freiTEXT | Sophie Sumburane

Und der Mann vor mir raucht

Ich sitze im Zug und der Mann vor mir raucht. Ich sehe nicht seine Haare, keine Hand oder die Farbe seiner Jacke, nur den grau blauen Rauch seiner Zigarette, der erst wie ein Faden, jetzt als Wolke in der Luft hängt.

Doch ich weiß, dass ich ihn liebe.

Ich liebe diesen Mann, weil er im Zug raucht, es ist verboten im Zug zu rauchen, er tut es trotzdem, ich könnte das nicht.

Ich kenne auch seine Stimme nicht, habe sie noch nie gehört, zwischen all den Stimmen im Zug. Seine könnte darunter sein. Ist es ganz sicher, ich suche mir die sonorste aus und ordne sie ihm zu, stelle mir vor, wie er zwischen den Zügen an seiner Zigarette ein paar Worte spricht, wieder zieht, die Kippe glüht, die Asche fällt. Es kümmert ihn nicht.

Wie sieht er wohl aus dieser Mann, den ich jetzt liebe, der vor mir sitzt im Zug und raucht? Ganz und gar nicht wie ich, da bin ich mir sicher. Instinktiv ziehe ich meine Bluse über dem Bauch glatt und streiche einen Krümel von der bügelgefalteten Hose. So eine Hose würde er nicht tragen, er trägt sicher eine Jeans mit Löchern. Ein Shirt mit Aufdruck, eine Sonnenbrille in den Kragen gehängt. Ich versuche, sein Bild gespiegelt im Fenster neben mir zu sehen, doch da ist nichts. Meine Jacke hängt im Weg, das ärgert mich. Doch ich will sie nicht wegnehmen, ihn nicht stören, nichts Falsches tun und lasse sie hängen. Vor meinem inneren Auge will kein Bild von seinem Gesicht entstehen, es ist mir jetzt auch egal, ganz egal.

Und der Mann vor mir raucht noch immer, im Zug. Niemand kommt, kein Schaffner, keine Schwangere, Mutter mit Kind, oder korrekter Anzugträger, um ihn zu bitten, die Zigarette auszumachen. Er raucht einfach weiter, meine Augen tränen und brennen, weil ich schon so lange nicht mehr gezwinkert habe. Ich will keine Millisekunde verpassen, vom Tanz des Rauches. Will sehen, wie er sich immer weiter an der Decke des Wagons verbreitet, an der Glaswand vor ihm hängen bleibt, um nur Augenblicke später die Ritzen der Tür zu finden und in das nächste Abteil zu wabern. Ich will sehen, wie der Rauch die Nasen der anderen Fahrgäste erreicht, sie reglos sitzen bleiben. Tatenlos. Vollkommen desinteressiert. Nur mein Interesse hat der Mann vor mir, den ich nicht sehen kann, geweckt. Jetzt schließe ich die Augen, denn endlich ist der Rauch auch nach hinten gezogen, hat meine Nase erreicht und ich stelle mir vor, dass der Mann vor mir genau so riecht. Ein Geruch, der so abstoßend ist, dass er mich anzieht, so schädlich, dass er mir gut tut. Ich stelle mir vor, wie er sich über seine Lehne nach hinten beugt, wie sein Gesicht voller Bart ist und das Lächeln der Lippen so kaum zu sehen.

Bärte finde ich furchtbar, sie kratzen beim Küssen, die Haare stehen wild durcheinander, selbst wenn sie gekämmt wurden. In Bärten bleiben Krümel hängen, oft den ganzen Tag, so läuft der Mann herum, mit Essen im Gesicht, merkt es nicht, fühlt sich toll, hip, Hipster und ist doch nur ein Mann mit Essen im Gesicht. Doch bei dem Mann vor mir finde ich den Bart plötzlich wunderschön. Er hat ganz sicher einen Bart, und wenn er sich zu mir umdreht und lächelt, wird er mich mit seiner sonoren Stimme fragen, ob ich auch mal ziehen möchte, ich werde schüchtern verneinen und er wird sich auch in mich verlieben.

