild, umso umfassender, denn es war selbstgemalt und hatte keine weißen Flecken. In den Jahren, in denen er sie von der Kita abholte, malte Didem immer bei dem Großvater. Er sammelte extra die Post, die er bekam. Nicht alles, sondern nur die Blätter, die auf der Rückseite leer waren.

Allianz, Rentenversicherung, über die Zeit wechselnde Stromanbieter, Trägerverein der Kleingartenanlage, SPD Ortsverband, Rechnung vom Blitzer auf der Reinickendorfer Straße, ein Allergiehinweis. Bescheide von Ämtern waren nur wenige dazwischen und wenn ja, dann war es auch immer Seite fünf von fünf oder elf von elf, denn die Ämter druckten nicht nur auf dunklem Papier, auf dem Buntstifte braun wirkten, sondern auch beidseitig, sodass nur bei ungerader Seitenzahl die letzte Seite zum Malen blieb.

Auf manchen Blättern waren kleine Vermerke. Ein System von Abkürzungen schien dahinter zu stehen, das Didem nie vollkommen entschlüsselt hatte. Irgendwann war klar, dass „erl.“ für erledigt stand, „NB 01“ ein Konto war, von dem aus der Großvater Rechnungen beglich, und „RE“ gefolgt von einem Datum, das er rückwärts schrieb, „990117“ für den 17. Januar 1999, stand dafür, dass er sich an diesem Tag eine Wiedervorlage eingetragen hatte. Wo er sich die Wiedervorlage eingetragen hatte, war nicht erkennbar. Aber es schien ein zentraler Ort zu sein, ein Ort, an dem nichts fehlte, nichts verloren ging, denn es gab auch „2. RE“ und „3. RE“. In einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter der Rentenversicherung, der Belege für den Lohnsteuerhilfeverein herausgeben sollte, gab es sogar mal eine „4. RE“.

Diese mit Notizen versehenen Seiten der Blätter spielten in dem Moment, als Didem die Blätter zum ersten Mal in die Hände bekam, eine untergeordnete Rolle. Das waren die Rückseiten. Didems Vorderseiten waren die weißen Flächen, die ihr Großvater ihr hingelegt hatte. Die Flächen, auf denen sie erst nur Kreise malte. Die Flächen, auf denen dann Strichmännchen zu sehen waren, die auf Erwachsene etwas gruselig wirkten. Die Flächen, auf denen später Wiese-Haus-Baum-Sonne-Bilder entstanden, grün, schwarz, braun, gelb – und im weißen Himmel blaue Wolken.

Je nach Relevanz der bedruckten Seite zu Dritteln, Hälften oder gar nicht gefaltet, lagen die Blätter in einer flachen Papp-Box am hinteren Rand des Sekretärs, der viel edler war als die Möbel ihrer Eltern. Die Box wird vielleicht der Deckel eines Schuhkartons gewesen sein. Das wäre Spekulation, würde Didem einschränken, wenn man hier nachhaken würde. Mit der mittlerweile jahrelangen Berufserfahrung als Richterin war Didem sicher, zwischen Erinnerungen und Spekulationen, Plausibilisierungen, Hinzugedachtem unterscheiden zu können. Wenn Didem von ihren Eltern abgeholt worden war, musste der Großvater die Zeichnungen mit einem Datum versehen haben. Er hatte die datierten Bilder dann in einen anderen Karton gelegt, der viel tiefer war als der Schuhkarton-Deckel, und den Didem zum ersten Mal sah, als sie mit 16 den Umzug des Großvaters in das Pflegeheim vorbereiten sollte. Ihr Großvater gab Didem einen Hinweis. Und noch bevor die drei Umzugshelfer kamen, die Didems Vater angeheuert hatte, brachte Didem den Karton in ihr Zimmer. Der Karton stand dann erst im Keller ihrer ersten Wohnung ordentlich gestapelt zwischen anderen Kartons und war, nachdem sie alles andere weggeworfen hatte, als einziger mit in die gemeinsame Wohnung gekommen.

