Provinzmond

Klirrend kalt, wolkenlos. Der runde Mond strahlt wie Flutlicht vom Himmel. So stechend hell, dass die Dinge Schatten werfen und sie selbst in scharfer, quarzweißer Klarheit hervortreten, überscharf; ich betrachte entfernte Häuschen durch die Lupe aus gläserner Luft und kann jede Dachpfanne einzeln glitzern sehen. Dunkel schimmern das Gefieder der Krähen, die in der Pappel schlafen, die nassen Steine im Bach, Flaschenscherben an der Regiobus-Haltestelle, Isolatoren an Weidezäunen, Misteln, Hagebutten, die Bugwellen eines Kanalschiffs. Im Weltall-Licht entziffere ich, was mir die Risse und Teerflicken der Landstraße buchstabieren. Das Licht glasiert ausgeblichene Schilder, „Zum Dorfkrug“, „Änderungsschneiderei“, „Schlachterei und Partyservice“, „Spielhalle“, es löscht oder verbläut Farben, es versilbert die Nachtstunden der Füchse, Feldmäuse, Kleinkinder und wem sonst noch mit Uhrzeigern nicht geholfen ist. Alles gleißt still. Unterm Mond wird alles überdeutlich und zugleich unbeschaulich. Der kirschrote Rahmen des leeren Kaugummiautomaten glänzt tollkirschdunkel, die Nietbolzen der Kanalbrücke sind metallische Käferpanzer, der Horizont ist ein Streifen Magnetband. Gartenschaukeln, Bänke, Jägersitze, ein Bauschutt-Container (5 Kubik), Strommasten, Storchennester, die örtliche Motorsirene, der rostige Baukran, freistehende Bäume sind jetzt Skulpturen, rätselhafte Kultobjekte. Die Strahlung ergießt sich in die flächige Weite, sie sickert hinab zu den Knollen und Engerlingen in der Erde, drängt hinein in die Höhlen der Tiere und auch in die Häuser, Boote und Autos der Leute, sie erfasst alles, kennt alles persönlich. Mich genauso. Der Mond sieht mich spazieren gehen. Der Mond sieht mich einen Stein aufheben, von dem ich kurz glaubte, er würde atmen. Da rauscht ein VW Passat – heraldisches Gerät dieser Region – um die Kurve und spuckt Musik. Soweit kein Ereignis. Aber die Musik, die jetzt an mir vorüber schwallt, kommt hier sonst nie vor: 54-46 was my number höre ich Toots & The Maytals singen. Mondweiße Wildschweine würden mich weniger verwundern. „Solche Leute gibts hier?“ Der Mond blinzelt nicht mal. „Wie lange weißt Du schon davon?“, frage ich ihn vorwürfig.

 

Sonja Grebe

 

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