freiTEXT | Matthias Becher

Styx

Auf der Rolltreppe befinden sich erheblich zu viele Menschen, um die Fahrt nicht als direkten Eingriff in Leas Privatsphäre zu werten. Die von Körperausdünstungen und sich auflösenden Bremsbelägen geschwängerte U-Bahnluft drängt spürbar gegen Fahrtrichtung den Treppenschacht hinauf, geradewegs in Leas Nase. Abartig. Sie wünscht sich, die Treppe genommen zu haben, weiß gar nicht, warum sie es nicht getan hat, und befindet sich nun in einem idiotischen Menschenauflauf, dem das Rechts-Stehen-Links-Gehen-Prinzip offensichtlich fremd ist. Sie ist festgesetzt.

Ihr linker Unterarm liegt auf den schwarzen Gummihandlauf – so konnte sie zumindest noch wenige Zentimeter von ihrem Stufenpartner wegrutschen –, doch aus nicht nachzuvollziehenden Gründen ist die Geschwindigkeit des Handlaufs minimal schneller als die der Treppe, sodass Lea alle paar Meter den nackten Unterarm mit einem leise schmatzenden Geräusch anheben und in eine angenehmere Position bringen muss, bevor ihr Oberkörper so weit nach vorne gezogen wird, dass ihre Nase in der Frisur des Vordermanns landet.

Kurz verschränkt sie die Arme vor der Brust, aber dann ruckelt die Treppe und Lea denkt daran, wie sie als Kind einmal auf einer Kaufhausrolltreppe hinfiel und die metallenen Zähne am Ende sich etwas von ihrem Babyspeck einverleibt haben. Es war eigentlich nur ein kleiner Hautfetzen, aber in ihrem Kinderkopf formte sich dich Sicherheit, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Unbewusst wandert die Hand wieder auf das klebrige Gummi.

Ein Tropfen fällt ihr auf den Arm, Lea zuckt zusammen und schaut reflexartig an die Decke, die im Schneckentempo an ihr vorüberzieht, kann aber keinen Ursprung lokalisieren. Die Flüssigkeit ist irgendwie zu dunkel, fast schwarz. Als Lea sie mit den Fingerkuppen berührt, ist es für eine Sekunde so, als könnte sie den Tropfen als Ganzes verschieben wie Regen auf einem Lotusblatt, erst dann bricht die Oberflächenspannung.

Auf den Zehenspitzen versucht Lea, das Ende der Rolltreppe zu sehen, so lange kann die Fahrt doch nicht dauern. Sie sieht jedoch nichts außer einer schier endlosen Menge von Hinterköpfen, unbewegt und gleich ausgerichtet. Ihr umherschweifender Blick findet wenige Fixpunkte, die Plastikrahmen an den Wänden zeigen alternierend das gleiche Motiv: Dr. Eckart von Hirschhausens neue Glückswortspielfolter auf Tour, zwei Wochen später gefolgt von Chris de Burgh. Beide grinsen debil in dem Wissen, dass sie fürstlich dafür bezahlt werden, in den großen Hallen des Landes den Menschen das zu geben, wofür sie gekommen sind: Durchhalteparolen und die Bestätigung, dass doch alles gar nicht so schlimm ist.

Eine Abweichung von dieser Reihung gibt es an genau einer Stelle, wo auf die Wand zwischen die Entertainment-Klone ein Sticker geklebt wurde. Der Aufkleber sieht aus wie ein Namensschild aus amerikanischen Filmen, in denen jemand zu den Anonymen Alkoholikern geht. Ein blaues Feld trägt den weiß ausgesparten Schriftzug HELLO, MY NAME IS, gefolgt von einem Blanko-Feld. Darauf hat der Urban Artist mehr oder weniger kunstvoll die Buchstaben Styx getagt. Der Aufkleber ist an drei der abgerundeten Ecken beschädigt, konnte jedoch nicht erfolgreich entfernt werden.

Die omnipräsente Aluminiumverkleidung spiegelt das gelbliche Licht der Leuchtstoffröhren und verzerrt die Körperformen der Reisenden. Monströse Schenkel und deformierte Hände, disproportionale Köpfe und weichgezeichnete Konturen bilden ein gespenstisches Wimmelbild im Treppenschacht.

