freiTEXT | Maik Gerecke
Alles auf Null
Ich musste einfach raus. Raus aus dem Alltag, raus aus Berlin. Ich liebe die Stadt, keine Frage, aber welche Beziehung hat bitte jemals zu viel Nähe vertragen?
Deswegen kam der Auftrag gerade richtig. Es ging um ein »Schloss«, wie die Eigentümerin es nannte, für das sie leider bis nächste Woche schon ein Gutachten bräuchte. Geld spiele keine Rolle. Mein Kollege Frank hatte die Nase gerümpft und »Dit is ja fast in Polen« geseufzt, aber ich sah darin sofort die Gelegenheit. Deshalb übernahm ich das für ihn opferte der Firma heldenhaft mein Wochenende. Gleich gegenüber vom Objekt liegt ein alter Getreidespeicher oder so was, den man zu einer Art Herberge umfunktioniert hat. Mit Kneipe unten drin, perfekt also. Ich nahm mir ein Zimmer und verließ am Freitagmorgen die Stadt, nichts ahnend, dass dieser Zufall nicht so glücklich ausfallen sollte, wie es den Anschein erweckte.
Das Schloss ist in miserabler Verfassung. Mauerwerk und Fundament sind gerade noch zu retten, aber der Wald nagt schon daran. Insgesamt ist der Bau so marode, dass die Sanierung mehr kosten würde als der Neubaus. Zudem hat es sich eine beachtliche Population brauner Langohrfledermäuse unter dem Dach gemütlich gemacht.
Am Abend nach der Begehung sitze ich gegenüber auf der Terrasse und beobachte, wie eine rot-braun getigerte Katze zielsicher um die Schlossfassade schleicht. Von hier aus ordne ich eher in die Kategorie Altes Gutshaus, wofür auch die Bauinschrift an der Front spricht.
»Willste noch eens?« reißt mich der Kneipier aus den Gedanken und zeigt auf mein leeres Bier. Ich nicke, reiche ihm das Glas und frage bei der Gelegenheit, was er mir über das Gebäude erzählen kann. Er lächelt müde.
»Dit Ding hat mehr Regime jesehen wie icke«, schmunzelt er. »Ende 17. Jahrhundert gebaut, um 1900 rum komplett-erneurt, dann: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazis, Osten, Kapitalismus. Und den Klimawandel überlebt’s auch noch. Wett ik drauf.«
Ich stelle gern solche Fragen unter Ansässigen, will Entscheidungen über ihren Lebensraum nicht allein der Willkür von Hausbesitzern überlassen; und es ist auch vorgekommen, dass ich ein Objekt der Denkmalschutzbehörde gemeldet habe. Oder dem Naturschutz.
Ich bedanke mich für die Auskunft und der Kneipier zieht ab. Zu meiner Überraschung sind die Tische gut besetzt und ich fühle mich fast etwas einsam so allein an meinem. Alles lacht und erzählt und als mein Blick über all die fremden Gesichter hinweggleitet – sehe ich sie plötzlich. Eine Familie mit zwei Kindern betritt gerade die Terrasse und setzt sich an ihren Tisch. Herzliche Umarmungen, Wangenküsschen, Gelächter. Die Szene zieht nur kurz meine Aufmerksamkeit auf sich, aber mehr braucht es nicht, um sie zu erkennen. Ihr Anblick lässt mich schockgefrieren. Wie kann das sein! Sie? Hier? In diesem Kontext?
Sie sieht anders aus als damals, trägt Make-up, hat sogar eine richtige Frisur. Trotzdem genügt ein Blick in ihre Augen und all die bitteren Gefühle, die ich über Jahre so mühselig in irgendeine finstere Ecke meines Unterbewusstseins verfrachtet habe, sind binnen Sekunden wieder da. Als wären sie nie weg gewesen.
Sie heißt Marla und sie ist der erste Mensch, dem ich im Leben wirklich begegnet bin. So beschreibe ich es bis heute, wenn ich von der »guten alten Zeit« erzähle. Kennen gelernt haben wir uns in der Welt der linken Hausbesetzer, auf einem Konzert, das jemand in seinem Wohnzimmer veranstaltete. In der Brunnenstraße 183 war das. Marla wohnte damals in der Liebig13, ich in der Köpi, und wie alle unsere Freunde, glaubten wir fest, dass Anarchie und Kommunismus eine Zukunft hätten.
Wir entdeckten schon nach drei, vier Sätzen unsere gemeinsame Leidenschaft für alte Häuser. Es dauerte keine Stunde und wir waren ein Team. Nicht mal eine Woche verging, bis wir ohne große Worte klar kommunizieren konnten: Marla zeigte mir ein Foto, zum Beispiel vom Stadtbad Lichtenberg, ich sagte: »Sonntag?«, überlegte, ob ich nochmal meinen Dealer – aber sie sah meinen Ausdruck und sagte: »Hab noch genug« und ich sagte: »Na gut, dann kauf ich den Wein.«
Wir bereisten eine Berliner Ruine nach der anderen, verbrachten ganze Nächte darin, studierten ihre Geschichten, erzählten sie weiter bis ins 23. Jahrhundert. Wir fühlten uns wohl, so seitab der Welt und in den Überresten vergangener Zeiten spukend, hatten keine Angst, wenn es dunkel wurde. Wir waren die Gespenster, die dort ihr Unwesen trieben.