Ich stelle mir auch das jetzt vor, wie sich seine Lippen bei der Frage bewegen, wie seine Augen feucht werden, als ich nein sage, wie er aufsteht und sich neben mich setzt. Ich stelle mir vor, wie er, mit der Zigarette zwischen Ring- und Zeigefinger neben mir sitzt und wir uns plötzlich küssen, ich seine Zunge schmecke, seinen Atem rieche, wie ich nicht genug von all dem kriegen kann. Ich stelle mir vor, wie der Mann, der im Zug vor mir sitzt und raucht, mit seiner Hand unter meine Bluse fährt, hier, mitten im Zug, wie keiner guckt, als wären wir gar nicht da, wie es mir aber auch total egal ist, ob einer guckt. Ich fühle, wie seine Hand an meinem Bauch hinauf wandert, wie sich seine Finger rau auf meiner Haut anfühlen, wie ich diese Situation liebe, in der ich bei jedem anderen Mann vor Scham im Boden hätte versinken wollen.

Ich stelle mir vor, wie er mir seinen Namen sagen will, dieser Mann, der Dinge tut, die verboten sind, der aussieht wie einer, dem alle Regeln egal sind, der küsst, wie jemand, der nur dafür und nur für mich auf der Welt ist, als der Zug plötzlich hält und ich die Augen wieder öffne.

Weg ist der Rauch, verflogen. Weg ist die Stimme, die sonorste von allen. Ich sehe eine ältere Frau durch den schmalen Gang im Zug auf mich zu kommen, sie schaut sich um, ihr Blick bleibt an dem Mann vor mir hängen, sie schiebt sich in seine Reihe und setzt sich auf den Platz, genau vor mir. Weg ist der Mann, der vor mir saß und rauchte. Weg der Rauch, der Geruch, die Liebe.

Da die Gewissheit, er war nie hier.

Sophie Somburane

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freiVERS | Niels-Johannes Günther

Fackel der Demokratie

Wo ist die
leuchtende Fackel geblieben?

Die Fackel der Freiheit,
das leuchtende Licht der Liebe,
das europäische Feuer des Friedens,
die stille Kerze der Vernunft?

Nationale poltern,
Monarchen rüsten,
die Angst schnürt Seelen zu,
alte Türen werden fest verschlossen.

Die Wahrheit wurde schon
auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Die blinde Justitia schon
gefesselt und geknebelt.

Die Stimmen der Gefolterten,
Verschleppten, Versklavten - verstummt.

Wo ist in dieser Dunkelheit
die leuchtende Fackel geblieben?

Niels-Johannes Günther

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freiTEXT | Barbara Zoschke

Die Liebesunwahrscheinlichkeit

-

marokko, london 116

Die Liebenden saßen unter dem bisschen Hoffnungsgrün links im Bild. Sie hatten den Ort gewählt, weil er ihr ein wenig Schatten bot, während er mit dem Gesicht halb in der Abendsonne auf einem breiten Sims Platz finden konnte. Sie empfanden Glücksstille. Gleich würden sie die Lesung eines von ihnen beiden verehrten Autors besuchen.

