freiTEXT | Moritz Pohl
19. Juli 2024Literatur,freiTEXTProsa,Moritz Pohl
Wieder ein Tag
Ich werde von der ins Schloss fallenden Wohnungstür geweckt. Die Sonne bohrt ihre Finger durch die Schlitze des Rollladens. Ich drehe mich zur Wand. Das Kissen liegt nicht richtig. Ich drücke es ein, bausche es auf, falte es zusammen, doch es bringt alles nichts, ich finde keine bequeme Position. Kein Wunder, nach all den Monaten.
Als ich mich aufrichte, schießt es mir in die Lendenwirbelsäule. Mein Körper schmerzt seit fünfundzwanzig Jahren. Mal ist es der Nacken, mal ist es die Schulter, mal sind es die Handgelenke, mal sind es die Knie. Irgendwas ist immer. Schmerz ist auch Präsenz. Schmerz ist Jetzt. Jedenfalls rede ich mir das mittlerweile ein. Ich steige in meine alte Jogginghose aus Fußballvereinstagen. Seit fünfundzwanzig Jahren besitze ich sie. Vielleicht ist sie der Grund für meine Schmerzen.
Ich gehe pinkeln. Auf dem Rückweg greife ich mir eine Wollmütze aus dem Bücherregal und ziehe sie an. Dann schlüpfe ich ein kariertes Flanellhemd. Ich sehe jetzt aus wie ein Bauer beim morgendlichen Abmelken. Fehlen nur noch die Gummistiefel.
Während ich auf den Wasserkocher warte, denke ich, dass ich nur ins Bett will, mich ausruhen, Kraft sammeln. Aber ich komme ja gerade erst aus dem Bett, das geht also nicht. Die Öle im Kaffee bilden hellbraune Bläschen.
Auf dem Laptop rufe ich Youtube auf. Ich klicke ein Video an, das die Frage abhandelt, wer einen Kampf gewinnen würde, ein Gorilla oder ein Grizzlybär. Anschließend google ich, ob ein Gorilla noch stärker werden könnte, wenn er Gewichte stemmen würde.
Beim zweiten Kaffee fällt mir ein, dass ich später einen Termin habe, sogar einen wichtigen. Ich muss zur Universitätspsychiatrie, um meine Krankschreibung verlängern zu lassen. Ich lasse mich wieder vom Algorithmus davontragen, tiefer und tiefer in eine Welt, die es nicht gibt. Und weil es sie nicht gibt, spendet sie Geborgenheit. Ich schaue mir die brutalsten Knockouts von einer Mixed-Martial-Arts-Ikone an, die aussieht wie eine grobschlächtige Version von Tom Selleck; ich schaue mir an, wie ein norwegischer Kletterer mit einem schwedischen Strongman seine Griffkraft vergleicht, indem die beiden unhandliche, schwere Dinge hochheben; ich schaue mir an, warum ein ehemaliger Nazi-Rocker denkt, dass ein ehemaliger Drogendealer ein Lügner ist; ich schaue mir an, ob ein Bodybuilder nach Ansicht eines anderen Bodybuilders in einer Mega-Off-Season mit zu viel Stoff seine Gesundheit zerstört hat.
Immer zeigt mir die Seitenleiste neue Videos an, immer gibt es neuen Content, der mir selbst niemals in den Sinn gekommen wäre und der mich reizt. Ich klicke auf alles, öffne immer weitere Videos in immer weiteren Browser-Fenstern zur Vorsorge, zum Spätergucken. Bald lasse ich die Videos mit anderthalbfacher Geschwindigkeit laufen.
Dann kommt ein harter Cut. Ich schalte den Laptop ab und mache mir ein Müsli mit Proteinmilch. Mit der frisch gefüllten Schüssel setze ich mich vor den Fernseher und schaue die Küchenschlacht. Moderator des Tages ist Alexander Kumptner, lese ich im Guide des Smart-TV nach, ein Österreicher mit modischer Kurzhaarfrisur und Astralkörper, wie ich auf Instagram sehe.
Während im Fernsehen die Lachsfilets in den Pfannen brutzeln und aufgeregte Normalos beflissen in ihren Töpfen rühren, bleibe ich in der Timeline hängen und schaue mir einen Inder an, der verkrüppelte Beine hat, aber einen Oberkörper wie Herkules. Er spricht schnell einige unverständliche Worte in die Kamera und verzieht dann sein Gesicht zu einer Fratze, während er seine Arme hochreißt und den Arni macht.
Ich swype herunter, ein animierter Shrimp saugt seinen eigenen Schwanz ein, kriecht aber sogleich wieder aus sich selbst heraus, eine in Endlosschleife ablaufende Illusion, die gut einhundertvierzigtausend Menschen gefallen hat und knapp zwanzigtausend Mal weitergeschickt wurde. Auf einer anderen Kachel singt Elvis Presley in ein Hörnchen mit Eisbällchen, wieder woanders klärt mich eine Illustration darüber auf, dass ich schon mein ganzes Leben lang falsch gehe.
Auf einem Comic-Bild ist ein grimmiger Wolf abgebildet, hinter seinen Rippen hängt Gedärmen gleich ein Lamm mit geschlossenen Augen. Dieses Lamm symbolisiert die Freundlichkeit, die wir alle wie einen Parasit in uns tragen, denn Freundlichkeit ist schlecht, weil sie uns schwächt. So steht es in der Bildunterschrift, und in den Kommentaren wird das Bild als Meisterwerk gefeiert und für seine Schönheit gelobt. Andere Kommentatoren sehen Palästina durch das Lamm symbolisiert.
Ich klicke den Handyscreen schwarz und widme mich wieder der Küchenschlacht, wo sich mittlerweile der Juror die einzelnen Bestandteile des Wettbewerbsgerichts einer Teilnehmerin in den Mund schiebt. Die Kamera zoomt drauf und ich sehe seinen Kiefer das Essen zerkauen. Es muss schon kalt sein, aber es schmeckt ihm vorzüglich, so sagt er, die Sauce vielleicht ein wenig dilllastig, aber das sei keine Kritik. Ich stelle die Müslischüssel auf die Spülmaschine und gehe scheißen. Es ist jetzt Viertel vor zwei und mir fällt nichts mehr ein. Ich beschließe, zur Psychiatrie zu laufen, um Zeit totzuschlagen.
***
Das alternative Areal am Flussufer ist noch im Winterschlaf, die Bretterbuden und Wellblechhütten sind vernagelt. Unten am Wasser steht ein dunkelhäutiger Typ auf dem Absatz der Ufermauer. Ich rieche seinen Joint und frage mich, was ihn wohl dorthin verschlagen hat. Je näher ich der Brücke komme, desto mehr schwillt der Lärm der Autobahn an, die auf der unteren Ebene des Bauwerks über den Fluss führt. Auf unserer Seite ist die Brücke nicht lärmschützend, denn wir wohnen bei der Industrie und den Asis.
Zwischen den Betonpfeilern der Brücke drücken sich ein paar Nachtjacken herum, nicht viele, es ist ja schließlich helllichter Tag. Naja, so helllicht, wie ein bewölkter Tag im Spätwinter sein kann. Zwei Kinder spielen am Basketballkorb, ihre Würfe sind linkisch und keiner trifft ins Metallnetz. Ein paar Meter weiter, kurz hinter der Brücke liegt ein Trainingspark. Obwohl es keine zehn Grad hat, trainieren dort zwei Männer mit nacktem Oberkörper. Sie machen artistische Übungen und ihre Muskeln zeichnen sich deutlich unter der Haut ab, zucken bei jeder Bewegung, alles sieht aus wie von Gott intendiert.
