02 | Stephanie Nebenführ
Das Wasser unter den Mühlen
Rheinsberg und seine Schwester stehen auf dem Bürgersteig vor dem Haus und machen einen Flohmarkt. Sie wollen Steine, selbstgemalte Bilder und tote Schmetterlinge an die Nachbarn verkaufen. Die Nachbarn kommen aber nicht vorbei an diesem Morgen. Nur die gelbe Katze von gegenüber streicht Rheinsberg ein paar Minuten lang um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie im Garten hinter ihm verschwindet. Das alles ist zwanzig Jahre her und die Katze tot. Rheinsberg dagegen lebt noch.
Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und niest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschentuch hervorholt.
Im Februar geht Rheinsberg an einem Freitag vor Sonnenaufgang mit dem schwarzen Hund der Nachbarin spazieren. Er läuft durch die Industriegebiete und kommt schließlich zu den Feldern, die weit draußen vor der Stadt liegen. An einer Wegkreuzung steht eine alte Linde, an deren Stamm ein kleines Schild befestigt ist.
Das Schild informiert darüber, dass an dieser Stelle im 17. Jahrhundert der Galgen der angrenzenden Stadt stand. Rheinsberg verstopft sich die Ohren mit Wachs und bindet dem Hund einen Faden an den Schwanz. Dann lässt er ihn in der Erde unter der Linde graben. Als der Hund eine Alraune ausgräbt, bindet Rheinsberg das andere Ende des Fadens an der Pflanze fest, zeigt dem Hund ein Stück Wurst und wirft es ein paar Meter weit weg. Der Hund rennt hinterher, während die Alraune an seinem Schwanz aus der Erde gezogen wird und zu schreien beginnt. Nach ein paar Sekunden bricht der Hund tot zusammen. Rheinsberg beugt sich über ihn und steckt die Alraune in seine Hosentasche. Dann kehrt er nach Hause zurück.
Andere Namen für die Alraune sind: Mandragora, Alruncke, Arun, Baaras, Galgenmännchen, Wurzelknecht und Springwurz.
1999: Rheinsberg schneidet Ankündigungen für Erotikfilme aus der Fernsehzeitung seiner Eltern aus. Er legt sich ein DIN-A-4-Heft an, eines, das für die Schule bestimmt ist, und klebt alle Anzeigen sorgfältig in das Heft ein.
Rheinsbergs Sammelleidenschaft kommt heraus, als er in den Sommerferien des gleichen Jahres mit seinen Eltern und seiner Schwester in den Urlaub fährt. Als sie wieder nach Hause kommen, liegt das DIN-A-4-Heft im Mülleimer des Kinderzimmers. Von da an kann er seiner Großmutter, die sich, kaum ist die Familie weg, durch die leeren Zimmer schleicht, nie mehr in die Augen sehen.
In manchen Nächten träumt Rheinsberg davon, ein Auto zu haben. Das Auto fällt ihm im Traum plötzlich ein, er weiß nur nicht mehr, wo er es geparkt hat. Dann gerät er in Panik: dass er das Auto verloren hat, soll sein Vater nicht erfahren.
Kurz vor Ostern findet sich Rheinsberg in einer leeren Kirche wieder. Er betritt die Kanzel und wendet sich schüchtern der nicht anwesenden Gemeinde zu. Dann räuspert er sich und sagt:
„Ich bin das Wasser unter den Mühlen.“
„Ich bin der holprige Weg ins Tal.“
„Ich bin der Hund hinter einer Glastür.“
„Ich bin das Pochen am Fenster.“
„Ich bin der Paartanz in einer zu engen Küche.“
„Ich bin der Blick auf eine hinter Tannen verborgene Großmutter.“
„Die Menschen lassen durch ihren Tod die Orte im Stich“, sagt Rheinsberg, als er mit einem Freund durch die Stadt geht. Der sagt: „Halt doch endlich mal die Klappe.“
Rheinsberg öffnet den Mund um zu antworten, doch bevor er etwas sagen kann, beginnt ein neuer Abschnitt:
Am Muttertag besucht Rheinsberg endlich seine Mutter. Sie sitzen auf der Terrasse, essen Kuchen und reden nicht über die Großmutter. Als die Mutter kurz im Badezimmer ist, schleicht sich Rheinsberg in ihr Schlafzimmer und schiebt die Alraune, die mittlerweile aufgehört hat zu schreien, unter die Matratze. Dies ist sein Muttertagsgeschenk.