Als das Handy des Geliebten klingelte. Der Geliebte zuckte zusammen und sagte: „Das ist meine Familie.“ Dabei sah er seine Geliebte mit Unvermeidbarkeitsbedauern an, das schwer auf seine Schultern drückte. Der Geliebte stemmte sich gegen sein eigenes Gewicht und stand auf. Er entfernte sich mit Rücksicht auf die Familie und auf die Geliebte von der Geliebten, obwohl er sich durch seine heimliche Verabredung zur Lesung mit Rücksicht auf die Geliebte und seine Familie gerade erst von der Familie entfernt hatte. Die Geliebte erkannte darin auf Anhieb die vertrauten zwei halben Wahrheiten, die allerdings jetzt, da sie allein im Innenhof war, plötzlich und unerwartet in weitere, immer kleiner werdende Wahrheitsanteile zerfielen, die die Geliebte proportional zur Dauer des Wegbleibens ihres Geliebten immer schlechter zu einem Wahrheitsganzen zusammenkratzen konnte. Schon erschien es ihr nur noch zu einem Viertel wahr, dass es sie selbst überhaupt gab. Und das Viertel wiederum schmolz in der Abendsonne auf die Größe eines Achtels Butter. Die Geliebte trank gegen den Wahrheitszerfall an und leerte das Weinglas, das ihr der Geliebte im Weggehen überlassen hatte, in einem Zug. Doch es nützte nichts. Die Wahrheit zerfiel weiter bis sie schließlich unwahrscheinlich war und überschwemmte die Geliebte dergestalt von innen.

„Ach, käme er nur schnell zurück“, dachte die Geliebte. Die Unwahrscheinlichkeitsschwemme hatte ihre Gedanken längst geflutet. „Und was, wenn er hat nach Hause fahren müssen, weil der Junge sich verletzt hatte?“ Er würde ihn verbinden müssen, vielleicht sogar ins Krankenhaus fahren, ihm versprechen müssen, ihn nie wieder allein zu lassen. Die Geliebte suchte nach einem Ausweg, der es ihr erlaubte, ihre Existenz über die Zeit des Telefonats, über die Zeit des Wegfahrens, über die Zeit des Verbindens und über die Zeit des Versprechens an das Kind hinaus zu retten.

Versuchsweise löste sie die Feststellbremse und rollte aus dem Bild.

Barbara Zoschke

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freiVERS | Christa Issinger

Notting Hill Gate

aufgerollt wie ein faden
die vergangenheit
der geruch und die wärme
windstoß der u-bahn
das viktorianische haus mit der roten tür

du warst nicht mehr da
nur die lüge
du würdest auf mich warten
tausend jahre und mehr

nun stehe ich da und
drehe mich um
Erinnerung

Christa Issinger

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freiTEXT | Katja Bohnet

Unsichtbare Dritte

Seit du mit ihm geschlafen hast, sehe ich dich mit anderen Augen. Wir haben seitdem nicht mehr viel miteinander gesprochen. Als ich das Autoradio anmachte, hast du es leiser gestellt. Du fährst zu schnell.  Ich frage mich, wohin. „Halt an!“, höre ich mich sagen.

Du ignorierst mich.

„Halt sofort an!“ Diesmal schreie ich.

Ich merke, wie du die Geschwindigkeit drosselst und scharf bremst. Die Landschaft wird langsamer, die Felder halten an.

„Was?“

Ich öffne die Tür und steige aus. Ich stehe einfach nur da. Du lehnst dich über den Beifahrersitz und ziehst die Tür zu. Der Wagen zieht an, beschleunigt, eine Staubwolke weht hinter dir her. Auf dem Asphalt klebt ein Stück Fell. Jetzt ist das Auto nur noch ein verwaschener Punkt am Horizont.

„Hau ab, Arschloch!“ Meine Stimme klingt fest.

Hier am Straßenrand fühle ich mich seltsam banal. Ich gehe nicht zurück. Die Hitze lädt mich auf. Ich schreite voran. Felder, unermesslich weit. Irgendwann höre ich ein leises Rauschen. Hinter mir. Ich sehe mich um. In der gleißenden Hitze glänzt etwas metallisch. Es kommt auf mich zu.
Der Güterzug ist endlos. Wir ziehen nebeneinander her. Ich schwitze. Meine Füße brennen. Als der letzte Waggon vorüber rollt, fühle ich mich verlassen. Meine Beine müssen weitergehen. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Eine Kreuzung.

Die unsichtbare Dritte: Das bin ich.