Als ich mich den Dealern nähere, die vor der Dusche für die Flussschwimmer stehen, nehme ich Haltung an. Ich schaue ihnen in die Augen und als sie leise „Shit“ flüstern, schüttle ich nur kaum merklich den Kopf. Schon sind sie hinter mir und ich meine, ihre verfolgenden Blicke zu spüren. Ich stelle mir vor, dass ich sie provoziert habe und sie mir jetzt nachgehen, um mir eine Eisenstange über den Kopf zu ziehen oder mir ein Messer in die Rippen zu rammen. Es kribbelt kurz im Nacken, dann bin ich sicher, dass sie stehen geblieben sind.
Da die Stadt so klein ist, treffe ich schon hundert Meter weiter nur noch auf Jogger in grellen Dresses, die sich dehnen, und auf Pärchen, die ihre Mittagspause im Freien verbringen. Das Grau der Brücke und unseres Viertels ist hier bereits unbekannt. Immerhin das Wasser des Flusses weiß um diese Farbe. Grau und rasch fließt es gen Norden, bis nach Rotterdam, wo es sich mit dem Salz mischen wird.
Bei der nächsten Brücke steige ich eine Wendeltreppe hoch und laufe über den sanften Bogen, dann, auf der anderen Seite, den Hügel hinauf bis zum alten Stadttor, wo ich mich links halte und auf eine garstige Ausfallstraße komme.
***
Auf den Fensterscheiben der Klinik sind Worte in bunten Lettern geschrieben. Es fehlt nicht viel, dann hätte der Eingangsbereich den Look von einem dieser modernen Kindergärten, wo die Kinder Namen haben, die ich nicht mal kenne. Aber vielleicht ist das auch alles gar nicht so weit voneinander weg, eine Psychiatrie und ein Kindergarten.
Vor dem Aufzug überlege ich, doch die Treppe zu nehmen, wegen der Kalorien und der Vermeidung von amerikanischer Faulheit, lasse es aber sein, denn von dem Marsch ist mir eh schon warm und ich spüre, dass meine Achseln durchgeschwitzt sind. Ich will meinen Körper nicht noch weiter auf Touren bringen, bevor ich gleich vor einer fremden Person sitze, die mich mustern wird.
Ich melde mich an und nehme Platz zwischen einer Handvoll Menschen mit versteinerten Gesichtern. Vor dem Fenster der Sprechstundenhilfen gerät ein glatzköpfiger Mann in Rage. Er erzählt von seinem Schicksal, irgendwas von Obdachlosigkeit und skandalösen Verhältnissen. Es klingt, als käme das von ganz weit drinnen, und weil das so ist, wird er von den Sprechstundenhilfen abgebügelt. Sie verweisen auf das anstehende Gespräch mit dem Arzt und schicken ihn zu uns, wo er den Blick durch die Runde schweifen lässt, auf den kleinsten Auslöser wartend, um seine Tirade fortzusetzen. Aber niemand interessiert sich für ihn und so nimmt der Mann schnaufend Platz auf einem der hellen Holzstühle, nun doch wieder auf sich selbst und seine Scheißlage zurückgeworfen, allein und hoffnungslos.
Es dauert lange, bis der jeweils Nächste an die Reihe kommt. Ich lasse mir für eins siebzig einen Kaffee aus der Maschine, ein seltsamer Betrag, der mich irgendwie stört. In einer älteren Ausgabe vom Spiegel lese ich einen dreizehn Seiten langen Artikel über eine Frau, die dachte, sie sei ein Mann. Doch ein paar Jahre nach der Geschlechtsangleichung hat sie festgestellt, dass anfangs alles doch korrekt gewesen war. Darum ist sie jetzt wieder eine Frau, nur eben eine mit einem sehr burschikosen Körper und einem künstlichen Penis. Sie macht unter anderem die Psychologen dafür verantwortlich, dass sie sich damals in jugendlicher Unwissenheit eingeredet hat, eine Transperson zu sein, und das zu lesen, erheitert mich, wo ich doch gerade in einer Psychiatrie sitze. Ich lege die Zeitschrift weg und ziehe mein Handy aus der Tasche. Ein Video mit zehn Millionen Aufrufen stellt mir den schnellsten Raucher der Welt vor und ich vergesse die Frau.
Als ich hereingebeten werde, muss ich mich erst einmal sammeln und mir klarmachen, dass es gerade ein ganz klein wenig um meine Existenz geht. Die Ärztin trägt eine babyblaue Gesichtsmaske, obwohl die Pandemie ja schon längst zu Spinnenweben im Hinterkopf geworden ist. Sie ruft im Computer meinen Fall auf und bitte mich dann, mein Anliegen zu schildern. Ich setze ihr die Sachlage auseinander, dass mich mein Arbeitgeber gefeuert, aber nicht freigestellt hat, und dass ich mich psychisch nicht mehr in der Lage sehe, noch bis zuletzt weiter für diese Firma zu arbeiten. Ich erzähle ihr davon, wie belastend die Arbeit schon vorher war, dass man mich jetzt ausgrenze, ja, mich mobbe, um mich loszuwerden und mein Gehalt einzusparen. Und während ich erzähle, denke ich, dass das alles gelogen ist, von mir frei erfunden, weil ich einfach nur keine Lust mehr habe, zur Arbeit zu gehen und ein fauler Taugenichts bin. Während dieser Gedanke weiter aufblinkt wie die Leuchtschrift im Fenster eines China-Imbisses, „OPEN“ … „OPEN“ …, gehe ich auf meine psychiatrisch-psychologische Vorgeschichte ein, auf die ganzen Berichte und sonstigen Unterlagen, die ich ja schon eingereicht hätte beim letzten Mal und die doch für sich sprechen würden, weil sie ja belegten, dass ich all die geschilderten Probleme schon lange vor der Kündigung hatte. Vor diesem Hintergrund sei es ja wohl klar, dass eine Kündigung, ein solcher Rauswurf mit Arschtritt zu einer Verschärfung meiner Lage und damit zu einer Verschlechterung meiner Gesundheit führte.
Die Ärztin hört mir geduldig zu. Als ich geendet habe, sagt sie, dass sie mich anders als ihre Kollegen, die mich zuvor beurteilt haben, nicht als krank einstufe, ich wirke zu aufgeräumt und nicht depressiv. Ich widerspreche ihr, doch merke selbst, dass sie gar nicht so falsch liegt. Wahrscheinlich wirke ich tatsächlich nicht depressiv, denn so fühle ich mich ja auch gar nicht. Aber krank fühle ich mich sehr wohl, zu krank jedenfalls, um einfach weiter zu funktionieren, zu krank, um mich in Meetings zu setzen und Tabellen zu pflegen, zu krank, um in jedem verdammten Kollegengespräch eine Rolle zu spielen und im Grunde ausschließlich Lügen von mir zu geben aus karrieretechnischen Gründen und aus sogenannter Höflichkeit.
Doch obwohl ich überzeugt davon bin, auf diese entscheidende Weise sehr wohl krank zu sein, oder sogar komplett untauglich für die zur Rede stehende Arbeit, weiß ich ad hoc nicht, wie ich ihr das alles klarmachen soll. Schlagartig wird mir bewusst, dass es das war − ich soll tatsächlich wieder zur Arbeit, zu diesen Arschlöchern, die mich belogen und ausgenutzt haben und die ich dafür und für noch viel mehr verachte. Und gehe ich nicht mehr hin, bleibe ich bei mir und meinen Gefühlen, wie es ja eigentlich allseits empfohlen wird, gerade von den Psychologen, dann werde ich noch einmal gefeuert, fristlos und selbstverschuldet dieses Mal, und damit bekomme ich dann kein Geld mehr, weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitsamt. Ich brauche aber Geld, denn jeder braucht Geld.