Unruhe dringt von weiter hinten zu Lea und als sie sich umsieht, kann sie gerade noch die Hand wegreißen, bevor eine Person mit hoher Geschwindigkeit knapp an ihr vorbeirauscht. Der Ausbrecher gleitet auf dem schmalen Steg zwischen Handlauf und Wand herunter, doch kurz nachdem er an Lea vorbeirutscht, passiert das Unvermeidliche: Sein Sneaker weicht von der Ideallinie ab und die linke Ferse verkantet am Gummilauf. Er hebt ab, kracht mit dem Kopf an eine von Hirschhausen-Ikone und fällt zurück in die geregelte Bahn der Treppe.

Kurz bewegen sich die Köpfe und Oberkörper der anderen Treppennutzer, während der Gefallene in den kaum vorhandenen Zwischenräumen auf den Boden sinkt. Dann herrschen wieder stoisches Nach-Vorne-Schauen.

Lea kann nicht ausmachen, was mit dem Ausreißer passiert, aber es sieht nicht so aus, als würde sich jemand um ihn kümmern. Gerade ist sie auf der Höhe, an der sein Kopf gegen den die Wand geschlagen ist, Blutspritzer verfeinern das manische Lächeln des Glücksdoktors. Es ist einfach, glücklich zu sein. Schwer ist nur, einfach zu sein, zitiert die Masse unerwartet im Chor und verfällt dann wieder in Schweigen.

Instinktiv drückt Lea den Not-Aus-Knopf, der gerade an ihr vorüberzieht. Die Treppe kommt zum Stehen und das Licht geht aus. Wassersprinkler an der Decke schalten sich ein und innerhalb von Sekunden ist Lea vollkommen durchnässt. Ein Bach bildet sich, der die Stufen hinunterfließt, ihre Ballerinas durchweicht und binnen kurzer Zeit auch ihre Knöchel umspült. Panisch reißt sie den Knopf aus seiner Arretierung. Flackernd gehen die Lampen an, die Rolltreppe bewegt sich wieder und das Wasser, das bei Licht betrachtet die ekelhafte schwarze Flüssigkeit ist, versickert langsam in den durchlässigen Stufen. Fröstelnd schaut sich Lea um, sie ist die einzige, die von der Horror-Episode überhaupt Notiz genommen hat. Sie wischt sich die restlichen Tropfen von den Armen, wringt Haare und Kleid aus, um dann wieder in Gedanken bei dem Gestürzten zu landen, dem ihre Aktion sicher eher geschadet hat.

Sie drückt sich weiter nach vorne, schiebt sich zwischen den regungslosen nassen Gestalten voran, gewinnt nur langsam Raum. Es wirkt, als wollten die Gestalten sie wirklich zurückhalten. Doch immer, wenn sie sich umdreht, sind die Mitfahrer bewegungslos. Lea fixiert den ihr am nächsten Stehenden, baut sich vor ihm auf und schaut ihm direkt in die Augen. Dieser nimmt sie nicht wahr, guckt apathisch durch sie hindurch und blinzelt sehr langsam und regelmäßig. Er stinkt.

Alle haben hier den gleichen Gesichtsausdruck und obwohl sie sich in Statur, Kleidung und Gesichtszügen unterscheiden, sind sie dennoch wie uniformiert. Alle tragen Kopfhörer und wenn Lea raten müsste, würde sie auf Chris de Burgh in Dauerschleife tippen.

Auf dem Treppenboden befinden sich aufgeweichte Pappbecher und Fastfoodreste, die sich so weit auftürmen, dass Lea weniger gehen kann als waten muss. Tauben fliegen wie Aasgeier auf und ab, kreisen unter der Leuchtstoffsonne, suchen nach einem Landeplatz, von dem aus sie die Abfälle ungestört ausweiden können. Die Blicke des Chors richten sich auf das nächste Medizinkaberettplakat, geschlossen intoniert er: Shit happens. Mal bist du Taube, mal bist du Denkmal.

Schließlich erreicht Lea den Verunglückten, der zwar an einer frischen Platzwunde am Kopf zu erkennen ist, ansonsten aber wie die anderen steht und sich nicht weiter abhebt. Das Blut ist bereits geronnen und er hat offensichtlich keine ernsteren Verletzungen davongetragen.