Kein Flugzeug taucht auf. Nichts. Ich gehe weiter gerade aus, biege nicht ab. Nicht mehr. Meine Schritte werden kürzer. Ich ignoriere den Durst. Die Sonne brennt. Kein Auto kommt, kein Truck, kein Mensch, kein Tier.
In der wabernden Pfütze auf dem Asphalt erkenne ich sein Gesicht, seinen Leib, nackt. Du liegst auf ihm, hier mitten auf der Straße. Du siehst mich an. Eine Fata Morgana. Ganz real. Ich stolpere über eure Körper, falle, rappele mich wieder auf. Den Nachmittag halte ich noch durch. Meine Sohlen schleifen über den Asphalt. Die Straße trägt mich, ad infinitum. Ich blicke hinauf ins Weiße. Ich bin frei.

Ein kleiner Punkt kommt näher. Ich habe Schwierigkeiten, ihn im Auge zu behalten. Dann höre ich Motorengeräusche. Vielleicht lasse ich mich retten.  Der Wagen hält an. Du öffnest die Tür. „Steig ein!“, sagst du. Ich sehe dich an. Wenn ich dich anschaue, sehe ich auch ihn. „Hau ab, Arschloch!“

Du kneifst die Lippen zusammen. Schlägst die Tür zu, fährst an. Dein Blick hart. Dein Schwanz war es sicherlich auch.

Katja Bohnet

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Die mosaik-Klausur - eine Zusammenfassung

Die mosaik-Klausur brachte überraschende Ergebnisse. Obwohl: Von Ergebnissen zu sprechen ist nicht exakt. Es handelt sich vielmehr um Handlungsanweisungen und Diskussionsgrundlagen. Eine Klausur, die ins Herz ging.

WP_20160715_20_06_35_Pro - KopieMit unterschiedlichen Erwartungen kam man zur Klausur – dass diese schließlich sechs intensive Stunden in Anspruch nehmen würde, erwartete wohl niemand. Diskussionen über Formate, personelle und finanzielle Ressourcen, Eigen- und Fremdwahrnehmungen führten immer wieder zurück in das Herz, den Kern des mosaik.

Als Einstieg wurden individuelle Wahrnehmungen gesammelt. Dabei wurden unterschiedliche Standpunkte auf das mosaik offenbar: Von Autor*innen, Leser*innen, Herausgeber*innen. Diese Fremdwahrnehmung mit der Eigenwahrnehmung zu vergleichen und Gründe für Differenzen ausfindig zu machen wird eine schwierige aber hoffentlich lohnende Aufgabe der kommenden Monate.

Nach einem Input über die absolvierten und geplanten Aktivitäten und Projekte, die Zeitansprüche und Finanzplanungen sowie internen Strukturen (die man im Halbjahresbericht ausführlich nachlesen kann) galt es, das vermittelte Bild mit dem Eigenbild vom Anfang zu verbinden. Hier stellte sich bald die Frage nach der Botschaft, der Idee des mosaik, die vielleicht intern klar sein mag, aber nicht stringent vermittelt werden konnte bzw. sich in den letzten Monaten und Jahren von der anfänglichen Mission von vor fünf Jahren entfernt hat.

Auf der Suche nach Gründen und Ausprägungen kam die Diskussion immer wieder auf den Kern des mosaik zurück: Dieser müsse – so einer der zentralen Arbeitsaufträge, die im Anschluss gefasst wurden – als erster Schritt einer langfristigen Erneuerung neu definiert werden. Es gilt also, ein neues Mission Statement um die Kernelemente „Niederschwelligkeit“, „Vielfalt“ und „Förderung junger Literatur“ zu formulieren.

Erst wenn dieses geschärft und damit den neuen Bedingungen angepasst wurde, kann der Schritt nach außen über die Ressourcen zu den Formaten und Projekten führen. Dieser Prozess wird – so am Ende geplant – das gesamte zweite Halbjahr 2016 in Anspruch nehmen.