Ein Abenteuer, an das ich mich bis heute gerne erinnere, ist das Haus der Statistik am Alexanderplatz. Unser mit Abstand größter Coup. Es war an Silvester und wir hatten über hundert Euro im Baumarkt gelassen – ein Seil, ein Brecheisen, Schutzhandschuhe – hatten der Kassiererin dieses offensichtliche Jungeinbrecher-Starterkit aufs Band gelegt und die hatte uns mit erhobener rechter Augenbraue angestarrt, bevor sie schweigend die Preise in die Kasse tackerte.
Als wir uns später seitlich an den Flachbau heranpirschten, war es längst dunkel und in der Ferne explodierten Böller und Raketen, während wir im Schutz der Büsche ein Fenster aufhebelten. Es dauerte ewig, bis wir drinnen waren, aber sobald unsere Füße auf dem alten Büroteppich standen, tanzten und kicherten wir wie zwei Grundschulkinder. Unser Ziel war das Dach des zweiten Turms von wo aus man direkt auf den Fernsehturm schaut. Der Weg dahin führte uns durch dunkele Kellergewölbe, über Möbelberge, wir kletterten aufs Zwischendach, drüben wieder rein. Ständig trafen wir auf Hindernisse, mussten umkehren, einen anderen Weg suchen. Aber wir gaben nicht auf. Wir gaben nie auf, wenn wir zusammen waren.
Nach über einer Stunde endlich im zehnten Stock des zweiten Turms angekommen, verzweifelten wir beinahe an der Suche nach dem Dachaufgang. Wir irrten durch verwüstete Flure, Klos und Büros und vor den Fenstern explodierten Raketen im Sekundentakt, tränkten die Dunkelheit in jede Farbe des Regenbogens. Bilder wie aus einem Traum. Und als wir endlich das Dach betraten, war das ein Gefühl für das ich bis heute keine passenden Worte finde. Unter uns die Stadt, die Menschen klein wie Insekten, gegenüber der majestätische Fernsehturm und um Null Uhr ein Feuerwerk – buchstäblich aus der ersten Reihe – zu dem wir Sekt aus Plastikbechern tranken. Dort oben war man jenseits der Dinge. Sah der Realität nur zu. Du warst, was du bist, ohne Angst vorm Gestern oder Morgen. Nicht mal nach Drogen verlangte es uns, wir vergaßen sie einfach. Stattdessen teilten wir jedes letzte Geheimnis, von dem man wirklich nie gedacht hätte, es jemals irgendwem zu erzählen. Alle Grenzen waren offen und wir so high von dieser Nacht, dass wir beschlossen im neuen Jahr alles auf Null zu setzen. Es besser zu machen als jemals zuvor. Was immer das bedeuten mochte.
Etwa zwei Jahre nachdem Marla verschwunden war, krempelte ich mein Leben komplett um. Ich machte unsere Leidenschaft zu meinem Beruf und wurde – Baugutachter. Genug gekämpft, dachte ich, genug geopfert und gescheitert. Das Kapital spekulierte weiter die Welt zugrunde, schluckte unaufhaltsam ein Hausprojekt nach dem anderen, renovierte und kernsanierte ihre Frei- und Vergangenheiten davon und ich – zog in eine Schöneberger Altbau-Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 65m², Dielenboden und Stuck an der Decke.
Und jetzt – jetzt sitzt sie einfach da, Marla, und ich kann nicht anders, als zu starren. Irgendwann bemerkt sie meinen Blick und erkennt mich sofort so wie ich sie vorhin, was ihren Gesichtsausdruck in sich zusammenfallen lässt. Das Tischgespräch zupft von rechts und links an ihr und sie bemüht sich zu tun, als wäre nichts. Dabei schaut sie ständig heimlich zu mir rüber. Ähnlich wie damals in der Brunnenstraße.
Nach 15 Minuten Augenpingpong steht sie auf. Sie verlässt ihren Tisch und läuft Richtung Tresen, aber kurz bevor sie im alten Getreidespeicher verschwindet, wirft sie mir diesen kurzen Blick zu, den ich sehr gut kenne. Und ich stehe auf, um ihr nachzulaufen.
Im Jahr nach dem Dach wurde dann die Liebig13 geräumt und ab da ging’s steil bergab. Marla zog zu mir in die Köpi und ich verlor kurz darauf meinen alten Job. Wir verschmolzen in diesem Jahr, waren ohneeinander nicht mehr vorstellbar. Manchmal waren wir tagelang unterwegs, tranken und koksten uns durch Bars und Clubs, zerstreuten uns danach und wussten Tage-, mitunter Wochenlang nicht, wo der andere war. 2014 starb Marlas Großmutter und hinterließ ihr eine Geld. Viel Geld! Marla ergriff die Gelegenheit und lud mich ein mit ihr auf Reisen zu gehen. Sie wolle raus, meinte sie. Raus aus allem. Erstmal Europa, dann mal sehen. Es wurden unsere beste Zeit seit Langem. Jeden Tag eine neue Stadt, ein neues Land oder Lost Place irgendwo in Europa.
In Portugal dann, mitten in Lissabon, verschwand Marla. Kein Abschiedsbrief, kein Warum, nichts. Typisch Marla. Nur ein paar Hundert Euro auf dem Nachtisch. Ich respektierte ihren Wunsch, fuhr ein paar Tage später nach Deutschland zurück und sah sie nie wieder.
Als ich an der Theke vorbei zu den Toiletten gehe, steht Marla schon da und wartet. Sie sieht mich an, schüttelt den Kopf, zieht die Schultern hoch und ich antworte indem ich mit dem Arm in Richtung Schloss zeige. Marlas Augenbrauen sagen: War klar, dass wir uns so oder so ähnlich wiedersehen. Und ich nicke: Allerdings. Sie seufzt und ihre Augen sagen: Tut mir leid, du kennst mich ja, manchmal bin ich einfach weg; und meine Mundwinkel antworten: Weiß ich doch, und meine Handgeste sagt: Schon OK. Dass sie nicht mit mir rüber ins Schloss gehen wird, habe ich schon verstanden und auch, dass sie noch eine Weile hier bleiben will, deswegen frage ich jetzt laut: »Neu bauen oder Denkmalschutz?« und zeige Richtung Schloss.