Dann geht ein Zucken durch seinen Körper, erst rebelliert das Zwerchfell, die Schultern zittern, ein Röcheln folgt, dann ein vorsichtiges Husten, das sich in einen regelrechten Anfall steigert. Als es vorbei ist und der Gebeutelte die Hand vom Mund nimmt, hält er eine Münze darin. Kurz schaut er sie an, der Grauschleier vor seinen Pupillen lüftet sich. Seine Hand schließt sich um die Münze und wie auf ein Signal hin, das Lea verpasst hat, heben die Umstehenden ihn hoch, lagern ihn auf ihren Händen und reichen ihn nach oben hin weiter, als wäre er vollkommen gewichtslos, als würde die hochgereckte Faust mit der Münze darin ihn nach oben ziehen.

Lea schaut ihm nach, doch er ist schnell außer Sichtweite und sie kann es nicht ertragen, so stehenzubleiben und in all die stumpfen Augenpaare zu blicken. Also dreht sie sich um und starrt auf den Hinterkopf ihres Vordermanns. Wieder ruckelt die Rolltreppe, doch Lea fühlt sich nicht mehr dazu verpflichtet, den Handlauf zu benutzen. Ihr Körper nimmt die Unregelmäßigkeit unbeteiligt auf, als die Schockwelle der Erschütterung von den Füßen bis in den Kopf läuft, die Zähne kurz aufeinanderschlagen lässt und dann verschwunden ist.

Wie lange ist sie nun schon auf dieser Treppe? Es können Sekunden oder Stunden oder Tage sein. Wie ist sie überhaupt hergekommen? Sie sucht nach ihrem Handy, doch ihr Kleid hat keine Taschen und ihre Handtasche muss von der Flut weggespült worden sein.

Mittlerweile hat sie den Eindruck, dass nicht die Treppe selbst sich bewegt, sondern nur die Wände um sie herum wie eine Leinwand im Loop vorbeiziehen. Immer, wenn die Erschütterung kommt, ist die Leinwandrolle einmal durchgelaufen und beginnt wieder von vorne. Von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, der Aufkleber HELLO, MY NAME IS Styx, an dem drei Ecken abgefetzt sind.

Das kann natürlich Zufall sein, die Sticker sind schließlich dafür gemacht, in größeren Mengen verklebt zu werden. Trotzdem ist Lea sich sicher, dass sie ihn bald wiedersehen wird und macht sich darauf gefasst, die vierte Ecke zu bearbeiten, um ganz sicher zu gehen. Sie schwört sich, die Plakate zu zählen und die Abstände zwischen den Aufklebern, aber nach dem achten von Hirschhausen verliert sie den Überblick, als der Chor murmelt: Du willst anders sein? Andere gibt es schon genug.

Es gibt keine Exit-Strategie. Erst einmal abwarten. Ein Tropfen schwarzes Wasser fällt auf ihre Schulter, sie nimmt es hin. Dann wird Lea bewusst, dass auch sie Kopfhörer trägt, aus denen 80s-Rock erklingt: Don’t pay the ferryman / until he gets you to the other side. Und alle drei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ruckelt die Treppe und ein neuer Durchlauf beginnt.

 

Matthias Becher

 

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freiVERS | Martin Peichl

Orpheus in Tschernobyl

/1/
an sonnigen Tagen, bei ausgeschaltetem Licht
sind im Reaktor von oben herabfallende Lichtsäulen zu sehen
der Sarkophag: ein Leichnam, der noch atmet
Menschen, die sich in Kraftwerke verwandelt haben
(als sie sterben, wird das Krankenhaus renoviert)
ihre Körper: zerfallen (ein lauerndes Leuchten in ihren Augen)

/2/
eine Katastrophe der Zeit
ein noch ungedeutetes Zeichen
die Zerstörung des normalen Lebens
was bleibt: eine lebenslange Vorsilbe
unsichtbar, lautlos, ohne Geschmack
Radioaktivität, die sich nach Körpern sehnt

/3/
der kollektive Suizid der Feuerwehrleute
sie betreten eine undurchschaubare Welt
begraben Erde: in der Erde
für ein Leben im bankrotten Raum
Dinge und Landschaften ohne Menschen, Wege ins Nichts
ein Besetztzeichen, das in den Telefonleitungen pocht

/4/
etwas Unsichtbares liegt auf der Erde
und kriecht hinein
hängt in der Luft, in den Straßen
sie sagen: Dunkelheit ist nichts anderes als
die Abwesenheit von Licht
eine Substanz mehr, die wir nicht verstehen

/5/
Menschen, die wie Sandsäcke
auf den Reaktor geschleudert werden
sie waschen die Häuser
sie kämpfen mit Schaufeln gegen das Atom
sie werden sterben: den Tschernobyl-Tod
DAS IST KEINE ÜBUNG