An einem sonnigen Tag im Mutterschutz suchte Didem im Keller erfolglos nach einer Zange und fand unter den Kartons ihres Mannes mit Büchern von seinem Vater, von denen er sich nicht trennen wollte (Heinz Felfe - Im Dienst des Gegners, W.M. Schapko, Begründung der Prinzipien staatlicher Leitung durch W.I.Lenin, Poltorak - Kleines Lexikon Sowjetstreitkräfte und so weiter) den Karton ihres Großvaters.

Sie nahm ein Bild vom Stapel ab, betrachtete es, legte es neben den Karton. Die Bewegung so sauber, als befände sich zwischen den Bildern in dem Karton und dem abgelegten Bild daneben eine silberne Metall-Klammer, wie in einem überdimensionalen Leitzordner. Sie empfand erst nichts. Die Bilder, das war zwar sie. Aber sie war es nicht mehr. Dann machte diese Erkenntnis doch ein bißchen was mit ihr. Das bin ich gewesen, irgendwann mal, wann genau, stand unten drunter. Wie ein Halm, an den man sich klammert. Auf der Suche nach etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, nur weiß, dass es gleich kommt. Sie nahm das zweite Bild in die Hand und legte es ab, ebenso sauber, wieder wie durch eine Leitzordner-Klammer geführt. Vielleicht hätten die Bilder für ihre Eltern, wenn sie andere Menschen wären, eine Bedeutung haben können. Mein Kind und so weiter. Für ihren Großvater hatten sie mit Sicherheit eine gehabt. Sie nahm das dritte Bild in die Hand und legte es ab, wieder sauber, wieder wie durch eine Klammer geführt. Aber für sie selbst, für Didem, war nach sieben, acht Bildern, die es dann waren, der Effekt des Alten, Strichmännchen, Häuser, das war mal ich, vorbei. Dann hob sie einen ganzen Stoß Blätter auf einmal ab. Dann nochmal. Und erst als sie das Papier mit beiden Händen neben den Karton auf die ersten Bilder legte, erkannte sie deren wahren Wert. Keinen Karton voller Bilder. Einen Karton voller Rückseiten hatte sie vor sich. Je weiter sie in dem Karton nach unten kam und je jünger sie war, als ihre Bilder entstanden waren, desto weniger intim waren die Briefe, die der Großvater zum Bemalen beiseitegelegt hatte. Ob er Sensibilität abbaute mit der Zeit, ob ihm das Risiko, zu viel über sich preis zu geben, geringer vorkam. Ob es ihm irgendwann egal war. Ob er keinen Sinn mehr darin sah, die Unterlagen für sich abzuheften, weil man ohnehin nie mehr in abgeheftete Unterlagen schaute. Oder ob er wollte, dass sie irgendwann alles sah. - Didem wusste es nicht, denn als sie soweit war, dass sie hätte fragen können, war der Großvater gestorben. Sie legte die Bilder sorgsam wieder in den Karton zurück, Stück für Stück. Bis sie wieder vorne ankam. Und dann saß sie da. Auf den Versen. Ein Brief, handgeschrieben, an den Großvater, das war Bild zwei. Ein Dokument über seinen Krebs, von dem ihr Vater erzählt hatte, dass der Großvater ihn besiegt hatte und über den sie sich keine Sorgen machen sollte, das war Bild eins. Das erste in dem Karton. Das letzte, das er hineingelegt hatte.

Sie schloss den Karton. Sie trat aus dem Keller. Plötzlich alles grell. Sie sah in den Himmel. Gleißend. Und die Wolken wie Flecken darin. Als wären sie wieder blau.