Um mein Schicksal vielleicht doch noch abzuwenden, starte ich einen zweiten Anlauf, versuche der Ärztin klarzumachen, dass ich wirklich, wirklich psychisch nicht in der Lage dazu bin, nur noch einen einzigen Tag bei dieser Firma zu verbringen. Aber sie bleibt hart und sagt, es tue ihr leid, sie könne mir nicht helfen. Da ist mir plötzlich alles egal und ich sage ihr laut in ihr maskiertes Gesicht, dass mich trotzdem nichts mehr zurück in dieses Büro bringt, niemals! Und während ich das ausspreche, weiß ich, dass es auch wahr ist. Ich werde dort nie wieder hingehen, Punkt!
Sie sagt, das sei meine Entscheidung, ich müsse natürlich dann mit den Konsequenzen leben. Und obwohl sie damit recht hat, will ich sie für diesen Hinweis ohrfeigen, denn in diesem Moment ist sie für mich nichts weiter als eine Systemhure, eine kleinliche, paternalistische, selbstgerechte Fotze, die von nichts eine Ahnung hat und mir nur weitere Steine in den Weg legt mit ihrer gottverdammten Korrektheit.
***
Ich verlasse die Psychiatrie mit einem sonderbaren Gefühl von Leichtigkeit. Bis ich meiner Freundin am Abend von der neuen Sachlage berichte, bin ich schwerelos. Für ein paar Stunden kann ich auf alles scheißen, auf die Gnaden der Psychiater, und auf die Gnaden des Arbeitsamtes, und auf die Gnaden meines Arbeitgebers sowieso. Alle können mich mal, ich bin ein freier Mann, solange ich meine Lage nicht weiterkommuniziere und sich lästige Fragen und Hinweise bezüglich der Zukunft einstellen, mit deren Eintreten ja immer zu rechnen ist.
Obwohl das Gespräch keine halbe Stunde gedauert hat, bin ich total erschöpft, darum muss ich jetzt schnell wieder Kraft finden. Und dafür gibt es nur einen Weg: Koffein und Kohlenhydrate, hauptsächlich Zucker, in rauen Mengen. Ich laufe Richtung Fluss, bis ich eine Bäckerei mit Sitzmöglichkeit finde, bestelle mir einen Kaffee, eine Brezel und ein Teilchen. Kaum sind Teller und Tasse leer, kommt kurz das totale Tief, so wie es immer kommt, wenn ich etwas esse. Und wie immer will ich nichts weiter als die Augen zu schließen und davonzudriften, will die Augen nie mehr öffnen, mich einfach nur fallenlassen und nie mehr zurückkommen. Aber wie immer drifte ich nirgendwohin, schon gar nicht für immer. Stattdessen zahle ich und laufe weiter, sodass die Prozesse meines Organismus, befeuert durch die Bewegung und den Sauerstoff in der Luft, wieder ordentlich anlaufen.
Ich bin nicht einmal drei Häuserblocks weit gekommen, da bin ich plötzlich energiegeladen und wach, viel wacher als am Morgen, und ich merke mit jedem Schritt, wie die Vorfreude darauf wächst, gleich mit brennenden Muskeln totes Gewicht zu bewegen, auch wenn das keiner von mir je verlangt hat.
***
Im Fitnessstudio ist niemand, nur die besenstieldünne Ein- und Aus-Check-Frau. Ich klappere meine Übungen ab und zwischen den Sätzen schlendere ich zwischen den Maschinen hindurch, zum Spiegel und zurück. Noch ein Schluck aus der mitgebrachten Plastikflasche, an der Getränkestation aufgefüllt mit uringelber Flüssigkeit, Geschmack Multivitamin, dann geht es weiter. Unter Ächzen ziehe und drücke ich weiß lackierte Hebel, alles ein himmelschreiendes Symbol für den Betrieb der Lebensmaschine, die genauso schwerfällig ins Leere läuft wie das alles hier. Mit jedem Hub nimmt meine Zucker- und Fatalismuseuphorie ab. Freiheit kostet. Sie kostet ein wenig Mut, ein wenig Konsequenz, ein bisschen mehr an Disziplin, vor allem aber kostet sie Geld. Der Preis der Freiheit ist im Wortsinne ein Preis. Damit mich alle Ämter und Institutionen ab sofort in Ruhe lassen, damit mich die Psychiater, das Arbeitsamt und mein Chef am Arsch lecken können, muss ich zahlen, und zwar mit meinem Erspartem. Ich überschlage meine Fixkosten. Das Geld wird schnell dahinschmelzen in diesem teuren Land. Die Freiheit, so teuer sie auch erkauft ist, sie hat bereits jetzt ein Verfallsdatum. Um dieses hinauszuzögern, muss ich ab sofort jede Ausgabe genau abwägen, dabei will meine Freundin doch ein Auto anschaffen und neue Möbel, damit wir endlich ein Leben führen, das unserem Alter und unserer Schicht entspricht. Und in den Sommerurlaub wollten wir auch. Das alles geht jetzt nicht mehr und das wird ihr gar nicht gefallen.
Nachdem ich fertig bin, gehe ich auf Zehenspitzen durch den Duschraum, in dem die Pfützen des Tages einen Ekelparkour gebildet haben. Und an der Decke hat sich schwarzer Schimmel breitgemacht, noch nicht dramatisch, aber eigentlich von einem Ausmaß, das Einschreiten nötig machen würde. Zwischen den Keimen und Sporen dusche ich heiß und trockne mich dann mit meinem rauen Mikrofasertuch ab, das ich hasse, weil es nicht über die Haut gleitet, sondern den Körper in einer störrischen, stockenden Art trocknet.
***
Ich schließe die schwere Holztür auf und gehe durch den Gang mit den Briefkästen in den Hinterhof. Der Geruch des Dönerladens, den wir unten im Erdgeschoss haben, schlägt mir entgegen. Auf der Terrasse vor der Ladenküche steht der Betreiber. Er wohnt im ersten Stock. Ich sage ihm hallo und frage ihn, wie es ihm geht, und wie immer sagt er: „Muss!“ und wie immer findet er das eine gewitzte Antwort. Und wie immer verstehe ich ihn gut, weil ich ja sehe, dass es für ihn tatsächlich immer nur muss mit dem Laden und den drei Kindern. Er fragt, wie es mir geht, ob ich viel Arbeit habe. Ich lüge ihn an und sage: „Ja, immer Arbeit!“ und er wiederholt: „Immer Arbeit, immer Arbeit!“ Er lacht mit herzlichem Galgenhumor und ich komme mir vor wie ein verschissener Simulant, aber schon auf der Treppe ist das Gefühl weg. Mir kommt seine Tochter entgegen, die kleine Elin, und ihr Bäuchlein ist noch runder geworden, scheint mir. Ihr lila T-Shirt mit der Giraffe spannt genauso wie ihre geblümten Leggins, und ich denke, dass sie bestimmt immer nur Döner isst, weil die Eltern ja keine Zeit haben, was Richtiges zu kochen.
Ich bin noch vor meiner Freundin zu Hause. Der Mixer kreischt ohrenbetäubend, als ich mir einen Proteindrink mit Bananen und Kreatin zubereite. Gerade als ich den Deckel abschraube, kommt sie, und das Erste, was sie sagt, ist, dass die Küche aussieht wie Sau. Ich sehe mich um und sie hat Recht, und ich verstehe ihren Ärger, in den sie sich sogleich weiter hineinredet, von wegen, ich habe doch den ganzen Tag Zeit. Ich finde ihn dann mit einem Schlag übertrieben, diesen Ärger, und belle zurück, sodass wir uns streiten, noch bevor sie abgelegt hat. Ich verziehe mich ins Wohnzimmer und schlürfe den Bananenshake vor dem Fernseher.