WP_20160715_20_07_29_Pro - KopieEs wurde der Bedarf ausgemacht, in diesem Prozess neue personelle und finanzielle Strukturen zu schaffen, die längerfristig eine zeitliche und finanzielle Entlastung bringen und den zukünftigen Erfolg sichern sollen. Wer in welcher Form, mit welchen Kompetenzen und Vollmachten daran beteiligt sein wird, wird sich nach einer Evaluation durch die bisherigen Herausgeber herausstellen.

Neben der internen Evaluation ist auch eine breite Online-Umfrage zu den Einstellungen und Wünschen zum bzw. für das mosaik geplant. Ergänzt mit einer Analyse anderer Literaturzeitschriften und Verlage sollen in den nächsten Wochen und Monaten erste Schritte auf dem Weg der Erneuerung des mosaik gemacht werden. Wir halten euch hier auf dem Laufenden.

Wir möchten uns nochmal bei allen Beteiligten und insbesondere bei Manuel für die Leitung der Klausur bedanken und sind frohen Mutes für die zukünftigen Entwicklungen.



freiVERS | Angelo Wemmje

Nachdem Beifall

Eine vollkommene Reduktion
tritt auf die Bühne und
präsentiert ihre Immanenz, die
das Publikum verlor in den
überschwänglichen Bewegungen
ihrer Leben:
Das Stillleben – ein
fixierter Moment
aus dem alles entwächst, auch
die Zappelein der Gäste
und Zuschauer – eine
scharfe Illusion, die
der Maler entpuppt mit
einfachen Strichen,
die, nachdem streichen
in Ewigkeit ruhen
zu Ehren dem Werk, so
wie das Klatschen der Leute
nachdem Beifall.

Angelo Wemmje

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freiTEXT | Susanne Ulrike Maria Albrecht

Mystisch

Schon den ganzen Tag freute ich mich auf das schmale Büchlein in meiner Tasche. Ich hatte ihm am Vortag in unserer Bibliothek nicht widerstehen können. Sein silbrig blauer Einband mit der Andeutung von prasselndem Regen und schweren Gewitterwolken hatte mich neugierig gemacht. Nun saß ich unter dem Lichtkegel meiner Stehlampe und strich über die erste Seite. Doch da ...

… überfiel mich eine bleierne Müdigkeit und ich nickte ein. Kurz darauf erwachte ich sehr erfrischt  und begab mich in mein Arbeitszimmer. An meinem Schreibtisch machte ich mich an die explizite Auswertung einiger Diplomarbeiten. Als geschiedener Germanistikprofessor hatte ich ohnehin nichts besseres zu tun.  Allerdings wurde mir während dieser Semesterferien eine ganz besondere Ehre zuteil. Ich sollte meine Enkelin, deren Eltern verreist waren, betreuen. Meine Tochter Beatrice und mein Schwiegersohn Horst Tauber, der als Arzt bei einer Tagung in Österreich weilte, um anschließend die traute Zweisamkeit für eine romantische Italienreise zu nutzen, hatten mir die kleine Sarah samt ihres Kanarienvogels Sindbad anvertraut.

In der Zwischenzeit würden ich, meine Enkelin, deren Vogel und mein Kater Humbert, die eine eigenartige Konstellation bildeten, sich das geräumige Haus mit dem großzügigen Grundstück teilen. Einmal wöchentlich würde sich Frau Rawenstein, in ihrer Funktion als Haushaltshilfe, dazugesellen. Weswegen, unter Berücksichtigung von meiner Zerstreutheit, die sich gleichsam lustig wie anregend auf meine Enkelin auswirkte, das Chaos für die bevorstehenden Wochen bereits vorprogrammiert schien.