Ihre Augen halten an mir fest, wie damals immer, und ich weiß genau, was sie jetzt denkt und fühlt und warum und was sie gleich sagen wird.
»Denkmalschutz«, sagt sie.
Ich nicke und lächele.
Dann gehe ich hoch und packe meine Sachen.
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Der Text entstand in einem Literaturworkshop im Rahmen des Projekts ‚Und seitab liegt die Stadt‘ des LCB Berlin. Er wird in Kürze zusammen mit anderen in der Anthologie ‚Ich muss hinaus. Die Stadt ist eine Gruft‘, herausgegeben vom Ökospeicher e.V. Wulkow, erscheinen. >> Nähere Infos <<
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freiVERS | Eva Brunner
alltag (auszug)
I.
Vokabellisten-Ping-Pong
in beiden Spalten eine Fremdsprache
doch die Mannschaften sind verwandt
so dass deine Puste reicht, mein Kind
II.
von meinem Glasbalkon sehe ich die vielen Glasbalkone gegenüber
so wie ich früher stundenlang vor dem Puppenhaus aus Holz saß
hier ein Stuhl, da eine Pflanze, ein Paar redend rauchend
ein Kind mit Ball und Zelt zum Verstecken, ein Rennrad parkt
auf der Loungegruppe wechseln die Gäste, wird auch mal laut gelacht
am besten gefällt mir der Balkon, der meinem am ähnlichsten ist
doch etwas verrücken, kann ich nur in meinem eigenen Kasten
weiß nicht, wie mein Leben von der anderen Seite aussieht
für eine Kaffeelänge haben alle Sonne
V.
Schreiben abwägen gegen andere Handlungen
Länder und Entfremdungen vermessen
hier und da einen Punkt setzen, Stimmung formen
immer wieder Zeiten und Kräfte verschieben
all die Linien, dann wieder hoffen
VII.
sitze im Bett und arbeite
plötzlich auf Augenhöhe
über dem Waldrand
läuft eine Gürteltierherde
eins nach dem anderen grüßt
abendliches Vorlesen
in der großen Fensternische
spektakuläre Mittsommerwolken
wir sind in einem 3D-Film
und uns vollkommen einig
draußen über dem Januarschnee
bricht ein Vulkan aus
steigt seine orangene Säule auf
bevor es gleich dunkel wird
wir uns wieder Mühe geben
VIII.
immer häufiger schiebt sich das Rauschen vor
Begleitton zwischen Wollen und Loslassen
laute Angst und leise Müdigkeit
liegen auf zerknautschten Kissen
versuche die Sprachen glatt zu streichen
hänge doch schau wie ruhig die Pflanzen heute
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freiTEXT | Sophie Schagerl
Friseurbesuch, abgeschnittene Enden
Draußen schwimmen die Fische ums Aquarium, lese ich. Draußen schwimmen die Fische ums Aquarium. Bei jeder Rückkehr schrumpft die Stadt zu einem Kloß unter dem Küchentisch zusammen, so weit habe ich mich gefühlt. Da ist etwas, das ich nicht weiß, um das ich nie Bescheid wissen werde, es ist die Gemütlichkeitslage, wo versteckt sie sich unter all den Übermalungen an der Wand?
Ich trete aus der Tür. Hier bin ich, bin ich, bin ich, mich sehen all diese Menschen, die ich sehe, wie sie ihre Leben in Girlanden verwirbeln ein Zirkuszelt aufstellen mitten auf der Einkaufsstraße, die über meinem Kopf Loopings schlägt, während ich gehe und an meine überanstrengten Beine denke. Ich fühle meine Oberschenkel, immerhin hier ist mein Körper er wird gesehen wird begutachtet und für anders befunden. All die Girlandenmenschen sehen mich und denken, diese Beine sind nicht meine nicht ihre nicht eure sie sind dort, wo die Girlanden entwirrt werden, nichts davon gehört zu meinem eigenen Wirrwarr.
Eine Tür fällt hinter mir zu, ich lasse meine Haare anfassen, jemand schneidet mir über meinem Gehirn etwas ab und ich schaue leicht nebelig von all diesen Girlanden all dieser Zirkusmusik in den Spiegel und sehe das gemächlichste Haarfegen hinter mir geschehen, das gemächlichste aller — das ich je gesehen habe. Da schreitet dieser Mensch und fegt und fegt und hat einen Wirbel am Kopf, wo mir eben alles abgeschnitten wurde, all die Fische und all die halben Jahre, die ganze halbe Zeit, da wippt der Schopf mit dem Fegen im Takt, wiesegleich wippt sie durch den Raum, diese fremde Girlande und schaut mich an mit ihrem Ichhabdichgesehenblick, das bringt mich aus der Umgebung. Das treibt mich davon aus dem Spektakel hinein in die Tagträumerei, was ist das jetzt wirklich mit den Abständen, die gibt’s, das habe ich gelernt, die Abstände, die gibt’s.
Die Schluchten habe ich erst gesehen, vom Randstein fällt die Welt steil bergab schneidet sich ein Flüsschen einen Graben, eine Träne: ein Graben, der für ordentliches Klettergeschick nicht bürgt und sich ins Fäustchen lacht bei all den Wanderungen Irrungen als ob da jemand an die Quelle gelangen könnte, die ist völlig überwuchert.