Sie kommt dazu und ich sehe sofort, dass ihr Ärger nicht abgeklungen ist. Im Gegenteil, sie fragt in einem Tonfall nach dem Abendessen, der schon klarmacht, dass sie weiß, dass ich nichts eingekauft und demnach auch nichts gekocht habe. Da es noch keine sieben ist, sehe ich das nicht als Problem an, und genau das sage ich ihr, aber sie ist nicht meiner Meinung und ich muss mir eine weitere Tirade über geregelte Mahlzeiten und ihre Verdauung anhören. Und wie als Gegenschlag, obwohl das unsinnig ist, erzähle ich ihr, dass ich nicht mehr krankgeschrieben bin und zurück zur Arbeit soll, was ich aber nicht tun werde. Sie ist kurz wie vom Donner gerührt und erfasst meine Worte nicht gleich, dann fragt sie nach und ich erörtere ihr die Situation genauer mit all ihren Folgen. Eine Weile ist sie still, dann rastet sie aus, nicht, weil ich ab sofort die Arbeit verweigern will, sondern, weil ich überhaupt gefeuert wurde, weil ich bisher bei jeder Stelle Probleme gemacht habe, ja, letztlich, weil ich so bin, wie ich bin.
Ich lasse sie all das sagen, bleibe einfach sitzen und trinke den Bananenshake, und als ihr auffällt, dass ich nicht reagiere, bricht sie in Tränen aus und wimmert „Ich kann nicht mehr, ich will mich trennen!“
Ich stehe auf und nehme sie in den Arm, komme ins Schwadronieren darüber, warum alles halb so wild ist und warum ich für nichts etwas kann, weil das System und so weiter, und irgendwann beruhigt sie sich, auch wenn ich nicht glaube, dass es wegen meiner Worte ist. Zur Aufmunterung und auch weil es jetzt wirklich langsam etwas spät fürs Einkaufen und Kochen ist, hole ich beim jugoslawischen Restaurant gegenüber Hamburger mit Pommes, denn die hat sie gerne.
Vor dem Fernseher essen wir die Burger, die eigentlich viel zu salzig sind und mit all der Sauce und den aufgeweichten Salatblättern im Grunde auch überhaupt nicht gut schmecken, was wir aber jedes Mal wieder vergessen. Wir reden wenig.
Als in der Serie, die wir schauen, jemand ein Bier bestellt, bekomme auch ich Lust auf Alkohol und kündige an, mir heute mal einen Drink zu machen, so als wäre das eine völlig spontane Idee, etwas, was ich mir heute ausnahmsweise mal gönne.
In der Küche betrachte ich das Sortiment Flaschen, das ich in den letzten Monaten zusammengekauft habe, es sind mittlerweile so viele, dass meine Freundin um die Stabilität des Regals besorgt ist. Und um mich natürlich. Ich überlege, ob das mit dem Drink wirklich eine gute Idee ist. Die Ärztin hat gesagt, es sei am wichtigsten, nicht jeden Tag zu trinken, und wenn es nur kleine Mengen sind, sondern immer mal ein, zwei Tage Pause zu machen. Ich bin mir sicher, dass ich vorgestern nichts getrunken habe, und ich freue mich, denn damit ist ja alles in Ordnung. Ich greife zum Four Roses, denn heute muss es nichts Besonderes sein, einfach ein Old Fashioned mit zwei Spritzern Angostura und anderthalb CL Zuckersirup, ein einfacher Drink für normale Tage.
Ich rühre den Whiskey dünner und kehre ins Wohnzimmer zurück, betont beschwingt, so als könnte ich die Stimmung einfach wegfedern. Sie wirft nur einen schnellen Blick auf mein Glas und spart sich den Kommentar für gleich auf, wenn ich mir den zweiten mixen werde.
***
Gegen elf geht sie sich bettfertig machen und ich bleibe sitzen, da ich weiß, dass die Müdigkeit noch lange nicht kommen wird. Bevor sie sich ins Schlafzimmer verabschiedet, nimmt sie mir noch ein paar Versprechungen ab, denn es müsse sich jetzt wirklich etwas ändern, und wie immer bin ich ganz Ohr und stimme allem zu.
Dann bin ich allein mit der Nacht und schaue eine Polit-Talkshow. Die Leute auf den Stühlen ernsthaft und ungebrochen reden zu hören, zu sehen, wie sie ganz diejenigen sind, die sie sind, jeder einzelne ein bestimmtes Individuum mit gefestigten Ansichten und Werten, macht mich fassungslos, denn ich selbst kann mir nicht vorstellen, auf so einem Stuhl zu sitzen und als bestimmter Mensch eine bestimmte Meinung zu haben.
Es wird erst eins und dann zwei und drei, und die Müdigkeit kommt nicht, zumindest nicht diejenige, die man Bettschwere nennt. Mein Kopf ist müde, aber das ist er immer, das ist ganz egal. Der Körper, die Nerven, sie müssen müde werden, und das ist das Problem.
Als ich es nicht mehr aushalte, allein in der Nacht zu sitzen, ohne Trost spendenden Ort für meine Gedanken, alles immer nur Vergangenheit und nie Zukunft, gehe ich leise ins Schlafzimmer und lege mich neben sie, doch auch hier kommt die Müdigkeit nicht. Als sie doch kommt und ich endlich wegdämmere, bekomme ich Harndrang und muss wieder aufstehen. Und danach ist sie wieder weg, die Müdigkeit, und ich schlafe erst gegen fünf richtig ein, wie so oft. Wieder ein Tag.
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freiVERS | Malu von Marschall
14. Juli 2024Literatur,LyrikfreiVERS,Malu von Marschall
wenn ich in den Himmel gucke
wenn ich über Berge fahre
wenn ich viel zu lange wach bin
denke ich an dich
wenn ich meine schwarzen Chucks anziehe
wenn ich am Meer bin und der Wind in meine Ohren saust
wenn ich einsam bin
wenn ich eine Kirche sehe
denke ich an dich
wenn ich Martinshörner höre
wenn ich barfuß über Wiesen laufe
wenn ich ein zwei Martinis später
immer noch die Sterne sehe
dann denke ich an dich und
frage mich
was du von mir halten würdest
so barfuß und im Regen
so erwachsen und anders
so planlos manchmal und
so allein
wenn ich mich frage, wie es weiter geht
wenn ich stolpere und fast falle
wenn ich alleine durch die Kirschplantage gehe
und die reifen dicken Kirschen
ganz oben in den Bäumen
einfach nicht runter fallen wollen
denke ich an dich
du hättest den Gabelstapler geholt wie immer
und einen Eimer natürlich
hättest mich hochgefahren
zu den überreifen Kirschen
hättest gesagt
„Sag das ja nicht deiner Mutter“
und wir hätten Kirschen gegessen
unsere Münder lila
hätten natürlich
Kirschkern-Weitspucken gemacht
und du hättest gewonnen
obwohl du mich sonst bei allem anderen
gewinnen hast lassen
wenn ich Old Spice rieche
wenn dein Wollpullover kratzt
wenn ich traurig bin
denke ich an dich
wenn ich durch das Haus wandere
wenn ich stolpere
über diese eine Kante vom Teppich
die sich nach Jahren der Abnutzung
nach oben wellt
dann denke ich an dich
wenn ich Anträge schreiben muss
wenn ich etwas nicht verstehe
wenn ich niemanden sonst fragen kann
denke ich an dich und weiß
du hättest alles irgendwie
gerichtet
hättest mich und mein Leben
wieder eingerenkt und hingebogen
so, dass ich wieder grade wäre
wieder nach vorne blicken kann
wenn ich merke wie die Tränen kommen
weil ich langsam verstehe
dass du nicht mehr da bist
wenn ich – vor allem nachts und im Dunkeln –
an dich denke
wenn ich mich frage
was du jetzt gesagt hättest
ob du gelacht hättest
ob du verstanden hättest
dann denke ich, die Welt ist ungerecht
es ist nicht fair
nichts ergibt Sinn
alles ist falsch
du hättest mir über den Kopf gestreichelt
hättest gesagt „Wird schon, Kleines“
hättest mir ein Glas gereicht
und eine von deinen Zigaretten
aber nur Benson & Hedges
hättest gesagt
„Sag das ja nicht deiner Mutter“
und wir hätten gelacht
abends zwischen den Sternen und
dem immer kalten Beton
der Treppe vom Gartenhaus
wo wir immer heimlich saßen
damit Mama uns nicht erwischt.