Legt man eine Alraunenwurzel auf den Kaminsims, soll sie dem Haus Wohlstand, Fruchtbarkeit und Schutz bringen.
Legt man sie in ein Bett, soll sie den Schläfer vor Schwermut zu bewahren.
Rheinsberg fertigt heute sein eigenes Grabtuch an. Er presst sein Gesicht in das feuchte Geschirrhandtuch aus der Küche, und lässt es den Abdruck seines Gesichts annehmen. Das wiederholt er mehrmals mit verschiedenen Handtüchern und verteilt sie anschließend an seine Freunde. Sie sollen sie aufbewahren in ihren Nachtschränken, so dass ein Teil von ihm übrig bleibt, wenn er mal nicht mehr ist.
Der Sommer geht seinem Ende entgegen. Dies bedeutet für Rheinsberg und die anderen Mädchen die Rückkehr nach Lindenhof. Was ist das für ein Hallo auf den Gängen des Internats! Die Mädchen toben umeinander, verlorene Tennisschläger liegen auf den Gängen, und auf einem jeden Mädchengesicht tanzt ein Lachen. Carlotta, das lebhafte Mädchen mit den dunklen Augen, hakt Rheinsberg unter, und zusammen begrüßen sie Bobby und Jenny. Die beiden sind schon fleißig dabei, Streiche für das kommende Schuljahr auszuhecken. Die fröhlichen Zwillinge Hanni und Nanni stoßen dazu und umarmen Rheinsberg herzlich. Hanni hat in den Sommerferien noch mehr Sommersprossen bekommen als sonst, und Bobby seufzt laut auf: „Na wenigstens kann man euch Zwillinge dann für eine Zeitlang auseinanderhalten!“ Alle lachen. Die stille Hilda, die im letzten Jahr das Amt der Klassensprecherin innehatte, tritt zu der kleinen Gruppe und gibt Rheinsberg feierlich die Hand. Dann winkt die sportliche Marianne von weitem, und sogar Elli, die eitle Cousine der Zwillinge, sieht kurz von ihrem Handspiegel hoch, um alle zu begrüßen. Als sich die Wiedersehensfreude einigermaßen gelegt hat, betritt Fräulein Theobald, die Schulleiterin, die Szene. Sie blickt ernst, aber nicht unfreundlich, in die Runde und hebt königlich die Hand zum Gruß. Als sie Rheinsberg sieht, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Mit schnellen Schritten läuft sie auf Rheinsberg zu, packt ihn an der Schulter und zischt: „Das hier ist kein Ort für dich!“
Da lässt er Carlottas untergehakten Arm fallen und flieht aus Lindenhof. Im Hinauseilen übersieht er Mamsell, die kurzsichtige Französischlehrerin, die, von seinen schnellen Schritten aus dem Gleichgewicht geraten, gegen eine Wand prallt und in tausend Stücke zerspringt.
1994: Rheinsberg riecht an der Schiebermütze seines Großvaters. Derselbe ölig-fettige Geruch überfällt ihn Jahre später, als er zu nah neben einem Mann im Zug sitzt.
Wie die Bäume an diesem Samstag aussehen, das kennt Rheinsberg schon, das hat er schon einmal gesehen. Vor vielen Jahren, nur woanders. Woanders war das, dass er an diesem klaren Tag einen Waldweg entlanglief, und auf beiden Seiten standen die Bäume. Ihre Äste berührten sich fast über ihm. Ein Zentimeter, zwei, dann wäre da über ihm ein Dach gewesen. Und das Gelb der Blätter strahlt ihm noch immer herüber durch die Jahre.