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Christian Lange-Hausstein

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freiTEXT | Christian Lange-Hausstein

Die schwarzen Löcher gegenüber

15. August 2020 - Eine Push-Notification meiner Corona-Tracing-App poppte auf:

„Sie haben sich in den letzten 48 Stunden länger als 15 Minuten in unmittelbarer Nähe einer Person aufgehalten, die soeben den Status COVID-19 positiv gemeldet hat.“

Ich war schon fast eingeschlafen. Ich hätte neben der COVID-19-Notification auf „Mehr“ drücken können aber ich schaltete das Handy mit einer Art gespielter Gleichgültigkeit aus. Gespielt? Vor wem?

Ich tat es, wie wenn ich eine Nachricht als unwichtig einstufte, bevor ich ihren eigentlichen Inhalt zur Kenntnis nahm - schon aufgrund der Meta-Informationen. <Bruder + Familienchat + Foto> Niemand erwartete in einem solchen Fall eine Antwort von mir.

Aber ich tat es eben doch nicht exakt so gleichgültig. Ob die Menschen hinter den schwarzen Löchern in der Hauswand gegenüber den Unterschied bemerkt hatten?

Ich aktivierte den „Darkmode“. Ich spürte, wie der schwarze Bildschirm zur Entspannung von Muskeln in meinen Augen führte. Das Ehepaar in der Wohnung neben mir schrie wieder. Ich regelte auch die Helligkeit der Buchstaben herunter und hielt mit einer Hand die Bettdecke hoch zwischen mich und die Möglichkeit der Blicke aus den schwarzen Löchern.

15 Minuten in unmittelbarer Nähe. War es im Lidl? Als Apple Pay nicht funktionierte und ich mit Bargeld an der Plexiglasscheibe vorbei zahlen musste? War es im Treppenhaus? Als der alte Mann aus dem vierten OG mir entgegenkam und wir kurz austänzelten, ob wir rechts oder links aneinander vorbeigingen? Die Joggerin, die mich schnaufend überholt hatte? Alles Kontakte, die mich beunruhigt hatten. Aber keine 15 Minuten - zu kurz für die App.

Plötzlich brauste für einen Moment der Bürger in mir auf. Aber er beschränkte sich, wie das in den Zeiten des Akzeptierens der Pandemie im „April-Mai“ üblich geworden war, auf das Stellen von Fragen: Wann werden diese Kurz-Kontakte von den Machern der Tracing-App für relevant gehalten? Wird die App automatisch upgedatet, um kurze Kontakte auch zu erfassen? Werde ich die Nutzungsbedingungen akzeptieren müssen, um das Handy weiter nutzen zu können? Ich hielt das Symbol der Corona-Tracing-App lange gedrückt und dann begann sie zu wackeln und ich hätte nur das „X“ drücken müssen, um sie zu löschen. Aber dann hörte ich die anderen sagen, „Aha, sie haben also die App nicht freiwillig installiert, aha!“

Dass ich 14 Tage in Isolation bleiben müsste, würde angezeigt werden, wenn ich neben der COVID-19-Notification auf „Mehr“ drücken würde. Was sonst. Dann zog ich die Decke ganz über mich.

14 Tage Isolation. Sei ehrlich, flüsterte ich in die Dunkelheit des Displays. Wie lange war das alles her? War das nicht...? -

Mir war das Lotterleben der anderen kurz vor Sommeranfang zu viel geworden. Entweder hatten wir eine Pandemie oder nicht, hatte ich zu meiner Frau gesagt, als der Berliner Senat Ende Mai die Maßnahmen lockerte. Wie viele Menschen hatte ich denn in den letzten 48 Stunden gesehen? Ich spürte, wie sich mein Atem unter der Decke um das Gesicht legte. Feuchte Wärme legte sich auf meinen Wangen ab.

In den Wochen davor hatten meine Frau und ich ohnehin so viel gestritten, dass sie nicht mehr... - Sie sagte, „Das überrascht mich jetzt auch nicht mehr“, als sie meine Argumentation zum Anlass nahm, um mit den Kindern zu ihrer Schwester nach Prenzlauer Berg zu ziehen.