In meiner Abwesenheit sehe ich sie schon hantieren mit der Gartenschere, mähe mir meinen Rasen, möchte ich ihr zurufen, mähe mir den Rasen, zupfe an den Stauden und den Flechten, lass sie rieseln, möchte ich ihr zurufen, oder entkommt es mir, halte mir kurz die Hand vors Gesicht und greife nach der Brille, vor mir abgelegt, um sehen zu können, durch den Spiegel, ob sich denn im Blick der Schneidenden ablesen lässt, dass ich mich hörbar gemacht habe. Ob ich wirklich in den Garten gerufen habe? Ich sehe, ja, sie fängt den bebrillten Blick und hält inne beim Grasen kurz, sagt aber nichts, irgendwann ein Abwenden, ich setze die Brille auch wieder ab und falle zurück in die Ausgangsposition, die ohne jede Klarheit ohne Haltung auskommt, in ausreichender Sprachlosigkeit.
Alle Worte einfällig, nicht aufgeschlagen nicht ausgedrückt, sie fallen in mich ein und wenden sich ab zur Gänsehaut. Ich reibe an meinen Armen, gerade die Oberschenkel verloren, spür ich nicht mehr, jetzt wende ich mich den Armen zu und hole aus zur Aufmerksamkeit, die noch übrig geblieben ist vom Blickkontakt. In mir purzelt die Grammatik, vor allem die Suffixe schlagen übereinander, da lässt sich kein Abschluss finden beim Einfallen, das geht weiter und weiter und weiter, das Silbengestotter nimmt kein Ende und das Schneiden dauert auch so lange. Draußen schwimmen die Fische ums Aquarium, denke ich, wo wachsen die Pflanzen, wo verstecken sich die Fische, während sich die abgeschnittenen Enden in mir verstecken?
Zurück zuhause liege ich im Bett, das ich ins Zentrum des Raums gestellt habe. Ich betrachte die Möbelstücke, die ich im Laufe des letzten Jahres angetragen habe, um ihn gänzlich ausgefüllt erscheinen zu lassen. Ich habe diesen Schrank gekauft, damit er Raum einnimmt und diese Vorhänge, damit sie abschließen. Ich habe diesen Schrank gekauft, damit du ihn siehst und diese Vorhänge, damit du eintrittst in den Raum und dich freust über das Abgeschlossene, inmitten dessen du dich befindest. Die Möbel erfüllen alle einen Zweck, den Zweck, von dir gesehen zu werden. Sie stehen da und stauben an und werden bloß von mir betrachtet, liegend frage ich mich, ob sie zerfallen werden, wenn ich aufhöre, an dich zu denken.
Ich liege hier und versuche mich auszubreiten, breitbeinig liege ich hier, die Zehenspitzen an den Bettecken ausgerichtet und an mich klammere ich die schwerste der Decken. Als ich hier eingezogen bin, erinnere ich mich, hast du aus dem Fenster gespuckt und mich gefragt, wo ich bin. Schau mich an, wir tanzen, hast du gesagt. Da gab es noch keine Vorhänge und dementsprechend keine Abgeschlossenheit und so weht alles aus dem Fenster, alles, das du sagtest, auch das Tanzen ist nicht geblieben. Dann kamen die Möbel.
Ich strecke mich, hebe das Kinn. Ich betrachte mir die Kästen und Vorhänge und Stühle und Stuhlbeine, die alle bloß deinetwegen hier sind. Die Farben habe ich meinetwegen ausgewählt, aber die Formen, die Füllung, die ist für dich. Ich habe schwere Möbel mit schlanken Beinen ausgewählt, die punktuell aufs Parkett drücken, vielleicht Auszugsmale hinterlassen, wenn ich die Augen schließe und sie dann verschwinden wie du. Seitdem du verschwunden bist, sehe ich all diese Zirkusgirlanden an den Straßenrändern, die Stadt feiert Feste, trompetet und fegt Haarschnitte über die Randsteine, seitdem du verschwunden bist. Ich dagegen sammle Möbelstücke, die den ganzen Raum ausfüllen sollen.
Einmal in der Woche gehe ich treppab an einem herbstlich schwach beleuchteten Lampenladen vorbei und frage mich, welcher Schirm zu welchem deiner Hüte passen könnte und sehe dich rückwärts aus der Tür treten und sagen: „Wo bist du? Lass uns tanzen.“ Ich drehe Pirouetten in Gedanken, senke das Kinn, versuchend, den Blick abzuwenden von den üppigen Oberflächen, die mich an vergangene Entscheidungen erinnern. Es gelingt nicht, da stehst du fast im Raum und sagst: „Ich glaube, du brauchst eine Typveränderung, draußen verändern sich die Farben.“ Du öffnest den Schrank, den rechts im Blickfeld, die Tür macht leise Schwinglaute. Du ziehst das schwarz-weiße Hemd heraus, das ich von der letzten Reise mitgebracht habe, und hast recht, es war eine Herbstreise. Hältst es dir überzeugt vor die Brust, „Was meinst du, passt das zum Wind draußen?“ Ich nicke unentschlossen, liege hier im Zentrum des Raums und es ist mir gänzlich egal, was ich mir für die Außenwelt anlege. Ich verstehe sie nicht, im Moment.