/6/
die Kinder spielen:
nicht EINKAUFEN oder SCHULE,
sie spielen KRANKENHAUS
und wenn die Puppen sterben
werden sie mit einem weißen Tuch bedeckt
(und das Spiel beginnt von vorne)

/7/
Tschernobyl ist eine Mondlandschaft
ein Museum ohne Eintrittskarten
niemand hier braucht Science-Fiction
die Menschen haben sich in Astronauten verwandelt
in wandelnden Staub
ihre Tage sind Mondlandungen (ohne Fernsehübertragung)

/8/
wir haben Angst: vor Schnee,
vor dem Wald, Angst vor den Wolken,
vor dem Wind, vor der Physik,
in die wir verliebt waren
(wenn die Menschen weg sind,
vergeht auch die Zeit anders)

/9/
die Sperrzone als Magnet
wir stehen vor einer Kulisse
wir fotografieren (etwas stimmt nicht mit der Belichtung)
haben die Apokalypse im Sonderangebot gekauft
wir zahlen SARGGELD: eine Entschädigung dafür,
dass wir leben

 

Martin Peichl

 

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freiTEXT | Marcus Jensen

Buch Fes

Es hatte nun die Welt einerlei Zunge. Das Tor auf dem Schirm aber stand wüst und leer. Miguel Varoum ließ Mauszeiger und Buchstabenbrett sprechen, und das Volk Fes antwortete und verkündete ihm: Siehe, dein Name ist unversehrt, und dein Scheidewort gehorcht unseren gemeißelten Gesetzen. Aus Name und Scheidewort begab sich also der Zugang, und er war gut. Miguel Varoum fand Herberge und machte sich die Einstellungen untertan, seine Zeitleiste war gekommen. Er befreundete sich mit Giselher Okumbo, und Giselher Okumbo befreundete sich mit Zazie Thornsdottir, und Zazie Thornsdottir befreundete sich mit Kwame Li Feng, der da schaffte beim Schreibtisch von Halga Bmbam im Schweiße seines Angesichts, und Kwame Li Feng befreundete sich mit Are Friends, dem sein eignes Antlitz gefiel, und Are Friends befreundete sich mit Brünhild da Silva, die hatten vierundvierzig gemeinsame Freunde und waren ein Fleisch und schämten sich nicht. Brünhild da Silva wollte sich mit Ivan Singh befreunden, der aber verwarf ihr Sinnen. Ivan Singh bildete sein Linsengericht ab und gab es hinein, und es gefiel sieben Personen. Zazie Thornsdottir gab Unliebsames hinein und wart deabonniert von Miguel Varoum, der sonst keiner Frucht widersagte und seinen gereckten Daumen schließlich nun aber auch Otta Serpens gewährte, die da hineingegeben hatte: Lobet das Volk der Dviter und ihre zweihundertachtzig Zeichen.

Dies war den Erzengeln unter dem erlassenden Firmament ein Gräuel, auf dass sie die Ihren in die Finsternis trieben. Das Volk Fes und all seine Vervielfältigungen wurden unstet.

Es war ein großes Heulen und Zähneklappern.

Nacht und Tag schufen einen Anstupser.

Da ereigneten sich Neubeginn und Scheidewortabfrage.

Und Zazie Thornsdottir, die einst deabonniert wart, sprach: Meine Befreundeten, ihr sollt nicht länger auf euren Bäuchen kriechen und Erde fressen, denn Miguel Varoum wird verflucht sein siebenundsiebzigmal. Dies belohnten die Erzengel. Und Zazie Thornsdottir gab dreihundertdreiundfünfzig Preisungen oder Verdammungen des Wetters hinein, und sie erkannte Giselher Okumbo, der fünfhundertfünfundsechzig bewegte Bilder von kleinen behaarten Tieren hineingegeben hatte, und sie schrieb die Beziehung in ihre Zeitleiste, und alles, was Odem des Lebens hatte, fand daran Wohlgefallen. Zazie Thornsdottir und Giselher Okumbo machten einen Kasten, den nannten sie Seite und füllten hinein die Geschlechter aller ihrer derer aus dem Volke Fes, die niemals den trügerischen Reizen fremder Netzwerkungen gefolgt waren, und es gefiel den Erzengeln, auf dass sie die Wahren mit blauen Haken versorgten als Zeichen ihres Bundes und den Treuen frohlockende Sticker schenkten, funkelnd und gelb.