Sarah, die sich  hier nach Herzenslust ausleben konnte, deren kindliche Phantasie dauernd aufs neue gefordert war, bemüht darum, diese Art der Belustigung im Fluss zu halten und fest dazu entschlossen, dem Chaos keine Pause zu gönnen, hatte sich seit langem ein gelbes Strickkleid gewünscht. Doch all die Bemühungen von seiten ihrer Mutter und die vielen Einkaufsversuche waren fehlgeschlagen. Ein leuchtendgelbes Strickkleid aus reiner Wolle sollte es sein. Mit einem Griff in das Schrankfach, war es um Großvaters Lieblingspullover geschehen. Genau das richtige für Sarah. Jetzt nur noch schnell in die Waschküche, wohlwissend, dass Großvater Waldemar besagten Kellerraum selten betrat und dessen Nutzung lieber seiner Zugehfrau überließ. Stunden später glich das edle Wollteil, zuvor eingeweicht und tropfnass aufgehängt, dem lang ersehnten Strickkleid. Nur noch fertig trocknen, dann reinschlüpfen und sich wohl fühlen. Stolz betrachtete Sarah das Resultat ihrer klammheimlichen Aktion und freute sich über die gelungene Arbeit.

Ich als ein selbsternannter Einkaufsbummelmuffel und erklärter Feind von Shoppingtouren, begegnete Sarahs Frage nach diesbezüglichem Ausflug in die Stadt mit diplomatischem Geschick. Mit der einfachen Feststellung, dass die von ihr getragene Kleidung doch neu und sehr schön sei, war der Erklärungsbedarf gedeckt. Scheinbar zufrieden verzog sich Sarah in den Garten, um mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Simone zu spielen.

Nach einer Weile stand sie heulend in der Tür zu meinem Arbeitszimmer und beklagte sich schluchzend über die Hänseleien von Simone. Die hatte nicht mit ihr spielen wollen, weil sie diese abgetragenen und viel zu kleinen Klamotten trug und daraus ableitend bestimmt kein guter Umgang war. Kleider machen eben doch Leute, schloss Sarah das Plädoyer über ihre missliche Lage.

Tatsächlich war Sarah in kürzester Zeit sehr schnell gewachsen, und nachlässig gekleidet war sie auch. Das war nicht von der Hand zu weisen. Ich hatte mir diesmal die Mühe gemacht, mich zu ihr umzudrehen und musste mit Entsetzen feststellen, dass die Nachbarstochter nicht übertrieben hatte. Die eigene innere Animosität überwindend, packte ich Sarah bei der Hand, um sie neu und angemessen einzukleiden.

Sarahs Plan, mit der sehr viel kleineren Simone die Kleider zu tauschen, war vollends aufgegangen.

Als passionierter Frühaufsteher und vehementer Verfechter eines ausgiebigen Frühstücks, war ich geradewegs im Begriff, mich ans tägliche Werk zu machen, als ich angesichts der Federspur, die von der Küche zur Hintertür führte, mir das Pfeifen im Halse steckenblieb. Die ungute Ahnung, die mich  dabei befiel, fand im Garten ihre grausame Bestätigung.

Das Unheil, das mein Kater da angerichtet hatte, war nicht mehr gutzumachen. Sindbad, oder das, was noch von ihm übrig war, lag da, und Humbert, sein Mörder, war spurlos verschwunden.

Sarah durfte auf gar keinen Fall etwas davon mitbekommen.

Über den leeren Käfig im Wohnzimmer hängte ich das dazugehörige Tuch, um den Anschein zu erwecken, dass der Vogel noch schlafen würde. Ich hatte die Absicht, gleich einen neuen Vogel zu besorgen. Ich hoffte nur, dass Sarah nicht den Unterschied merken würde.