Ich öffnete die Kalender-App und musste eine Weile scrollen, bis ich den letzten Tag mit einem Eintrag fand. Ich zählte. In Wahrheit hatte ich bereits die letzten 64 Tage niemanden gesehen. Ich hörte das Ehepaar in der Wohnung nebenan wieder schreien. Ging Bluetooth auch durch Wände? - 64 Tage. Niemanden. Nichtmal in den schwarzen Löchern gegenüber.

 

Christian Lange-Hausstein

 

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mosaik24 – Erlebniswelt Heizen

mosaik24 – Erlebniswelt Heizen

Intro

„Heiz ein und zieht euch warm an!“

„Wenn die Leute unsere Texte haben wollen, dann geben wir sie ihnen.“

Christine Haidegger spricht im Interview (S. 62) über die Gründung ihrer Literaturzeitschrift vor vierzig Jahren recht pragmatisch aus, was Beweggrund und Motivation für vieles sein kann: Die Nachfrage. Ein fehlendes Angebot. Ein Vakuum. Doch was, wenn es die Nachfrage nach etwas Bestimmten nicht gibt, nicht geben kann, da niemand weiß, dass etwas existiert, das man begehren kann. Ist das die Aufgabe von Kunst? Nachfragen zu befriedigen, die nie ausgesprochen worden sind?

Solche Fragen und ähnliche haben wir uns in den letzten Monaten regelmäßig gestellt – im Hinblick auf das bisher Erlebte, den status quo und die Ziele, die wir mit dem mosaik hatten und haben. Sind uns noch einmal klarer geworden, warum wir was wie machen. Haben an der einen oder anderen Schraube gedreht um zum Beispiel die Zeitschrift hoffentlich noch interessanter zu machen.

„Wir kleben. Wir lösen uns ab. Wir kleben. Alles, was von uns bleibt, sind unsichtbare Rückstände.“

Martin Peichl vergleicht den Zusammenhalt in einer Beziehung mit einem Post-It (S. 10). Und auch wir fragen uns nicht zum ersten Mal: Was bleibt von unserer Arbeit. Die physische Zeitschrift landet im Altpapier oder zerfällt langsam im Archiv – die achso bleibende und beständige Printpublikation bleibt bei einzelnen Autor*innen in einer Zeile im Lebenslauf bestehen: „Veröffentlichung in diversen Literaturzeitschriften.“

Es sind – wie so oft – nicht zuletzt die persönlichen Kontakte, die motivieren. Die Diskussionen mit Autor*innen und Rezipient*innen, die Unterhaltungen nach Lesungen, die Wertschätzung in den Mail-Konversationen. Ein Wort, das immer häufiger fällt: Dringlichkeit. Manche Texte werden nicht geschrieben, weil sie jemand lesen will, manche müssen einfach raus, auch wenn niemand auf sie wartet. Und bald kann man sich kaum noch vorstellen, wie man jemals ohne sie existieren konnte.

„dies ist kein gedicht über den zu kurz gedachten zusammenhang von sprache und denken. dies ist im besten fall: ein loch im papier, das groß genug ist, um durchzuwollen.“ – Xú Yìn / Lea Schneider (S. 42)