Erhebe mich und lasse das Nachbild von dir im überfüllten Raum zurück, ich denke, es ist Zeit für einen Spaziergang, das Dämmerlicht zieht mich aus der maulwurfsblauen Decke, an den Zehenspitzen zuerst und kippt mich, die Füße kalt, Schuhe sind auszuwählen. Ich habe alle Schnürsenkel abgerissen, fällt mir auf, also trage ich Sandalen und klappere ins Freie, das mich sogleich überfällt. Die Feierlichkeiten dauern noch an, die Girlanden sind noch nicht in die Nacht verschluckt, haben noch keine Bars und Getränke ausgewählt, sie schwingen noch über die Zebrastreifen und sind laut dabei.
Es pfeift förmlich, mir pfeifen die Überreste der Feierlichkeiten, ich mag mir die Ohren zuhalten, aber ich halte nur aus und hole dann aus zum Klapperschritt, flappe um die Ecke, aus Gewohnheit sehe ich mir den Asphalt dort etwas genauer an, er fleckt und irgendwo hier hast du hingespuckt, als du mich gefragt hast, wo ich bin. Was feiern sie alle, schreit es mir aus den Korridoren, ich verdutze mich, schnell weiter eingliedern in die Routine, es hallt aus den Gewinden, ich verliere langsam die innerliche Liegehaltung und hasche nach den Girlanden auf der Straße, nicht mit den Händen, Girlanden sind keine Möbelstücke zum Festhalten, nur Luftschlangen, bunte.
Die ganze Stadt riecht nach Schokolade ich pruste laut schnupfe die Süßigkeiten regnen überall aus den Fenstern qualmt die Radiomusik des letzten Jahrhunderts, ich hüpfe schneller, fühle wieder meine Beine spannen, spanne mit meinen Schritten weit ausholend über die Fugen Risse in die Straßen, die Schatten der Rauchfänge möchte ich nicht einfangen mit meinen Schritten nur schnell weg von dieser Musik.
Wieder während dem Liegen stelle ich mir fast vergessenes Gefühl vor. Ich stelle mir vor, im Eckzimmer des Mutterhauses auf den Schlaf zu warten, der nicht kommen mag, den ich mit Willenskraft vertreibe, weil draußen noch Schritte zu hören sind, die in die Küche und zurück, die aus der Küche ein Glas Himbeersaft holen und jemandem vorsetzen, der nicht zu Besuch ist. Ich könnte Himbeersaftgeräusch verpassen, sollte ich jetzt einschlafen.
Ich höre die schlechten Dielen klappern unter den bloßen Sohlen oder unter den Holzschlapfen, die gab es einmal, als ich nicht auf den Schlaf warten wollte, das Glasgeräusch schwingt kurz, und durch den Türspalt ein Schimmer wie ein Schimmer Leben, der schüttelt die Decken auf und setzt auf beide Augen einen Kuss Ruhe, ruhige Schlaflosigkeit durch den Türspalt. Ich hebe das Kinn, vor allen Spalten steht jetzt ein Kasten, Massivholz, auf dessen Hochglanzoberfläche sich der Vorhang spiegelt. Verkaufe ich diese Vorhänge, frage ich mich.
Irgendwann ist es Zeit, die Möbel allesamt zu verkaufen, denkst du. Du denkst den Satz zu Ende und fühlst ein unregelmäßiges Pochen, irgendein Organ hält inne und möchte nicht ausräumen, irgendein Organ hat einen bittersüßen Anfall, nur ganz kurz, kaum merklich. Immerhin hast du bereits so oft begonnen, diesen Satz zu denken, so oft hast du gedacht, vielleicht sollte ich die Möbel allesamt — dann abgebrochen.
Dir fällt überhaupt auf, dass — dir fällt auf, die Zeit im Zeichen verschiedener Anfänge zu verbringen, aber nichts — nichts und wieder — zu Ende zu — Nichts hast du vollendet, verkauft. Nichts bist du losgeworden, nichts hat dich ausgezeichnet, bis auf all die leuchtenden Anfänge. All das Sektglasanstoßen, auf ein Neues — ein neues Jahr zuerst, dann auf neue abgeschnittene Enden. Winterlich hattest du noch an leuchtende Enden geglaubt, welch eigentümliche Verwirrung, wir waren keine Himmelskörper.