Und niemand begegnete ihm an diesem Tag. Als wären alle plötzlich gestorben, und er wäre durch ein Versehen, durch eine Unachtsamkeit, noch am Leben geblieben.
Damals breiteten sich vor Rheinsberg plötzlich die Felder aus. Und von weit her drängte sich die Ferne wie ein alter betrunkener Freund an ihn.
Rheinsberg bezweifelt, dass es diesen einen hellen Tag, an den er sich glaubt zu erinnern, wirklich gegeben hat.
Der Tag wird sich wohl eher über die letzten Jahre hinweg in ihm zusammengesetzt haben. Eine Mischung aus Träumen kurz vor dem Aufwachen und dem Film Ich denke oft an Piroschka.
Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und liest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschenbuch hervorholt.
An einem Mittwochabend folgt Rheinsberg seiner Mutter heimlich durch die Stadt, drückt sich in Häuserecken und sieht, wie sie ein Vereinshaus betritt.
Rheinsberg läuft an der Außenwand des Gebäudes entlang, bis er zum einzig erleuchteten Fenster kommt. Er wagt es nicht, hineinzuschauen und drückt sich unter dem Fenstersims an die Wand. Dann lauscht er.
„Er hat mir irgendwas unter die Matratze gelegt, ich weiß nicht warum. Vielleicht Ingwer oder so etwas. Als ich es gefunden habe, war alles so verschimmelt, dass ich die Matratze wegwerfen musste“, sagt die Mutter.
„Er hat meinen Hund umgebracht. Draußen vor der Stadt hab ich ihn dann gefunden. Das ist eine Schweinerei“, sagt die Nachbarin.
„Er hat das Auto irgendwo abgestellt und findet es nicht wieder“, sagt der Vater.
„Er ist furchtbar neurotisch. Was ist das mit den Geschirrhandtüchern? Er soll endlich aufhören, die Leute zu belästigen. Außerdem ist er nur ausgedacht“, sagt die Erzählerin.
„Er hat einen ausgewachsenen Gottkomplex“, sagt der Pfarrer.
„Er ist ein Perverser“, sagt die Großmutter.
„Er kann einfach nicht mal für fünf Minuten die Klappe halten“, sagt der Freund.
„Niemand kauft tote Schmetterlinge“, sagt die Schwester.
Danach sagt keiner mehr etwas, und Rheinsberg hört, wie Stühle gerückt werden. Als es hinter dem Fenster still wird, und jemand das Licht ausschaltet, bleibt Rheinsberg noch eine Weile im Dunkeln sitzen. Über ihm bewegen sich die Äste eines Baumes im Takt eines plötzlich aufkommenden Windes. Da springt eine gelbe Katze aus der Baumkrone, streicht ihm ein paar Sekunden um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie in den dunklen Straßen verschwindet.
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Stephanie Nebenführ
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01 | Martin Peichl
Ständiger Verlust an Materie
Kometen, erzählst du mir, während draußen der erste Schnee fällt, verlieren mit der Zeit ihre Helligkeit. Sobald sie sich der Sonne nähern, werden Gase und Staub aus ihrem Kern freigesetzt, vom Sonnenwind weggeblasen und gehen unwiederbringlich verloren.
Alle 75,3 Jahre zieht der Halleysche Komet durch unser Sonnensystem, seine nächste Wiederkehr wurde für das Jahr 2061 berechnet. Ich überlege, wie alt ich dann sein werde, wie alt du, ob es uns noch geben wird, verrechne mich wahrscheinlich.
Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts, sagst du, haben die Menschen sein Auftauchen als schlechtes Omen gedeutet, haben sie auf einen ganzen oder zumindest halben Weltuntergang vorbereitet, vor allem in den Städten hat dies zu mehrtägigen Trinkgelagen, zu Orgien geführt, ein wenig so wie Silvester 1999, als viele geglaubt haben, es ist vorbei, weil sie ihre Videorecorder nicht mehr programmieren konnten, ungefähr so soll ich mir das vorstellen.