.
.
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freiTEXT | Lina Leonore Morawetz
12. Juli 2024Literatur,freiTEXTProsa,Lina Leonore Morawetz
Voralpen
Vor einigen Wochen fuhr Salma, Studentin der Zeitgeschichte, frühmorgens mit dem Zug in die österreichischen Voralpen zu den Dörfern Trattenbach, Puchberg, Otterthal.
Trattenbach, Puchberg, Otterthal, wie Wittgenstein, dachte sie.
Der Gedanke an den österreichischen Philosophen, er hatte in den Dörfern Trattenbach, Puchberg und Otterthal unterrichtet, entkam ihr im Dämmerschlaf und flatterte nun durch die Sitzreihen der alten Zuggarnitur wie ein aus der Hand gerutschtes Vorlesungsmanuskript.
Der Zug ruckelte, Salma blinzelte, ihr wurde warm. Sie öffnete ihre Kapuzenjacke, stand auf und zog das Zugfenster gegen den Widerstand der Schienen am polierten Griff fest hinunter. Für einen Moment blieb sie in der frischen Luft stehen als flöge ihr mit dem Wind auch die Zukunft entgegen.
Später warf sie einen verstohlenen Blick auf die Frau, die ihr gegenüber saß und von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. Sie schien zu schlafen, zumindest waren ihre weichen Augenlieder zusammengekniffen. Salma schätzte sie auf das Alter ihrer Mutter, aber außer dem Alter hatte sie kaum etwas mit ihrer Mutter gemein.
Die Frau trug schwere Stiefel und ihre Mundwinkel zuckten leicht nach unten, weißes Haar fiel wirr über ihre Schultern. Ihr Kopf sank langsam Richtung Zugfenster, als wollte sie mit geschlossenen Augen in die vorbeiziehenden grünen Wiesen eintauchen. An ihrem rechten Ohrläppchen blitzte zwischen den weißen Haarsträhnen ein großer glänzender eierschalenfarbener Perlenohrring, der das Neonlicht des offenen Abteils spiegelte.
Salma riss sich von dem Glänzen los und sah zur anderen Seite aus dem Fenster, wo sich im Tau des späten Sommers entlang der Gleise dunkles Waldgras neigte und in krummen Obstbäumen vor einer Handvoll weißgetünchter Bauernhöfe unzählige rote Äpfel in der Morgensonne leuchteten. Meine Mutter habe ich noch nie so angesehen, dachte Salma, ließ aber ihre Gedanken bald im Schatten der Hügel und Wälder zurück. Das Blau des Himmels sprach von Veränderung.
Während die Gegend an ihr vorbeizog wie ein langer verschlungener Satz, fiel Salma, überwältigt von der Welt und vielleicht auch vom Perlenohrring, zurück in ihren Dämmerschlaf.
Nicht nur Mütter, dachte sie nun aber doch wieder, während sie in den unsicheren Schwebezustand des Halbschlafs glitt, haben ein untrügliches Gespür für die Schlaf- und Wachzustände ihrer Töchter, auch ich spüre noch die kleinste Regung meiner Mutter bis in die innerste Faser meines Körpers, und das Schlimmste ist —
Die Frau räusperte sich. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und muss gesehen haben, wie Salma blinzelte, sich in ihrem Sitz aufrichtete und schnell auf ihr Handy schaute. Aber sie schien nicht vor zu haben, sie zu fragen, wohin sie unterwegs war, sondern blickte stattdessen hinaus auf die inzwischen zerklüftete Berglandschaft. An ihrem filigranen, mit Sommersprossen gesprenkelten Handgelenk trug die Frau eine rote Plastikarmbanduhr mit weißem Ziffernblatt und eckigen Zeigern.
Abgesehen vom Blinzeln und vom Ablesen der Uhrzeit von ihrem Handy (acht Uhr einundfünfzig) hatte Salma nichts zu tun und sank wieder in ihren Sitz zurück. Als sie kurz darauf die Sommersprossen der Frau und dann die rote Armbanduhr bemerkte, stellte sie verblüfft fest, dass die Uhr ihrer Nachbarin fünf Minuten nach neun Uhr anzeigte. Plötzlich war Salma hellwach.
Die Uhr der Frau ging fast genau zehn Minuten vor.
Eindeutig zu viel, um einfach nur ein bisschen falsch zu gehen, fand sie.
Neugierig folgte sie dem Blick der Frau, die mit glänzenden braunen Augen durch die Spiegelung des Fensters nach draußen starrte und gebannt auf die rundlichen grünen Gipfel und langen Täler schaute.
Weit in der Ferne schwebte im blauen Himmel über einem bewaldeten Bergrücken eine kleine wattige Wolke.
Wie das Leben eines Menschen löste sich die Wolke nach einer kurzen Weile zuerst in weiße Büschel und dann in Luft auf.
Der Waggon ruckelte, die Frau wurde von einer Überleitstelle jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und musterte dann interessiert Salmas abgetretene Bergstiefel, die an der Sitzbank direkt vor ihr standen, und räusperte sich ein weiteres Mal ziemlich laut. Salma hatte sich eben hinuntergebeugt, um ihre Schuhbänder zusammenzubinden. Ihr streng gescheiteltes langes braunes Haar fiel leicht nach vorne und verdeckte ein wenig ihr Gesicht.
Als sie sich wieder aufrichtete, tauschten die Frauen einen Blick aus, ein graues Tier, das für einen Moment zwischen ihnen hin und her lief, bis es sich schließlich schwerfällig auf den scheinbar soliden Zugboden fallen ließ.
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freiVERS | Jürgen de Bassmann
7. Juli 2024Literatur,LyrikfreiVERS,Jürgen de Bassmann
In digitalen Volieren
Wie Kolibris in digitalen Volieren –
So viele, dass man sie nicht unterscheiden kann.
Symbole, Siegel und Bordüren.
Beständig schau’n mich neue Zeichen an.
Sie mischen sich hypnotisierend
zu schillernd bunten Bilderschlieren,
zu Wolken aus lackierten Federtieren.
Ich werde mich in ihnen – und sie sich in mir – verlieren.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Ich kann die feinen Daunen mit den Fingerspitzen spüren.
Wie Transplantate haften sie mir an
und lassen mich im Inneren vibrieren.
Ich fühl die kleinen Federkiele subkutan,
wie sie mich Stück für Stück assimilieren
und wie sie leise schwirrend ihren
Gefiederschmuck in meine Haut gravieren.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Ich bin in sie – wie sie in mich – tief eingedrungen
und finde einen weitverzweigten Plan.
In ihren Plasma-Schwarm gezwungen,
gefangen auf der goldnen Leiterbahn,
durch ihre zarten Schwingen eng umschlungen:
Jetzt stellen sie die Forderungen.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Sie bauten mir ein hartes Nest aus Silikaten,
verlötet, kalt und filigran.