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freiVERS | Sofie Aeschlimann
der blumentopf mit dem oleander steht am fenster
daneben die orchidee philodendron blattbegonie
aloe amaryllis
und die kakteen
erdkrümel lose auf den untersetzern
auf dem fensterbrett
gieß deine pflanzen
gieß sie nur
damit sie gut wachsen
am fensterrahmen hochklettern
das glas erobern
sie nehmen das licht für sich
draußen sind tannen
farne im schatten
flechten am baumstamm
symbiose mit der föhre dem wind
auf dem waldboden verrottende blätter
abgeknickte äste steine
moos und erde
tiere natürlich käfer insekten würmer maus
was denkst du denn was ich denke
wenn ich durch den wald gehe
dass ich das etwa alles nicht sehe
dass ich nicht nach den wurzeln grabe
lass meine arme frei von deinen grünen schlingen
öffne das fenster
geh in den wald
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freiTEXT | Britta Badura
Liebesleben
Es ist Freitag, Donnerstag, Mittwoch, alles durcheinander. Meine Kopfhaut juckt. Der Kaffee am Morgen war bitter, doch zweckdienlich. Dazu ein bisschen vom Kameldung, was ich seit meinen französischen Jahren rauche. Da gab es einmal Blutwurst in Lyon, eine Fahrt mit dem TGV nach Paris und einen Liebeskummer, den ich zwei Ehen später immer noch nicht überwunden habe. Google bestätigte mir, dass er immer noch mit der Frau zusammen war, für die er mich damals verlassen hatte, zwei Söhne, in etwa so alt wie meine. Er gefällt mir auf den Bildern gar nicht mehr. Mein Handy hat einen unbeantworteten Anruf. Soll es sich doch selber darum kümmern. Eine Eidechse sonnt sich auf der Terrasse und mein linkes Bein schläft gerade ein, weil ich es hochgelagert habe, ansonsten würde es beim langen Sitzen anschwellen. Bei beiden Schwangerschaften hatte ich immer schlanke Fesseln und sogar der Primar sagte kurz vorm Kaiserschnitt, als ich halbnackt vor ihm stand und er eine externe Wendung versuchte, zu meinem damaligen Mann: „Sowas schwängert man gerne.“ Andere Männer meinten, ich hätte so tolle Beine, doch sie wüssten nicht, was sie im Bett damit anfangen sollten – als hätte ich ihnen irgendwelche Signale in diese Richtung gesendet. Einmal war ich bei einer Körpertherapeutin, die mir Karten auf den Körper legte, dabei sagte sie, die linke Seite repräsentiere die mütterliche Linie, die rechte die väterliche. Prompt schwoll mein linkes Bein so an wie die Beine meiner Mutter und Großmutter. Verwundert rief ich die Therapeutin an, die allerdings nur meinte, meine körperliche Verfassung sei ihr ein Rätsel – so etwas sei ihr noch nie untergekommen. Ich werde auch nicht schlau aus diesem Körper, der nur aus sehnsüchtigen Schichten besteht. Und all seine Schönheit habe ich an Männer verschwendet, die nur das Programm Schmachtblick, Schmusen und Schuss kannten. Immer wieder habe ich trotzdem einen mit nach Hause genommen, doch ich habe es mir abgewöhnt, deswegen traurig zu sein. Ich will wieder ein Wackelzahnherz. Ich wünschte, ich könnte lieben wie Kinder. Mit Geduld. Mit offenem Auge. Die Nacktschnecken und die Kaulquappen. Kind in der Liebe sein. Wo es reicht, einander verstohlen beim Spielen zu beobachten, ein Herz im Wachstum zu haben. Überhaupt: der Zufall der Zuneigung. Warum nicht irgendjemandes Geliebte sein, ein paar Dinge ausprobieren, sich bloß nicht verlieben, sich um Gottes willen nicht verlieben, sondern ganz im Körper und in der Zeit sein. Welch Wunschgulasch. Wir lieben doch eh nur die Bilder, die wir uns vom anderen machen. So schnell nützt man sich ab und die Jukebox spielt Lügen, versteckt hinter Koseworten und verstreuten Erinnerungen. Ein Mann hat mich ein paar Wochen lang nur gevögelt und eines Nachts merkte ich, dass die Liebe eingefahren war, weil er mich plötzlich aufmerksamer ansah. Als er eine andere Frau kennenlernte, nicht besser als ich, nur anders, brach kurz meine mühsam zusammengezimmerte Welt zusammen. In einer Bar mixte ich nächtelang Caipirinhas. Ein Typ aus Berlin fand meinen Akzent so bezaubernd, dass er bis zum Schluss meiner Schicht blieb, um mich, sein Rad nebenher schiebend, nach Hause zu begleiten, wo er mich zwar mit einem Kuss verabschiedete, doch ohne Nummer oder andere Anknüpfungspunkte. Ein paar Tage später sah ich sein Rad in der Innenstadt und steckte ihm eine Alpenmilchschokolade in den Gepäcksträger. Wir gingen dann tatsächlich miteinander ins Kino, irgendeinen seltsamen isländischen Film, doch nachdem ich bei ihm zuhause aufgewacht war, meinte er, er sei noch nicht über jemanden hinweg und er melde sich. Das E-Mail ein paar Tage später trug den Betreff „Pretty girls make graves“ und hatte sonst keinen relevanten Inhalt zu bieten. Ich verließ die Stadt. Vermutlich muss ich mir eingestehen, dass ich alle meine Lebensentscheidungen aus Liebeskummer getroffen habe. Deswegen kann ich meine Zukunft nicht planen, nicht in das Korsett von Vorstellungen zwängen, doch dieses Warten, dass einmal etwas Spannendes passiert, macht mich mürbe. Und währenddessen schreibe ich Einkaufslisten, erkundige mich über Versicherungen, zahle pünktlich alle Rechnungen, vergesse keine Geburtstage, und versuche, meinen verfallenden Körper instand zu halten. Die vergeblichen Verwobenheiten, die wir unser Leben nennen. Es ist Mittwoch, sehe ich im Kalender, und auf der Kaffeepackung steht: „Nichts für schwache Herzen.“
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freiVERS | Andreas Köllner
Atempause
Halte
die Luft an, die
Zeit
fest, wie sie nie
war, vorher; die
Erinnerung
braucht
einen langen Atem
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POEDU - Text des Monats Februar
Früher bin ich durch die Welt geflogen und jetzt
nur über das Papier.
Immer wieder falle ich
vom Himmel und immer
wieder werde ich aufgehoben.
Manchmal nehme ich auch
Duschen, manche lachen
sogar wegen mir
und viele finden mich
schön. Manche
schmücken sich mit mir.
Aber früher wurde mit mir
am meisten gespielt und
immer wieder wurde
ich in ein schwarzes
Loch getunkt
Was bin ich?
Karamelllutscher
(9 Jahre alt)
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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.
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.Die Aufgabe diesmal kam von Carl-Christian Elze:
Das geheime Leben der Dinge. Es gibt Naturwissenschaftler*innen, die glauben, dass es gar keine unbelebten Dinge auf der Welt gibt, dass auch Autos, Fahrräder, Kloschüsseln, Kaffeemaschinen und Schreibtischlampen irgendwie lebendig sind, also auch etwas fühlen und denken können. Schreibt ein Gedicht über das geheime Leben eines Gegenstandes. Die Leser*innen dürfen miträtseln und ihre Antworten in die Kommentarspalten schreiben.