In den Katastrophenfilmen, mit denen wir aufgewachsen sind, gibt es immer eine Person, die versucht die Regierung rechtzeitig zu warnen, aber natürlich reagieren die Verantwortlichen nicht oder zu spät, und es gibt immer auch eine Lovestory, ein Mann und eine Frau, die sich inmitten der Katastrophe gegen alle Widerstände finden, vielleicht sogar gemeinsam die Welt retten. Sie leiden nicht wie der Halleysche Komet, sie leiden nicht wie wir am ständigen Verlust von Materie, sie erstrahlen kurz bevor die Credits rollen noch heller als am Anfang des Films.
Später dann im Bett greife ich nach deiner Hand, schließe die Augen. Und wie jede Nacht verwandelt sich die Welt vor unserem Fenster in eine Schneekugel und wir warten: auf das nächste Schütteln.
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Martin Peichl
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freiVERS | Fabian Lenthe
Von zwei Uhr sechsundvierzig
Bis sechs Uhr achtundfünfzig
Ist nicht viel passiert
Aber jetzt die Baustelle vor dem Haus
Der Verkehr
Die kalte Luft durch das gekippte Fenster
Unten das Schließen und Öffnen der Haustür
Und die Raben
Und ich
Und meine verklebten Wimpern
Und um nichts davon haben wir je gebeten
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freiTEXT | Dakota Bronson
Roberta Lima
„Roberta, Roberta!“, dachte ich und klopfte eifrig an das U-Bahnfenster als ich sie Richtung Heiligenstadt sitzend im gegenüberliegenden Wagon erblickte. Es war dies in der U-Bahnstation Meidling. Die Distanz zwischen den beiden entgegengesetzten Zügen war in dieser Station die größte. Vielleicht sogar größer als im restlichen Streckenverlauf. Dazwischen eine große asphaltierte Innenfläche mit insgesamt vier Reihen an Sitzbänken mit geräumigem Abstand dazwischen. Unmöglich konnte sie da mein Klopfen hören oder meine Gedanken empfangen. War sie es überhaupt? Dieser dunkelhaarige kleine Pagenkopf auf dem aufrechten schlanken Hals zwischen den zarten geraden Schultern einer vierzigjährigen Frau, die ohne jegliche Übertreibung und erst Recht aus der Ferne, auch wenn dieses Addendum das Kompliment schwächt, wie vierzehn aussah, konnte doch nur ihr gehören!
Unsere Züge setzten sich in Bewegung und zwar gleichzeitig und in die gleiche Richtung. Entgegengesetzt war bloß ihre Sitzposition.
An den weißen Zwischenmauern im Stationsbereich, die jeweils nur kurz die Sicht versperrten, vorbei, ging es draußen weiter Richtung Heiligenstadt. Die Züge näherten sich an, das heißt der Abstand verringerte sich, nach wie vor saß sie auf gleicher Höhe und sah nach wie vor gerade aus. Endlich erblickte sie mich und winkte, während ich noch immer behämmert klopfte. Schließlich gab mir ihr gewinnendes Lächeln die nötige Selbstsicherheit und ich lächelte zurück. Nun da unsere Gesichter einander zugewandt waren, sahen wir auch in die entgegensetzte Richtung, bloß die Züge fuhren noch immer in dieselbe. Das war herrlich, denn sie hörte nicht auf zu lächeln und gelegentlich zu winken und nur sie konnte dies auf eine Art meistern, die es auch über einen größeren Zeitraum hinweg nicht lächerlich wirken ließ. Den Zeitraum einer gefühlten glückseligen Ewigkeit, in der ich wiederum verzückt dasaß wie ein Mondkalb und nicht anders konnte als dämlich zu grinsen und mir auch nichts anderes wünschte. Dann kam jedoch plötzlich der entsetzliche Gedanke, dass ihr Zug ja schließlich in einen anderen krachen müsste, der diesem entgegenkam! Ich musste sie unbedingt warnen, kam aber aus der grinsenden Lähmung nicht heraus. Sie schien nun meine Gedanken zu erraten und winkte ab statt zu. Mit einer Handbewegung die deutete, es würde schon nichts passieren. Genieße doch das Leben!