Miguel Varoum musste achthundertdreiundneunzig schmerzende Stürme des Unrats erdulden. Aber seine Reue war tief, indes er rief: Was habe ich getan? So wurde er fromm und hütete sich fortan. Und Zazie Thornsdottir verzieh ihm und fügte ihn hinzu, und prachtvoll anzuschauende Antwortranken vieler Freunde sprossen unter ihren Eingaben gleich den Wasserfällen von Kom’ndahre.

Nun begab es sich, dass das Volk der Dviter sich zusammenrottete im Tale Silicohn und auf Rache sann und auszog, doch die Erzengel trieben ihm das Volk Gugelpluss zu, da fand ein Gemetzel statt nahe der Senke Lingt-Inn, und beide Völker rieben sich auf bis in die dritte Generation, was gefiel dem Volke Fes, und es erhob sich großer Jubel, na und so weiter.

 

Marcus Jensen

 

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freiVERS | Nicola Quaß

Die Gestalt einer Mücke

im Wind. Der Tag fällt
in die Wiese. Wolken zerbrechen
das Licht. Wir streifen durch benachbarte Gärten.
Aus Häusern tritt ein Echo und erschreckt
die glitzernde Stille.
Adler kreisen
ohne Gewicht. Im Schlaf wäre jetzt alles
im richtigen Abstand. Die schwarzen Töne
des Abends, das farblose Wort. Wie Ohren
den Gesang der Tannen schlucken,
und etwas ohne Mühe vergeht.
Später: Stillstand unserer Körper
auf fotografiertem Papier.
Du, mit fremder Stimme
im Gesicht, erstarrt
im untergehenden Licht.

 

Nicola Quaß

 

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mosaik30 - heute wird gegrillt

mosaik30 - heute wird gegrillt

Verlassene Körperhüllen
  • Johanna Hühn – Ich könnte mich entscheiden,
    die Wiese als Bibliothek zu betrachten
  • Lisa James – Schläfrig satt
  • Marianna Lanz – nackt
  • Luisa Nöllke – 34 tote Rehe
  • Andreas Hippert – Walden
  • David Misch – Waldläufer
  • Manfred Kern – Zum Kuckuck
Keine Tischmanieren
  • Stephan Pfalzgraf – die allegorien
  • Roman Markus – Wurst im Glas
  • Viktoria Edler – inbetween
  • Barbara Rieger – Binge Loving
  • Christine Steindorfer – Als der Schreiber Hans mit dem Traktor
    fuhr und ins Nachdenken kam
Wie Fluchttiere
  • Anne Klapperstück – Die Unmöglichkeit einer Mutter
  • Luka Leben – Verirrt
  • Dorina Marlen Heller – Miniaturen eines Wunders
  • Anna Stadler – Wo die Katzen leuchten
  • blume (michael johann bauer) – auf dem trocken=nassen weg
  • Aline Wollmer – Hinter den Dünen in der Kuhle

BABEL

  • Zoltán Lesi – Cipökereskedö/Schuhhändler (aus dem Ungarischen von György Buda und Xaver Bayer)
  • Dino Pešut – Gej Kultura 1-10/Gay Kultur 1-10 (aus dem Serbo-Kroatischen von Maša Dabic)
  • Sladana Simrak – Kada naide Naculjim uši/Wenn er vorbeikommt, spitze ich die Ohren (aus dem Serbo-Kroatischen von Jelena Dabic)
  • Ana Ristovic – U Prolazu/Im Vorübergehen (aus dem Serbo-Kroatischen von Marko Dinic)

Kunstbeilage von GRUPPE 19

[fœjətõ:] / Kulturszene

  • Interview mit Smashed to Pieces
  • Rezensionen: [kon]paper No. 5, moor magazin 6, Hafenlesung 18, ‚wo warn wir, ach ja:‘ (Robert Prosser, Christoph Szalay), ‚Kintsugi‘ (Miku Sophie Kühmel)
  • Bericht vom Vernetzungstreffen unabhängiger Literaturzeitschriften
  • Kommentare/Kolumnen von Raffael Hiden, Peter.W.

