freiTEXT | Thomas Büch

Erinnerung an eine Insel

1.

Ringemeier saß im Nachtbus und bestand beinah vollständig aus Heimkehr. Dabei entzog sich ihr gerichtetes Existieren durch den Ortswechsel jeder Sehnsucht. In Ringemeiers Vorstellung war die Dunkelheit (von Sternen einmal abgesehen) ein vollkommen durchsichtiges Objekt in den weiß behandschuhten Händen ältlicher Pärchen, welche niemand mehr als Eltern beschrieb. Mag sein, dass Mütter, lange in der offenen Tür stehend und von einer gewaltigen Schafherde umgeben, mit nachtblinden Augen auf die ausbleibende Tochter warten. Mag sein, dass die Probleme beginnen, wenn die gute Erde in all ihrer Kugelförmigkeit sämtliche Grenzen an die Endlosigkeit verliert. Mag sein, dass spät nur eine Kategorie von Zeit darstellt. Ringemeier fuhr nach Hause. Sie war größtenteils keine zwanzig Jahre alt.

2.

Schneidinger liebte für sein Leben an R.'s Haut einzig und allein ihre Muttermaligkeit und obwohl man annehmen darf, dass es sonst niemanden auf dieser Welt gab, dem er ein Gefühl entgegenbrachte, das Zuneigung zumindest annähernd ähnelte, sprach er nie von Haut, sondern immer bloß von Integument, so sehr war er Gefangener einer Sprache, die das Verletzlichsein als Konzept des Miteinanders leugnete. Es kann daher kaum wundernehmen, dass er letztlich sogar in weitaus höherem Maße seiner Sterblichkeit zum Opfer fiel, als dies üblicherweise Angehörigen des männlichen Geschlechts möglich ist.

 

3.

In dem kleinen, ein bisschen verwilderten Gärtchen unserer Protagonistin lebte aber noch viele Jahre ein Maulwurf mit einem siebenzackigen hellen Fleck auf der Stirn. Sie hätte ihn gerne einmal einem ihrer Besucher gezeigt, nur kamen die immer erst in tiefer Nacht, und musste daher dieses pelzige Ding auch einer sehr überschaubaren Miniaturwelt zugehörig erscheinen, so hätte doch kein Mensch je die zum Gestreicheltwerden geschaffene Geschmeidigkeit seines Fells vergessen mögen oder die glücksverlorenen Quieklaute des Winzlings, wenn er sich am Köpfchen kraulen ließ.

4.

Wir alle sind Teil einer vollkommen linear erzählten Geschichte und falls es uns zuweilen auch so vorkommen mag, als bedürfe unsere Flüchtigkeit eines vielstimmigen Chores von Chronisten, wollen wir gleichwohl nie der Kränkung anheimfallen, sofern uns das Gegenteil bewiesen wird.

5.

Es dämmerte schon sehr zum folgenden Tag hin, als der inzwischen arg ramponierte Bus in die Hofeinfahrt einbog. Zu solch exzentrischer Besuchsstunde hielt sich das Empfangskomitee in engen Grenzen, aber ein paar Schafe standen herum. Manch einer wäre ob der Begrüßung durch spärliche Blöklaute und vereinzelte neugierige Blicke enttäuscht gewesen, Ringemeier indes sprang lachend aus dem Führerhaus, und am Himmel leuchtete der Morgenstern aus dem ungeheuren Licht seiner Möglichkeit.

 

Thomas Büch

 

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