Derweil Frau Rawenstein zu ihrem großen Reinemachetag eingetroffen war, bereitete ich eilig Sindbads letzte Ruhestätte vor. Das war ich ihm schuldig. Immerhin war er durch die Pfote meines Katers ins Jenseits befördert  worden. Frau Rawenstein, die unter einer Vogelphobie litt, weigerte sich lautstark, den gewünschten Ersatz zu besorgen. Allein schon der Gedanke an einen Vogel brachte bei ihr eine Lawine ins Rollen, die eine Panikattacke auslöste und sich schließlich zum Tobsuchtsanfall steigerte. Durch das Geschrei aufgewacht, stand Sarah plötzlich auf dem Balkon, um mich auf frischer Tat zu ertappen. Ich tarnte meine geheime Aktion mit dem Deckmantel der üblichen Gartenarbeit. So hatte ich vorerst meinen und Humberts Hals gerettet. Der Kater schlich irgendwo da draußen herum und hatte mir die Drecksarbeit hinterlassen.

Frau Rawenstein war wieder bei Sinnen. Und ich fuhr zur Zoohandlung.

Sarah kringelte sich vor Lachen. Das war ihre bisher beste Spaßattacke gewesen. Dank ihres makabren Scherzes würde ihr geliebter Sindbad noch heute anstelle des geopferten Spielzeugvogels einen Gefährten mit dem Namen Timba bekommen. Zwei Vögel würden für Frau Rawenstein den endgültigen Zusammenbruch bedeuten.

Aus mir wurde mit wenigen Worten Professor Hardwig, der wieder einmal einen endlosen Vortrag hielt, der so langweilig war, dass man ihn getrost verwerfen konnte. Aber meine Enkelin Sarah, würde schon für die rechte Kurzweil und die dringend notwendige Abwechslung sorgen.

Ein Schauer lief mir über den Rücken und mir sträubten sich die Nackenhaare. Was sollte das? Germanistikprofessor? Enkelin? Ich war doch ein angehender Student! Und seltsamerweise saß ich immer noch unter dem Lichtkegel meiner Stehlampe und strich über die erste Seite. Anscheinend schien das schmale Büchlein mehr zu wissen als ich. Aber irgendwie war es auch sehr beruhigend zu wissen, dass das mit meiner Zukunft alles klar gehen würde.

Susanne Ulrike Maria Albrecht

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freiVERS | Lütfiye Güzel

freiheit & fabrik

ich schreibe
aus den falschen gründen
& je schlechter ich mich fühle
desto falscher werden die gründe
von außen kommt nix
von innen geht nix
und am ende
ensteht dann
so was hier
Lütfiye Güzel