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Inhalt

  • Laurenz Rogi – Wie ich den Osorno bestiegen habe
  • Kerstin Meixner – Die Geschichte meines Vaters, arabische Version
  • Marianna Lanz – hasen
  • Martin Peichl – Entdecker
  • Julia Knaß – fixierungspunkte
  • Safak Saricicek – humanspaghetti
  • Chistian Lange-Hausstein – Wie eine Wespe
  • Robin Krick – Der Schwerfällige
  • Alexander Kerber – Im Hals klafft eine Wunde
  • Nikola Huppertz – schuhe
  • Sebastian Görtz – Industriekultur
  • Slata Roschal – o.T.
  • Illustrationen von Lisa Köstner
NEU: Kunststrecke von Daniela Kasperer
BABEL – Übersetzungen
  • Krista Scözs – am paralizat/sunt un om al exceselor (Aus dem Rumänischen von Yevgeniy Breyger)
  • Julia Grinberg – Paradisischer Fernblick | Zweimal über Phantome (Russisch und Deutsch)
  • Anna Hetzer – Funkhaus Nalepastraße (Ins Italienische von Nicoletta Grillo)
  • Kathrin Bach – Ocker (Ins Italienische von Nicoletta Grillo)
  • Marco Mantello – Dopo l‘ultimo (Aus dem Italienischen von Tobias Roth)
  • Agata Spinelli – Lungo il Freilichtmuseum (Aus dem Italienischen von Tobias Roth)
  • Xú Yìn – 秋访金陵 (aus dem Chinesischen von Lea Schneider)
Kolumnen
  • Peter.W. – Die Brille, Hanuschplatz #12
  • Marko Dinic – Nachts, Lehengrad #4
Buchbesprechung
  • Lisa-Viktoria Niederberger – Ein Ort in den Bergen. Rezension „Tau“ von Thomas Mulitzer (Kremayr & Scheriau)
Interview
  • Papier erbetteln, Manuskripte schmuggeln. Josef Kirchner, Christian Lorenz Müller im Interview mit Christine Haidegger
Kreativraum mit Thomas Mulitzer

freiTEXT | Christian Lange-Hausstein

Wenn ein Plan funktioniert

Ich kann außerhalb unserer Sitzungen halt nur mit niemandem darüber reden. Das ist das, was es schade macht. Es gibt nur die wenigen Tagebucheinträge, ich habe sie nicht einmal verschlagwortet, deshalb muss mein Biograph, aber das ist auch erst, wenn ich schon tot bin, deshalb muss mein Biograph da auch erstmal draufkommen, also in welchem Zusammenhang diese Tagebucheinträge stehen. Da steht ja nirgendwo Volksbühne oder Lederer oder, wie heißt sie, die kleine Maus, die jetzt einen auf Sprecherin mit großgeschriebenem "I" macht, als wäre sie keine Frau – die Deutschen sind wirklich krass – mit ihrem devoten Schmusi da neben sich, das konnte ich ja damals, als das Konzept entstand, da war ich fünfundzwanzig, sowas in dem Dreh, da konnte ich das doch nicht wissen, dass das jetzt genau dieser Lederer ist und diese Maus und ihr Schmusi. Damals war nur abstrakt klar, wenn man etwas Neues haben will, dann muss es einen Knall geben, die Leute sind zu faul, um sich einzubringen, wenn alles schon irgendwie okay ist. Alles irgendwie schon okay, das akzeptieren die, da lehnt sich keiner gegen auf.

Ich meine. Also mir tut das ja auch leid. Schauspieler entlassen, Bühnenpersonal. Das sind ja Existenzen, die da dranhängen. Nicht nur materiell, auch ideell, die haben sich ja alle miteinander und mit ihrer Intendanz identifiziert. Das war ja gewachsen. Da zerstören sie ganze Leben, wenn sie die entlassen, ganze Familien. Die eine hat ihren Mann verloren, meine Assistentin hat mir davon berichtet. Die hätte jetzt ein Engagement in Bochum haben können und da hat der Mann gesagt, sowas macht er nicht, der Sohn kommt in einem halben Jahr in die Schule, da kann man auch nicht nochmal die Kita wechseln und dann ist es doch besser, konsequent zu sein. Und buff. Da war er draußen, ein Kunstsammler, im Brotberuf Radiologe. Der hatte natürlich auch einen guten Anwalt- wegen dem Sohn. Und verheiratet waren sie auch nicht, sondern immer so so-ein-Behördenakt-macht-meine-Liebe-auch-nicht-echter-mäßig. Schauspielerin und Kunstsammler in Mitte halt. Und dann hat das mit dem Engagement in Bochum doch nicht geklappt und dann stand sie da. Da schlucken sie natürlich, wenn sie von so einem Schicksal hören. Da bekommen sie auch Zweifel. Da muss man dann schon auch nochmal, how do you say, tief in die Argumentenkiste greifen, damit man da nicht schwach wird und sagt Hey, ihr seid alle Teil einer Inszenierung, sondern dichthält und weitermacht. Aber im Ernst, wenn du schon Künstler sein willst, dann kannst du dich nicht mit so lapidaren Fragen wie deiner Existenz aufhalten. Ich meine. Bis zur Selbstverleugnung.