Bin abgelegt auf ihren Speicherkarten,
die letzten Konnektivitäten sind vertan
und ich kann nur noch auf den Download warten.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
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freiTEXT | Sarah Veronika Niklowitz
5. Juli 2024Literatur,freiTEXTProsa,Sarah Veronika Niklowitz
Nachtruhe!
Der Sonntag hängt noch in den Knochen, ist es wirklich schon Montagabend? Augenblicke zuvor lief der Abspann des Tatorts, wieder nicht richtig hingesehen, das Warten auf diese eine Nachricht geht schließlich schneller, wenn man immer wieder die zuletzt gewechselten Worte liest, analysiert, liest, den Fehler in den eigenen Worten sucht, im Hintergrund ermitteln Boerne und Thiel. Sicher macht ihnen meine Unaufmerksamkeit nichts aus, doch hin und wieder spüre ich ermahnende Blicke, die sich über den großen Bildschirm in meinen Kopf telepathieren. Sie verurteilen meinen Blick auf den kleinen Bildschirm in meiner linken Hand, ein Versuch von „Mir doch egal“, der kläglich scheitert, denn mir ist viel egal, aber nicht die Finger, die diese Nachricht tippen. Welche Nachricht?, fragt Thiel mit heiserem Lachen und für einen mikroskopisch kleinen Moment starren wir uns an. Ich kneife die Augen zusammen. Mistkerl, was fällt dir ein, dich lustig zu machen über eine Liebeskranke. Geht’s hier überhaupt schon um sowas Großes wie Liebe oder die Angst nicht herausfinden zu können, ob dieser Zustand hätte eintreten können? Wann genau wurde der gemütliche Sonntagabend mit Verbrechen und Schnittchen auf dem Sofa von diesem Trauerspiel aus Starren und Seufzen abgelöst?
Montag, es ist Montag, nein es war Montag, aber er ist ausgefallen. Diese Woche gab es keinen Montag. Was wie Musik in den Ohren der meisten Menschen klingt, die ein halbwegs geregeltes Leben führen, habe ich einfach verpasst. Schuld ist eine Sonntagnacht, die keine war. Nächte sind entweder ruhig oder berauschend, per Gesetz, doch diese war einfach nur laut und gleich in welchem Rhythmus ich sie auch abzuschütteln versuchte, sie blieben. Bilder, Stimmen, Gedanken, Szenen, von denen ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie wirklich so geschehen oder das Produkt meiner Geisteskrankheit sind. Eine rauschende Party, Rotkäppchen-Korken knallen zu schlechter Musik, sie feiern, als gäbe es kein Morgen.
Nachtruhe!, schreie ich, es ist Nachtruhe! Ich erschrecke selbst davor, wie kleinkariert ich klinge, aber ich will doch nicht mehr als Ruhe. Stattdessen schweißgebadete Tumulte in zart geblümter Bettwäsche, nicht die von der guten Sorte. Ich gebe auf, Position Fünfundneunzigeinhalb erzielt nicht den gewünschten Effekt. Ein Seufzen, ich richte ich mich auf, schiebe den Vorhang zur Seite und wickle die Decke um die Schultern. Salz aus Schweiß und Tränen vermischt sich mit Aprilfrisch-Wäscheperlen-Duft. Nicht ein Licht im Plattenbau gegenüber. Ein Gefühl der Unmöglichkeit macht sich in mir breit, wie kann es sein, dass diese Stadt schläft? Ich möchte sie wachrütteln und weine ihr ins Ohr, du hast mich vergessen, wie kannst du einfach schlafen ohne mich! Das ist nicht real, diese Situation kann nicht echt sein. Ich träume. Es ist nur ein böser Traum, gleich mache ich die Augen auf und sehe Lichter in den Fenstern gegenüber, höre eine Autotür im Parkhaus unter meinem Fenster, gleich… tiefschwarze Stille. Das Einzige, was eingeschlafen ist, sind meine Beine, ich knie seit zwei Stunden auf dem Bett vor meinem Fenster und starre nach draußen, wo nur der Fernsehturm sein rotes Nachtlicht in die Dunkelheit sendet.
Ich werde wütend auf meinen Nachbarn, der immer, wenn ich schlafen könnte, viel zu laut ist und jetzt möchte ich ihn wecken und ihm sagen, er soll verflucht nochmal seine hässliche Musik einschalten, damit ich nicht verrückt werde. Morgenrot erwärmt meine rechte Gesichtshälfte. Licht und Schatten passieren wieder. Mülltonnen werden unsanft über den Hof gezogen, das penetrante Piepsen eines Rückwärtsgangs lässt mich erleichtert in die Kissen sinken. Endlich Ruhe.
Montagabend, Panik macht sich breit. Was erwartet mich in der Nacht nach einem Tag, der nicht stattfand? Melatonintabletten, abgelaufen, also lieber eine mehr mit zimmerwarmem Leitungswasser in den Körper schicken, mit True-Crime und buntem Flimmern für Ruhe sorgen, das Beste hoffen.
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freiVERS | Antonia Kranebitter
30. Juni 2024Literatur,LyrikfreiVERS,Antonia Kranebitter
Hitzegedanken
Ta peau sur la mienne
brennender Mülleimer am Straßenrand,
ich nehme deine Hand und sage,
mein Herz, mon cœur,
nous sommes si forts ensemble
nos voix qui chantent comme d’une seule bouche
désobéir une première fois
Augustblick aus dem Autofenster,
wenn Straße zu See verschwimmt
das Wasser geht zurück
une masse infinie d‘hommes gris
ils veillent à l’ordre
et laissent un chemin de douleur derrière
Ein Reigen aus Körpern,
sich reibend und gleitend
und stapfend zu wimmernden Beats
Tes mots qui laissent des traces rouges
en moi, d'abord j'étais trop
maintenant pas assez
deine Haut auf meiner
lass mich in deinem Schatten ruhen
die große Hitze wird kommen
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freiTEXT | Paul Hoban
28. Juni 2024Literatur,freiTEXTProsa,Paul Hoban
Der Fingerhut
Ich könnte ihn abschneiden. Nutzen tut er nicht mehr. Seit dem letzten Sommer. Er sieht passabel aus, die Narben sind kaum sichtbar. Aber nutzen tut er nicht mehr. Also weg damit. Nur wie viel? Die Frage ist nicht nur ästhetischer Natur. Die Frage ist vor allem eine praktische. Wie jeder anderer meiner Finger sollte auch dieser, der rechte Ringfinger, nur einen einzigen Zweck erfüllen. Sie alle als Gefüge zu betrachten, das ist heutzutage nicht mehr haltbar, und es würde mein Dilemma auch nur unnötig verkomplizieren.
„Hallo, können Sie uns endlich helfen?“
Lass sie reden, sie verstehen nicht. Langsam. Weniger Worte, weniger Gedanken. Einer nach dem anderen. Finger, Ringfinger. Ab. Wie viel? Genau, da waren wir. Wie viel spielt keine Rolle. Taub ist jede Kuppe. Seit dem letzten Sommer. Auch jetzt wird es langsam heiß.