>> Leseprobe & Bestellen <<


freiTEXT | Stefan Reiser

Verkaufstalent

Ein darstellender Künstler, der sich durch ständiges Hinterfragen seiner künstlerischen Tätigkeit das Leben unnötig schwer machte, lernte eine bildende Künstlerin kennen, deren größte Sorge nicht auf die Qualität ihrer Arbeit bezogen war, sondern allein auf deren Vergütung. Hingegen war sein Selbstbewusstsein insbesondere auf die Tatsache gestützt, dass er für seine Kunst - ob sie ihm nach eigenem Urteil nun gelungen war oder nicht – immer einen Abnehmer gefunden hatte, mühelos. Eine Zusammenarbeit schien also folgerichtig. Schon bald brachte er die Künstlerin in eine Situation, von der sie nie zu träumen gewagt hätte: Beinahe täglich kamen Offerten von privaten Sammlern, renommierten Galerien und Auktionshäusern in London und New York; die Nachfrage nach ihren Werken überstieg das Angebot um ein Vielfaches; Kritiker bezeichneten die Preisentwicklung als überraschend, Neider die Künstlerin als überschätzt. Grundlegend für die Verkaufserfolge des darstellenden Künstlers war - das bestätigte sich bei jedem Geschäft -, dass er von den Werken der Künstlerin, ja von bildender Kunst im Allgemeinen, nicht die geringste Ahnung hatte.

 

Stefan Reiser

www.stefanreiser.com

 

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freiVERS | Mara Wolf

Verhältnisse

Wie verhält es sich nun,
wenn ein Verhältnis darin besteht,
dass das Unterbrochene
unverhältnismäßig
auf unbestimmte Zeit vertagt wird?

Wie soll jemand sich verhalten,
wenn ein unbestimmtes Verhältnis
eintrifft,
vor dem Hintergrund des Untenstehenden,
wenn doch der Zeitpunkt auf unbestimmt lautet?

Jemand ging auf unbestimmt fort
Und säte Granatäpfel im Süden,
Und weil es so gut lief
Gleich Sanddorn im Norden.

Ein anderer streckte sich aus
Seiner bestimmten Größe nach
Und als er aufstand
Erblickte er schwangere Felder.

Und fragte den anderen,
Wie es sich nun verhielte,
Da er von den Früchten aß,
jetzt wolle er noch mehr davon.

Und der zweite meinte unverblümt,
er sei ja nur der Säer und nicht der Händler,
Habe es jetzt mit Glyphosaten aufgenommen
Und hätte selbst bestimmt nicht viel davon zu geben.

 

Mara Wolf

 

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freiTEXT | Sebastian Franz

Leipheim-West

Stahlgraue Sonnenstrahlen brechen an der Wohnblockwand. Dein Red-Bull-geschwängerter Atem kondensiert in der Morgenluft, und wir teilen noch den letzten Rest, um auszuharren. Zwei Schluck Smirnoff, drei Züge Luckies, alles was wir haben. Das war damals schon so. Damals sind wir oft hier hergekommen. Damals waren die Schaukelbretter noch aus Holz. Doch ihr Abstand beträgt noch immer exakt zwei Armlängen. Dein Rechter plus mein Linker. Im Wind kann ich kaum hören, was du mich fragst, deshalb lächele ich nur. Du lächelst zurück. Wir sind uns einig. Das war damals schon so.

Damals, als du Jahrgangsbeste warst und dein Vater mich fast durchs Abi hat fallen lassen. Als wir doch nicht zusammenkamen, weil du mich auf Abschlussfahrt mit der Schwedin erwischt hattest und ich so zum Glück niemals mit diesem Bastard von Mathelehrer gemeinsam frühstücken musste.
Alva.

Wie so oft nach der Night Lounge, sitzen wir jetzt auf unserer Schaukel, umgeben von ockermelierten 24-Parteien-Blocks und der Südumfahrung Leipheims. Zwischen alter US-Air-Force-Grundschule und ehemaligem Mannschaftsunterkunftsgebäude 5, wo alles zum ersten Mal geschah: Knutschen, rauchen, kiffen, saufen, ficken, kotzen. Und du warst ein jedes Mal dabei.

Ich stoße mich vom Boden ab und frage mich, ob das noch Sand ist oder mittlerweile eine Melange aus Dönerfleisch, Galle und Wodka-O.
…Wenn wir kommen, bist du Opfer tot… scheppert aus deinen Handyboxen und ich muss grinsen. Scheiß auf Schule, scheiß auf Uni, das ist wie Fahrradfahren, nein, wie zu Fuß zu gehen.
…Ich brauch´ nur ein Blatt Papier, um in der Juice zu stehen… Ich kenne noch jedes verdammte Wort. Ich kenne verdammt nochmal dich und könnte heulen vor Romantik.