>> Alle POEDU Texte des Monats
>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder
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freiTEXT | Amalie Mbianda Njiki
Rotlicht
Mein Raum befindet sich an einem verborgenen Ort, andere verschlungene Räume falten und winden sich um ihn herum. Manchmal dringen gedämpfte Laute von außen ein, von denen ich mir vorstelle, es seien Mutters Bauchgeräusche in jener Nacht vor meinem Abschied.
Meinen Raum kann jeder besuchen. Ihr tretet ein. Ihr haltet eure Luft an, um durch meine Luft zu tauchen, solange, bis euer Geruch meinen Raum flutet, meine Luft zu eurer wird und ihr schwer auf mich herabsinkt.
Meinen Raum richtet jeder nach seinen eigenen Wünschen ein. Es ist euch egal, ob ihr diesen, oder einen anderen Raum besucht, weil für euch alle Lippen gleich rot glänzen und alle Geschichten gleich sanft klingen.
Mein Raum ist für euch wie ein leeres Gefäß, das erst durch euch als Inhalt seinen Zweck erfüllt. Ihr denkt: Wer seinen Körper verkauft, ist nicht vollständig. Ich versuche mir vorzustellen, wie ihr meinen Raum mit einer meiner Zehen verlasst. Beim nächsten Besuch kauft ihr euch bereits meinen Arm. Oder ein Bein. Ihr kämt und kämt bis nichts mehr übrig wäre.
Noch beschreibe ich mich jedoch anders:
Wer seinen Raum vermietet, ist darin vollständig allein.
Mein Raum kann eure Fassaden so verziehen, dass sie beinahe menschlich wirken. Eure Linien zerfließen, eure Stirnen rillen sich angestrengt. Die Falten erinnern mich an das Wellblech, aus denen die Slums meines Mutterlandes geformt sind. Dorthin, wo Wände fest und aus Stein gefertigt sind, Hitze und Eindringlinge nicht so leicht nach innen gelangen, hat die Madame versprochen. Jetzt sind meine Wände so dick und undurchlässig, dass sich hier jeder Fremde eine Auszeit von der Kälte Deutschlands nehmen will, euer Schweiß perlt über mich hinweg wie Mutters Tränen in der Heimat.
Auch wenn ihr alle Zimmer meines Raumes zu kennen glaubt, kann sich euer schlechtes Gewissen nicht vor mir verstecken. Mein Raum füttert und füttert es, bis es nicht mehr zu übersehen ist, und wenn sich das schlechte Gewissen bereits den Kopf an der Decke stößt, verlässt es meinen Raum leise.
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freiVERS | I. J. Melodia
Schwemmland
Aus dem Schwemmland
deiner flüchtigen Augen
sickert wortloses Sediment
zum Mündungsdelta
Jeder Satz entwässert
das Leben in seinem Fluss
versalzt auch das Land
hinter den Deichen
und der Stirn
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freiTEXT | Marina Wudy
Sterne einatmen
Wir sitzen am Fenster und schauen in die Sterne. Der Mond muss auch irgendwo sein, aber noch habe ich ihn nicht entdeckt, zu viele Wolken ziehen über den Himmel. In der Nachbarwohnung läuft der Fernseher, die Geräusche dringen dumpf durch die Wand. Uschi, so nenne ich die Frau von nebenan insgeheim. An ihrer Haustür hängt ein Mandala, und durch das Küchenfenster zieht regelmäßig der Geruch von Kreuzkümmel und Kurkuma nach draußen.
Wie geht es dir heute?, fragst du. Du schaust mich dabei nicht an, hast deinen Blick weiter nach draußen in den Himmel gerichtet. Früher hast du dir oft vorgestellt, dass Sterne zwinkern können, und wenn einer einmal heller und wieder dunkler wurde, war das dein Beweis dafür. Sterne haben auch Gefühle, hast du dann gesagt.
Ich wende meinen Blick von dir ab, zurück zu den Sternen. Gut, sage ich. Gut geht es mir.
Bist du sicher?, fragst du.
Ja, sage ich. Warum?
Ach, sagst du. Du wirkst nicht so.
Warum das denn?
Ich richte mich auf in meinem Stuhl und drehe mich wieder zu dir. Noch immer schaust du mich nicht an. In der Luft hängt noch der Geruch des Chilis, das ich vor ein paar Stunden gekocht habe. Ich reiße das Fenster auf, schließe meine Augen, atme ein.
Naja, sagst du. Früher hättest du jetzt gesagt, komm, lass mal Sterne einatmen. Lass mal das Leben vergessen und einfach sein.
Sterne einatmen?, frage ich und runzle meine Stirn. Noch immer schaust du mich nicht an, hast den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.
Ja, Sterne einatmen, sagst du. Die ganze Welt, die ganze Nacht. Alles, was ist, und was sein könnte. Möglichkeiten, Unendlichkeiten.
So ein Quatsch, sage ich. Unendlichkeiten.
Da, sagst du. Genau das ist es. Du denkst nur noch. Du fühlst gar nicht mehr.
Ich höre den Vorwurf in deiner Stimme, und er macht mich wütend.
Das stimmt nicht, sage ich. Ich fühle andauernd.
Aha, sagst du. Wann denn zuletzt?
Wie bitte?
Was war dein letztes Gefühl?
Was ist denn das für eine Frage?
Fragen brauchen Antworten. Auf so eine Logik stehst du doch. Also los jetzt.