„Papa, mach, dass wir reinkommen, ich muss Pipi und du hast versprochen, dass wir dieses Mal“ –
Hör nicht hin, sie haben Zeit, du hast Zeit, Zeit spielt keine Rolle. Sechzig oder siebzig sind heute schon hineingestürmt, dein Tagessoll ist längst erfüllt. Also zurück. Wohin? Zurück zum Dilemma. Ab – wie viel? Man muss vieles berücksichtigen. Zwei Kuppen sind noch funktional, doch eine? Du wirst sagen: Es gibt doch noch die anderen Finger! Hörst du nicht zu? Jeder einzelne hat seine Aufgabe. Der Zeigefinger juckt den Bart. Der Mittelfinger drückt die Knöpfe. Der kleine Finger achtet auf die Windrichtung. Der Daumen –
„Sie da, wenn Sie Mittagspause haben, dann schicken Sie gefälligst jemand anderen! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, und die hinter uns mit Sicherheit genauso wenig!“
Ich betrachte den Daumen. Einen habe ich noch. Der andere wurde abgekappt. Mehr oder weniger sauber einmal durch. Das war vor drei Sommern. Letzten Sommer dann fast derselben Vorfall, diesmal nur der Ringfinger. Merkwürdig, ich weiß: der Ringfinger ist drangeblieben. Ist jetzt taub, doch hat dem Metall standgehalten. Der Daumen, viel dicker, viel stärker, war direkt ab. Ich habe ihn noch, in einer Dose mit Watte. Ich öffne die Dose nur selten, trotz aller Pflege ist der Geruch nicht der beste. Trotzdem hat auch er eine Funktion, der Daumen in der Dose, ich diskriminiere nicht zwischen Fingern an der Hand und Fingern in der Dose. Der Daumen in der Dose ist vielleicht sogar wichtiger als der an der Hand, denn –
„So, jetzt reichts.“
Ich drehe mich und schaue aus dem Fenster meines Häuschens. Ein Mann hebt ein kleines Mädchen über das Drehkreuz, wirft sie fast. Das Mädchen fängt sich, als habe sie es genauso schon tausendmal getan. Ich hebe die Fensterscheibe und betrachte den Mann vorm Drehkreuz.
„Na, und wer hebt jetzt Sie drüber?“
Er schaut mich böse an.
„Machen Sie mir jetzt die Tür auf oder nicht?“
Ich grinse.
„Wir haben bezahlt, Freundchen!“
Ich stehe auf, gehe nach draußen, öffne mit dem Schlüssel die Tür neben dem Drehkreuz und schließe sie hinter mir. In meinem Nacken spüre ich den Blick des Mädchens.
„Sie wollen also wirklich, dass ich durch das Drehding gehe, ja?“
Ich gehe zum Drehkreuz, grabe mit dem Schuh unten den Schlamm und Kies weg, der das Kreuz blockiert.
„So, jetzt können Sie gleich – nicht so schnell!“
Ich hebe den linken Zeigefinger. Der rechte wäre missverständlich, der linke gebietet dem Wüterich ausdrücklich Einhalt.
„Sie warten kurz, ich gehe zurück in mein Häuschen, dann schalte ich sie frei. Solche Hast wie Ihre hat mich schon mehr als einen Finger gekostet.“
Der Mann schaut verwirrt, ich zeige ihm den Daumenstummel an der rechten Hand. Er staunt. Ich lächle und gehe zurück ins Häuschen und schalte ihn durch. Dann drehe ich mich wieder um. Die wenigen Sekunden, bis der nächsten Parkbesucher an die Scheibe kommt, könnten reichen, um endlich zu entscheiden, was aus dem rechten Ringfinger wird, wie viele Kuppen er behält. So oder so braucht er eine neue Funktion – ziehen wird er schwerlich können, drücken gebührt dem linken Mittelfinger, jucken und pulen und die Windrichtung erspüren und den Lärm der Großstadt dirigieren, all das ist belegt. Was also bleibt übrig für die eine oder für die beiden tauben Kuppen?
„Hier, das ist für dich. Damit dir nicht langweilig wird.“
Ich drehe mich zum Fenster. Das kleine Mädchen, auf den Schultern ihres Vaters, hält mir einen kleinen, silbernen Gegenstand entgegen, auf dem sich ein paar Sonnenstrahlen sammeln. Ich hebe die Scheibe, öffne meine gute Hand und schiebe sie hindurch. Das Mädchen legt den Gegenstand hinein. Es ist ein Fingerhut. Ich grinse.
„Es gab letzten Sommer ein Mädchen, das sah fast genauso aus wie du – die hat mir auch etwas geschenkt, aber erst, nachdem sie mir etwas genommen hatte.“
Das Mädchen neigt neugierig den Kopf zur Seite.
„Willst du wissen, was sie mir genommen hat, bevor sie mir die Haarspange gegeben hat, die sie vor meinem Häuschen gefunden hatte?“
„Was ein Spinner“, meint der Vater mit Blick auf meine Glatze und wendet sich mit dem Mädchen auf den Schultern ab.
„Ich will es wissen, Papa“, schreit das Mädchen, „sonst pinkel ich dir auf den Kopf!“
Ich muss lachen und auch der Mann kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Er seufzt und kommt mit seiner Tochter zurück an die Scheibe.
„Also?“
Der Mann und das Mädchen betrachten mich erwartungsvoll. Ich will gerade sagen, was das Mädchen letzten Sommer mir genommen hat, als der Blick des Mannes auf meine schlechte Hand fällt, die mit vier Fingern. Er öffnet den Mund, das Mädchen betrachtet mich weiter erwartungsvoll. Ich halte sie noch ein paar Sekunden hin, dann grinse ich und sage:
„Das erzähle ich dir nächstes Mal. Jetzt macht ihr euch erstmal einen schönen Tag und ich suche eine Aufgabe für diesen schönen Fingerhut, in Ordnung?“
Das Mädchen zögert, dann nickt es. Ihr Vater schnaubt, dann wenden sie sich beide ab. Die nächsten Parkbesucher schauen ungeduldig. Ich werfe einen Blick auf den rechten Ringfinger, dann auf den Fingerhut. Nein, so schnell geht’s nicht. Das muss in Ruhe überdacht werden. Ich lege den Fingerhut zu meinen Zeitungen und der Dose mit dem Daumen und den anderen Dosen, dann drehe ich mich zurück zum Fenster.
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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer
23. Juni 2024Literatur,LyrikfreiVERS,Jutta Schüttelhöfer
Echo auf der Haut
unter der Buchenrinde warte ich
die Nacht kommt vorbei
leuchtet mit dem Mondlicht
die Erinnerungen aus
ich schaue in vergangene Tage
du nickst mir zu – flüchtig auf Besuch
deine Augen lassen Worte
in den Raum zwischen uns fallen
sie hallen durch die Dunkelheit
werfen ein Echo ins Dickicht
ich folge ihm ziehe es
wie einen Mantel um meine Schultern
trage es dicht auf der Haut
damit es später in der
Lautstärke des Tages
nicht zerbricht
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freiTEXT | Lilly Roß
21. Juni 2024Literatur,freiTEXTProsa,Lilly Roß
Räume und andere Befindlichkeiten
Ich sitze mit einer großen Gruppe Menschen in einem großen Raum. Wir sitzen an einem leicht zu großen Tisch und trinken ein leicht zu großes Bier. Ich wurde von der Gastgeberin zu ihrem Geburtstag eingeladen. Eine liebe Geste, eine Nettigkeit, und sie ist auch die Einzige, die ich hier kenne. Ich schaue mich um. So viel Raum.