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freiTEXT | Judith Trapp

Zurück

Seit Neumünster trabt der schwarze A-Klasse-Hengst quasi mit Autopilot. Obwohl nur geliehen, kennt er den Weg. Schon lang nicht mehr meine Heimat ist der kleine Ort zwischen Holsteinischen Hügeln und doch hält die Zeitlosigkeit jetzt die Zügel. Das Grün ist hier noch grüner als am Meer, von dem ich gerade komme. Verstörend die Mischung von großer Vertrautheit und Ferne zum Ort und dem, was war. Nicht nur ich, auch alle andern sind längst weg vom Gehöft am Ende der Straße. Ein langgezogenes Gebäude mit unpassend protzigem Portal kommt mir näher. Nun angeglichen an den Rest: Der Lack der beiden Steinsäulen ist gründlich von den 20 Wintern angefressen, die der jetzige Besitzer hat nachlässig verstreichen lassen. Meterhoch umwuchert sind Haus und Nebengebäude mit grazilem Topinambur, wildem Kohlstrauch, garstiger Nessel. Das Tor zum Waldstück rostet schief und wird nur noch vom Stacheldrahtprovisorium gehalten. Die Stalltüren sind mit der Zeit am obern Rand ausgezackt. Traurigbraun und unregelmäßig stehen die Holzzähne dem Wind entgegen. Und auch der letzte Bewohner und Besitzer vom ehemaligen Hippiehof ist mit den fleckigen Tapeten, dem muffigen Trödel auf dem Dachstuhl, dem wackligen Mobiliar alt, furchig, grau geworden. Gleichwohl bewahrt er als letzter dem Ort die Würde durch das an Erinnerung, was in meiner Vita so gut wie heilig gesprochen ist: Unsere Kommunenzeit hier. Lange vorbei und doch wie gestern geh´ ich in Gedanken durch das Gelände, alle Räume. Die warn wild und bunt. Voller Kunstmaterial. Experimentelle Lesestoffe, mondäne Teppiche an den Wänden. Instrumente, auch sehr eigenwillige. Farben, Früchte, Hoppeltiere. Unter den niedrigen Fenstern liefen die Kaninchen und Hühner, vögelten die Angereisten, den Apfelfrüchten nah. Trunken machte schon der viele Sauerstoff und der freie Himmel unterm Berg. Und wenn wir nicht tags dort nackt Gewitter tanzten und nachts auf dem Mercedeskombidach über Feldwege cruisten, blieben noch so viele andere Spielmöglichkeiten, häuften wir ekstatisch die Erfahrungen an. Wir schufen eine andere Wirklichkeit und das nicht nur im Drogenrausch. Auch die Musik, die Natur, das Atmen und Halten und Loslassen all dessen, dem wir habhaft wurden – sperrten uns die Tore der Wahrnehmung auf, fürwahr. Heute finden nur noch wenige Realitätsflüchtlinge hierhin und sie finden keine Alternative mehr zu ihrer Gefangenschaft in der verkauften Welt. Nur noch tristes Versteck in feuchten Räumen, die nun viel zu groß. Weil leergeräumt, zu Geld gemacht, was von Wert und alles andre als Leben, das hier die Lücken füllen könnte. Das Schelmische und Laute, Mystische und Streitmutige: Niemand mehr, der mit gerupftem Hühnerleib erzürnt den Dieben aus den eigenen Reihen im Innenhof nachsetzt, wirft. Niemand (kein Sunbird, keine Hallibelli), die mehr suchspielen im Dunkeln, mit Trommeln und Tamtam. Anschwellende Gesänge, die das Innenleben lobpreisen, begleitet vom Geschirrgeklöppel, rhythmischen Schlägen auf den runden Tisch in der Küche mit den fünf Türen. Heut´ leckt dort die Decke und lässt Böses ahnen – zwei Stockwerke drüber liegt der Schornstein. Keine Kräuter- und Körnersammlung in den Regalen sondern Tafelfutter, staubig und dunkel, weil das Fenster zum Hof fast blind. Ein Zauber bis ins Erdreich trieben wir voran: Deponierten im Steinkeller Devotionalien von weitgereisten Gästen (Figuren aus Fernost) oder verfluchten die schmallippigen Rivalinnen, gaben dort unter der letzten Wölbung ihr Foto zum Zerzausen frei. Glücklich torkelten die Schmetterlinge durchs Cannabis und der Tonchef einer Band, die in unserm Studio ein Album aufnahm, raubte im ausrangierten Bulli dem 17jährigen Sänger einvernehmlich dessen Unschuld. Am Ende des dreieckigen Gartens lag das „Dreieck“ und wurde fruchtbarster Punkt und Anbeginn nächster Generationen der späten Jugend, irrwitziger Gedanken, mancher Lieder wohl. Lieder, die vorgetragen am andalusischen, gomerhischen, goatischen Lagerfeuer die gleiche Freude zeitloser Sinnlichkeit sein konnte.

Mir blieb aus der Zeit Erfreuliches und meine Leibesfrucht, gezeugt bei Mondschein nah der jungen Eiche. Ich bin nach all den Jahren eine ganz andere, beschließe ich. Fahre friedlich nach Stunden und Umwanderungen den gleichen Weg zurück. Im Nachbardorf zieht vor mir ein Bauer auf´m Rad, mit einem Eimer am Lenker, eine große Kurve von der Nebenstraße in die Hofeinfahrt, mustert mich durch die Karossenscheibe eingehend, hebt dann geruhsam und wissend die Hand zum Gruß. Wen grüßt er da? Die, die fünfzehn Jahre weg war oder eine ganz andere?

Judith Trapp

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