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freiVERS | Yvonne Koval
das Aufbrechen von Wasserstoffbrücken
eine Gedankenkette strickend, zwei Fäden eines Teiles
häkeln sich nach Bauanleitung, Strick um Strick
weben sie Zeilen in die Bauchdecke:
sollen wärmen dieses Nest, dessen Aufbau
Schritt für Schritt umgesetzt, stets Anleitung
verfolgt, Zeilen Laut für Laut genau, fast schon
Verfolgungswahn, so ummantelnd dass nicht mehr
eingebettet (sondern angekettet), nur zwei Fäden
an der instabilsten Stelle fest verknotet,
können so einengend sein, Schnur fast schon
Strick um den Hals, doch perfekt ausgefädelt
(in letzter Sekunde) widerstrebend Nest verlassen
an der instabilsten Stelle die Laute verloren.
die Zeilen nun vor sich gesehen (wie heimatlos)
gesehen wie selbst schlagend, selbst atmend und
Laute / Schritte setzen, selbst Bauchdecke wärmen und
brüchiges Leben, selbst Hals aus Strick fädeln (vogelfrei)
Nestwärme war gestern.
und als Atmendes erstmal Zellbausteine begriffen,
Atome strukturiert, sortiert, der Größe nach geordnet,
da selbst erst gesehen: bloß zwei Fäden und eine Bauanleitung
gesehen wie fast schon Strick um den Hals, danach
wie Nest verlassen. und nun in Sprache gefasst:
„du bist; nicht Teil meiner
Fäden nun ausreichend verweichlicht, diese Bauanleitung unlesbar.
du bist; nicht verankert / abgebildet hier nicht eingeladen.
hier abgeladen hast du so viel von deinen Fäden/Lauten/Zeilen,
abgelehnt hab ich Teile (deiner) an mir selbst. begreifst du?
es gibt Atome und Leere, alles andere ist nichts, ist bloß
Ansichtssache, wie dich hier hineininterpretiert, hineingewoben
in Doppelhelix bist du nicht / meine Zellbausteine aufbauend.
daher aufklauben was mich erinnert, was nicht Teil meiner
und dann rausbringen, rausgequetschte Tropfen
tropfen bloß auf Handtuch (bewusst rotes gewählt damit unauffällig)
bis Tuch verweichlicht, alles was mich erinnert an
was nicht hineinpasst / nicht Teil meiner
hab ich weggeschwemmt, flussabwärts / -auswärts
Wege geflossen zwischen Erinnerungslücken,
Zellbausteine losgelöst und weggeflutet wie
ein Blutgerinnsel, Gefäß durchgespült, mitgenommen
das Gerinnsel, das nur verstopft / blockiert
mit allem, was nicht Teil meiner.
Doppelhelix danach betrachtet, plötzlich bruchstückhaft.
Leere erzählt von Aufgeklaubtem, vom ausgefiltert worden Sein,
fortgeflutet / -geflüchtet, war wohl nie Teil dieser Bauanleitung:
Fäden/Laute/Zeilen waren falsch verortet, dort fest verknotet,
haben bloß blockiert, dann weggespült wie aussortiert,
letztendlich das Handtuch wärmend rot signiert.
und die Helix nun verformt, so lückenhaft dass ungenügend
dass es nicht wie ich geboren werden hätte können,
sonst wäre wohl Todgeburt in jemandens Uterus: verweichlicht.
und erst nach so langer Zeit
(bewiesenermaßen lebensfähig)
mit Hirn und Gedanken (Gedächtnis)
war endlich aussortiert/ausgesiebt was verknotete.
all das erst, nachdem Teile deiner herausgelesen,
gegriffen mit der Pinzette nach allen einzelnen Atomen,
ausgeschabt, herausgequetscht (rotes Handtuch
schon vorbereitet für Fremdes, Deines)
bis Leere wo einst erinnerte,
bis Doppelhelix wie bruchstückhaft
– da war erst ausgesiebt was verknotete.