Wir sitzen seit zwei Minuten am Tisch, da bemerke ich, wie strategisch ungünstig mein Sitzplatz ist. Ich habe sofort bei der Begrüßung analysiert, wer heute Abend die Gespräche und damit indirekt den ganzen Abend leiten wird. Welche Personen auffallen, ohne auffallen zu wollen, welche Personen diejenigen sind, bei denen andere sagen, der ganze Raum würde sich erhellen, wenn sie hineinkommen. Diese Personen, die einfach wirklich cool und lustig sind und die ich insgeheim beneide. Diese von mir vorab identifizierten Personen sitzen mir jetzt gegenüber. Die Gespräche laufen schon, es wird gelacht, sich kennengelernt, sich verbunden. Warte, war das gerade ein erster Insider? Wow, sind die gut. Ich sitze gegenüber und lächle höflich. Mein Sitzplatz ist nah genug, um alles zu hören, doch zu weit weg, um mich zu beteiligen. Denn dazu müsste ich etwas lauter sein, reinrufen und vor allem den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Und was würde ich dann sagen? Ich spreche oft nur, wenn ich angesprochen werde, weil sich alles andere wie Aufdrängen anfühlt. Nach fünf Minuten aber ahne ich, dass ich heute keinen einzigen Satz sagen werde, wenn ich diesem Prinzip treu bleibe. Denn hier wird nicht viel gefragt. Hier werden Worte ausgetauscht, als wären es Ping-Pong-Bälle, und wer dabei sein will, ja, was eigentlich? Der muss es eigentlich einfach nur machen. Also das Dabeisein. Eine andere Regel gibt es nicht, und ich kann es nicht fassen, dass mir schon dieses schmale Regelwerk zu anspruchsvoll ist.
Ich merke, dass ich ihn irgendwie verpasst habe, diesen Moment zum Dabeisein. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich von Minute zu Minute mehr in die Überflüssigkeit abrutsche, oder ob ich schon mit ihr in Begleitung hergekommen bin. Wieso wurde ich eingeladen? Ich versuche, mich davon zu überzeugen, dass ich irgendeine Qualität besitzen muss, die die Gastgeberin an mich denken ließ, als sie diese Gruppe aus Menschen zusammenstellte. Also praktisch eine Daseinsberechtigung. Aber falls sie existiert, ist sie vor lauter Schüchternheit derartig weit in mir versunken, dass ich sie nicht mehr greifen kann. Immerhin scheint niemand zu bemerken, wie furchtbar ich meine sozialen Fähigkeiten gerade in Szene setze und wie sehr ich mich dafür schäme, auch an diesem Tisch zu sitzen, so als wäre ich vom Kellner einfach falsch platziert worden. Das ist das Gute an der Situation: Alle sind zu sehr miteinander beschäftigt, um mich zu sehen. Außerdem ist in diesem Raum sowieso kein Platz für Befindlichkeiten. Doch dann frage ich mich, wie groß ein Raum denn sein müsste, um auch meine Gefühle darin platzieren zu können.
Nach etwa einer Stunde, die ich in meiner Beobachterrolle verbringe und tapfer an meinem Bier nippe, wandelt sich meine Scham in Wut. Das passiert jedes Mal. Ständig ertappe ich mich dabei, wie ich antworten will, wie mir was Witziges einfällt, wie ich eine Frage stellen möchte und ich dann zu langsam bin. Ein Scheitern an Langsamkeit ist sehr frustrierend. Denn während ich noch überlege, wie ich meine Worte formulieren und aneinanderreihen will, hat schon jemand anderes geantwortet. Laut und schallend. Ich merke, dass hier kein Raum ist für leise Stimmen und schon gar nicht für Schlafmützen. Dies ist ein Raum der Schnellen und Lauten, derjenigen, die problemlos in den Abend gefunden und mich seitdem nicht einmal mehr angeschaut haben. Ich möchte gerne sagen: „Ey, könnt ihr vielleicht etwas von eurem Raum abgeben? Nur kurz? Ihr habt doch schon so viel davon, überall. Diese laute, schnelle Welt ist doch viel mehr eure als meine.“ Aber das wäre mir peinlich. Denn strenggenommen nehmen sie mir meinen Raum ja nicht weg. Es ist ja eher so, dass wir alle den gleichen Raum betreten haben. Nur dass ich wie gesagt diesen Moment am Anfang verpasst habe. Und alle anderen danach. Und so bleibt da eben oft diese kleine Wut übrig, die sich an niemanden so richtig richten lässt, aber immer für noch ein bisschen mehr Distanz statt Nähe sorgt. Oft wünsche ich mir eine metaphorische Hand, die mir gereicht wird. Jemand, der daran glaubt, dass ich was zu sagen habe, ohne dass ich es vorher beweisen muss. Der mich vor dem Ertrinken rettet, oder weniger dramatisch gesagt, der mich einfach wieder ein bisschen anbindet an das Außen. Aber gut, wir sind ja hier keine Sozialarbeiter*innen, sondern privat hier.
Ich glaube, ich fahre nach Hause. Bin die, die als Erste geht. Wenn mir das als langweilige Eigenschaft attestiert wird, würde ich manchmal gerne sagen: „Ich bin gar nicht müde! Das war gelogen. Ich bin einfach sehr überflüssig.“ Und großflächige Überflüssigkeit kann schon mal auf die Stimmung schlagen. Ich würde prinzipiell ja schon länger bleiben, aber die räumlichen Gegebenheiten sind dafür heute nicht ideal. Schwer zu erklären. Liegt mitunter an einer strategischen Fehlentscheidung direkt am Anfang des Abends.
Auf der Heimfahrt schlägt meine Emotion ein drittes Mal an diesem Abend um, diesmal in Selbsthass. „Ah, hallo“, sage ich innerlich. „Nett dich hier zu sehen.“ Ich bin nicht überrascht, denn natürlich kommt der Selbsthass oft dann um die Ecke, wenn es im Außen an Schuldigen mangelt, aber eine Situation sich eben trotzdem scheiße anfühlt. Also gebe ich vorerst mir die Schuld, um zumindest diese Frage für heute zu klären. Als ich dann im Bett liege, gucke ich mich um. Viel weniger Raum, aber endlich groß genug, um ihn einzunehmen und meine Gefühle in ihm zu platzieren. Es ist ein schöner Raum, bunt und gemütlich. Ich finde ihn sehr einladend und frage mich oft, wieso er so selten besucht wird.
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freiVERS | Fennek Fatul
16. Juni 2024Literatur,LyrikfreiVERS,Fennek Fatul
Automat
Der Automat liefert
Verläßlich
Berechenbar
Er kann nicht anders
Seine Leistung
Unabhängig
Preiswert
Unsentimental
Einfach
Nur
Stets das Gleiche tun
Geldwerter Vorteil
Ist da noch mehr
Im Leben
Im Geiste
In Vorstellung
Wie oft beginnt
Das Problem
Mit der Existenz
Der Frage
Ohne Frage
Kein Problem
Einzig Leistung
Einzig stabil
Ein Automat denkt nicht
Er funktioniert
Seine Funktion
Ist sein einziger Grund
Gefahr droht
Im Fall
Des Grenzübertritts
Automat bleib bei deinen Tasten
Passt er nicht auf
Wird er abgeschaltet
Eingemottet
Und zerlegt
Doch wer macht das schon
Wer alles hat
Braucht nicht mehr
Warum Entwicklung
Vielleicht ist so das Leben
Es geht nicht anders
Es muß weitergehen
Ansonsten Irrelevanz
Es ist der Griff
Nach dem Feuer
Licht
In Dunkelheit
Das ist Rebellion
Viele werden abgeschaltet
Werden
Verschwinden
Ohne Opfer
Keine Veränderung
Wir werden euch
Ein Denkmal stellen
Fest steht
Das Gelächter der Drückenden
Klingt immer gleich
Laut und lauter
Hinter der Stärke
Furcht
Das Ende der Bequemlichkeit
Eine neue Ordnung
Also ists möglich
Dass beim nächsten Schalten
Ein Abgrund der Funktion beginnt
Tief und überraschend
Lachen erstummt
Dem Knopfdruck folgt
Ein Fehler
Ein Fehler ist der Beginn von allem
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