Nein, sage ich. Der Vorwurf in deiner Stimme gefällt mir noch immer nicht.
Da hast du es.
Gestern, sage ich schließlich, nur um dir zu beweisen, dass du nicht Recht hast. Natürlich hast du nicht Recht. Natürlich fühle ich.
Gestern habe ich einen Text gelesen. Von einer Kollegin. Der war sehr interessant. Der hat mich zum Nachdenken gebracht. Im gleichen Moment, in dem ich den Satz ausgesprochen habe, merke ich meinen Fehler. Doch du bist schneller.
Ha, sagst du. Siehst du.
Ich mache meinen Mund auf, möchte mich verteidigen, dir sagen, dass das gar nicht stimmt, was du sagst, dass ich sehr wohl fühle, aber die Worte kommen nicht. Sie bleiben in meinem Hals stecken, störrisch, wie die kleinen dornigen Widerhaken, die früher in meinem Wollpullover hängenblieben, wenn ich über die Wiese vom Bauern Thomassun lief.
Eine Weile schweigen wir; ich denke über Theo nach, der mir in der zehnten Klasse das Herz gebrochen hat; über den Tag, als ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, und über den Moment, in dem ich den Anruf von der Polizistin bekommen habe, Frau Hollweg, Ihr Vater.
Aber all das ist Jahre her.
Trotzdem will ich dir nicht Recht geben.
Woran machst du das denn fest?, frage ich dich schließlich. Dass ich nicht fühle?
Du zuckst mit den Achseln. Das ist leicht. Du lachst nicht mehr richtig.
Das stimmt gar nicht, sage ich. Ich lache andauernd.
Vielleicht, sagst du. Aber nicht richtig. Nicht so, dass du nach Luft schnappen musst und deine Bauchmuskeln sich so anspannen, dass du danach Seitenstechen bekommst, und dass du dir dabei fast in die Hose pinkelst.
Ich will protestieren und sagen, dass ich mir auch ganz sicher nicht in die Hose pinkeln möchte vor Lachen, aber dann verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich erinnere mich an die Lachanfälle, die ich früher hatte, über die banalsten Dinge. Herr Schmitt mit dem überdimensionalen Schnauzer, der immer mittwochs seinen Rasen gemäht hat und dabei seine Finger ganz merkwürdig abgespreizt hat. Den Fernsehmoderator, dem in der Live-Übertragung des EM-Finales eine widerspenstige Haarsträhne vom Kopf abstand.
Vielleicht hast du Recht, sage ich schließlich und kaue auf meiner Unterlippe herum.
Und die Texte, die du liest, sagst du und schüttelst deinen Kopf.
Was ist damit?, frage ich.
Die sind immer voller tiefsinniger Gedanken, aber frei von Gefühlen.
Ja und, sage ich. Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken anregen.
Offensichtlich, sagst du.
Und jetzt?, sage ich und wickle einen losen Faden von meinem Pullover um meinen Zeigefinger. Was soll ich deiner Meinung nach tun?
Gar nichts. Einfach mal gar nichts.
Ich starre dich an, dein vertrautes Profil, das noch immer von mir abgewandt ist. Ich denke an den Nachmittag, als ich ohne Badesachen in der Bucht in Montenegro schwimmen gegangen bin, an den Geschmack von Salzwasser auf meinen aufgesprungenen Lippen und das Kribbeln in meinem Unterleib.
Und dann?, frage ich. Was soll das bringen?
Dann kommen die Gefühle. In der Stille.
Endlich drehst du auch deinen Kopf, siehst mich an, und in deinen Augen tanzt ein ganzes Universum.
Wir sitzen einige Minuten lang schweigend voreinander. Ich verliere mich in deinen Augen, und plötzlich bin ich nur noch Gefühl, bestehe aus kribbelnden Fingerspitzen und tanzenden Atomen und lebendiger Materie. Habe vergessen, wie Denken überhaupt geht, und dass du gar nicht hier bist. Dass dein Profil nur eine flüchtige Verzerrung meines eigenen Spiegelbilds ist, und deine Worte nur der Widerhall meiner eigenen Gedanken.
Ich hebe meine Hand und lasse meine Finger über die Sitzfläche des leeren Stuhls neben mir gleiten. Schaue in die Sterne, die sich in der Unendlichkeit verlieren. Atme noch einmal ein, tief und lange, bis jeder Winkel meiner Lunge mit der kalten Luft gefüllt ist. Bis die Kälte in mir explodiert, sich in Hitze verwandelt, und in ruckartigen Stößen durch meinen Körper schießt.
Ich wehre mich nicht dagegen, lasse es einfach geschehen, gebe mich hin; der Erinnerung an dich, allem, was hätte sein können, was ich nicht fühlen wollte und konnte, was unter der Oberfläche all die Jahre brodelte und mich zu einer leeren Hülle hat werden lassen; einer Hülle, die funktioniert, sehr gut sogar; aber so viel Leere, so viel Kälte. Ich denke an Mandala-Uschi, an den Bauern Thomassun, an meinen Vater, und frage mich, ob sie auch alle dieses Ziehen in sich hatten, wenn sie in die Sterne geschaut haben.
Irgendwann ist es vorbei, und als ich in den Himmel schaue, spüre ich, dass ich es gerade endlich wieder getan habe: Ich habe Sterne eingeatmet. Möglichkeiten, Unendlichkeiten. Alles, was ist, und alles, was sein könnte.
Ich spüre, wie eine Träne meine Wange hinunterläuft. Ich lasse sie laufen, halte sie nicht auf, und schaue weiter in den Himmel.
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