Ich leide ja auch. Dieser silberne Bart. Dieser Künstlerschal. Jeden Morgen dieser Scheitel, meinen sie, der sieht von allein so dynamisch geworfen aus? Verzeihen sie die Frage, das ist übergriffig, beim Recap unserer letzten Sitzung ist mir aufgefallen, dass ich das öfter mache, ich will das verbessern. Aber wirklich: Haben sie das Interview mit mir bei Kulturzeit in 3sat gesehen? Können sie sich vorstellen, sowas zu sagen und dann nicht zu sagen, Hey, nur ein Spaß, haha, sondern mit "Ich danke ihnen" das Gespräch zu beenden und dann denken die Zuschauer das alle. Kamera aus, die Moderatorin macht einfach mit Flüchtlingskrise weiter, die Leute schalten ab und denken, der Typ macht da jetzt echt einen auf Disney Land, Dance Performance, ich meine, schon das Wort, Dance Performance.

Jedenfalls von den Lebenden, die zwischen jetzt und dem Aufschrei meines Biographen, wenn er die Erkenntnis hat, sterben, von diesen Lebenden wird niemals einer erfahren, dass das eine Installation ist, dass diese Inszenierung einem Plan folgt, dass ich mit alledem die Bande links und rechts auf dem Lebensweg der sogenannten Bevölkerung so sehr verengen will, dass die, wie heißen die Mitglieder von einem Volk auf Deutsch, jedenfalls dass die Menschen wieder in Fahrt kommen, das Heft selbst in die Hand nehmen, aufstehen, besetzen, eigene Spielpläne erstellen, an sich selbst, an den Mitgliedern ihrer Gruppe lernen, wie schwer es ist, in Abstimmungsprozessen zu bestehen, sich auf Stücke zu einigen, Schauspieler zu finden, die allen entsprechen, ein Bühnenbild zu bauen, den Vertrieb unter Gästen zu organisieren, die kein Geld haben und den Beteiligten irgendwann doch etwas zu zahlen, damit sie sich konzentrieren können, darauf Kunst zu machen, die aus dem Volk heraus, dem Volk das lahm geworden ist, auf die Bühne gekotzt wird, als Abwehrreaktion, bevor das Schlimmste passiert, rosa, Glitzer, Musical, und zwar ernst gemeint.

Das alles abzuwenden wird sie Kraft kosten, man wird den Schweiß riechen, die Hitze der Scheinwerfer wird ihn in den Zuschauerraum tragen. Und dann: Man konsolidiert sich, alles wird bleiben, wie es war, bis ich kam und den Leuten zeigte, dass sie es so wollen, und sie werden nicht mehr müde sein, sondern voller Eifer mit sich selbst und dem Erhalt dessen, was sie immer schon hatten und aufs Neue lieb gewonnen haben, so sehr beschäftigt sein, dass sie die einsame Stimme des FAZ-Feuilletonisten, der geleitet von dem Motiv, dem ganzen Klamauk etwas entgegenzusetzen, darauf kommt, dass man mir doch Danke sagen müsste, sie werden diese Stimme überlesen, ich werde nirgendwo twittern, dass ich es liebe, wenn ein Plan funktioniert und irgendwo zwischen unendlichem Glück, dass mein Plan funktioniert und dem Hass der Welt, die doch meine ist, die Welt der Kunst, die mich verachten muss, dort werde ich verweilen, verlassen von denen, die mich auf der letzten Stufe der Umsetzung meines Plans gegen sich ausgetauscht haben, werde ruhiger werden, ein bisschen traurig sein, und froh.

Christian Lange-Hausstein

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