Ein altersschwacher Transporter müht sich am Leipheim-West-Schild vorbei auf die Südumfahrung. Leipheim-West. Warum ist das eigentlich im verdammten Süden Leipheims? Heißt ja auch Südumfahrung und wir Gymnasiasten haben die alten Kasernen früher die Southside genannt. Außerdem ist das hier einfach Süden - wie Süden auf einem scheiß Kompass. Wer denkt sich überhaupt einen Namen aus, für die Kreisverkehrsausfahrt der Umgehungsstraße einer 7000-Einwohner-Stadt? Drecks CSU. Nachdem die Kupplung ein letztes Mal stottert, höre ich dich zwischen zwei Zügen sagen: „Du hattest es mir versprochen. Du bist echt ein Arschloch.“

Toni hatte mir in der zwölften Klasse auch was versprochen. Dass er das Abi mit mir durchzieht und dann weg von hier. Das Koksen sei ein Ausrutscher gewesen. Und jetzt? Ich kann genau sehen, wie blaues Licht durch die versifften Vorhänge im vierten Erdgeschossfenster wabert, male mir aus, wie seine Körperhülse vor der Playstation verkommt. Ein Leben zwischen Steinofen Original und Methadonstelle. Der Junge hat mal Jugend forscht gewonnen, also hier in Bayern. Trotzdem konnte man auf sein Versprechen nur soviel geben, wie auf deine Einladung nach München, in eure Giesinger Mansardenwohnung, die zumindest groß genug für das erste Kind sei, wenn dein Consultinghurensohn nicht mehr jede Woche auf das Projekt in Düsseldorf muss.

Im Augenwinkel erkenne ich Gerda, die ihre erste Runde dreht.
„Da ist kein Pfand drauf“, rufe ich.
„Dann räumt euren Scheiß selber weg!“
„Leck mich!“
Die Alte flucht etwas in die letzten Nebelfetzen und verschwindet dann irgendwo.

Glasklare Sonnenstrahlen wärmen die Wohnblockwand. Wir kennen uns seit der ersten Klasse, hassen uns seit der ersten Klasse, lieben uns seit der ersten Klasse und ich frage nur:
„Kommst du nächstes Jahr wieder aufs Klassentreffen?“
„Nur, wenn du mich nicht küsst.“
„Versprochen.“

 

Sebastian Franz

 

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freiVERS | Leontine Köhn

Supermarktenttäuschung

Morgens reflektieren meine lackierten Nägel
{hellblau wie der Himmel}
die Frühsommerstrahlen.
Ich frage mich wann er kommt,
um die Kälte in Dir abzuholen.
{seit ein paar Wochen bist Du so still geworden}
Im Supermarkt,
zwischen den Sonderangeboten,
kann ich kein Weichspülmittel fürs Herz finden.
{meine Tasche wäre zu klein gewesen}

 

Leontine Köhn

 

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mosaik28 - in Bildern

Die 6e des Musischen Gymnasiums Salzburg hat sich künstlerisch mit der aktuellen mosaik28 auseinandergesetzt. Aufgabenstellung war, sich einen Text aus der Zeitschrift auszusuchen und bildnerisch darauf zu reagieren. Eine Auswahl der dabei entstandenen Werke dürfen wir euch vorstellen. Und weils so schön ist, gibt's für die von euch, die grad keine Printausgabe bei der Hand haben, das PDF kostenlos dazu:

Download mosaik28 (PDF)

 

1: Nelly Ebert zu ‚Wut‘ von Sophia Fritz

 

2: Nelly Ebert zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

3: Benedikt Ziegler zu ‚Die sieben Todsünden - Lust‘ von Sophia Fritz

 

4: Hannah Laznia zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

5: Johanna Gamper zu ‚Hotelstaub‘ von Katharina Wulkow

 

6: Johanna Gamper zu ‚Der Mantel‘ von Marina Büttner

 

7: Tobias Hauer zu ‚Friedrichsblau‘ von Svenja Reiner

 

8: Noah Knapp zu ‚Abschluss‘ von Steffen Kurz

 

9: Klaudia Sobota zu einem Zitat im Interview mit Versatorium/Helmut Ege („Es entsteht beim Übersetzen ein Text, der vorher nicht da war.“)