Und nun?
Atome und Leere, alles andere ist nichts, ist bloß
Ansichtssache / Bruchteil davon. nun Bauanleitung
wie in Stückchen zerfetzt, Erinnerungslücken und brüchig.
Fäden / Nähte nach und nach aufgetrennt
Riss um Riss und Identität bruchstückhaft.
Tropfen am Handtuch ausgehärtet und kalt, nicht verweichlicht.
Ich bin keine Verweichlichung von Ansichtssachen,
keine Verweiblichung der Teile deiner / Bruchteile davon.
nun Zellbausteine ausgehärtet (unverformbar)
Fremdes ausgesiebt: grobe Körner
kratzen nicht mehr an der Hautoberfläche.
Bauchdecke war gestern.
Nun Genkette aus allen Ankern gerissen, wie altes Metall
(Stahl schon verrostet) das für sich allein durch’s Meer treibt
allein für sich Ozean überqueren / kennenlernen was fernbleibt
Bauanleitung unbrauchbar, Handtuch ausgewaschen
Erinnerungslücken bauen Brücken in die Leere
wo zerfällt und zerfallend diese Genkette
zusammenhangslos, Teil von keinem und
keines Teiles ein wärmendes Nest / sein Heim,
heimatlos.“
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freiTEXT | Felix Wünsche
Mein Gesicht
Ich meide Spiegel. Den Blick in den Spiegel. Mir ist das zu schmerzlich. Dieses Bild dort im silbern hinterlegten Glas. Normalerweise versuche ich immer schon von außen festzustellen, ob in einem Café Spiegel hängen, an der Wand, hinter dem Tresen. Spätestens beim Hineinkommen entdecke ich sie, wenn ich prüfend kurz verharre, bevor ich ganz in den Raum trete. Doch jetzt, heute ist mir einer entgangen. Er hängt an einem schmalen Wandstück, hellblau gemalt, in schwerem, hölzernem Rahmen. Groß. Belauert mich. Wühlt in mir. Sein Blick. Dieser Blick, der mich so unangenehm bedrängt, dem ich nichts mehr entgegenzusetzen habe. All diesen Blicken. Etwas stimmt nicht mit mir, mit meinem Aussehen. Nicht die Kleidung. An meiner Kleidung liegt es nicht. Das habe ich in den letzten Wochen erprobt. Mehrfach, oft, für eine Weile mit dringender Besessenheit habe ich Kleidungsstücke gewechselt, den ganzen Stil meiner Erscheinung geändert, mir ganz ungewohnte Zusammenstellungen ausprobiert, die ich Modemagazinen entnommen habe. Eine kostspielige Anstrengung. Aber nichts. Keine Veränderung. Weiter treffen mich die Blicke. Unerbittlich. Habe ich sie zuvor nicht wahrgenommen?
Etwas habe ich verloren. Etwas sehen die Menschen in mir, das Unbehagen in ihnen erweckt. Ablehnung, Widerwillen, Ekel bis hin zu Abscheu, eine stille Wut entzündet sich, manchmal beschirmt durch ihre Lider, Verachtung auch, Hass. Sogar Hass. Überall diese Gesichter. Verstohlen die meisten, kurze Blicke, fast hastig wenden sie sich ab. Manchen steht ein erstauntes Erschrecken in der Miene. Prüfend andere, lange nach Wahrheit forschend, bereit, Gutes zu entdecken, plötzlich enttäuscht, wütend, anklagend, Mühe an mich verschwendet zu haben. Unverhohlen starren mich Einzelne an, voller blödsinniger Neugier, sich ihrer Begleitung lachend zuwendend, einige zeigen mit dem Finger auf mich, hämisch verschiedentlich, voller Lust an dem, was sie als meinen Makel, unauslöschlich, unverzeihlich betrachten. Eisige Härte versteinert immer wieder Gesichtszüge, eine angestrengte Angewidertheit, nur am fast unmerklichen Zucken der Mundwinkel erkennbar, der Begegnung mit mir ausgesetzt zu werden. Am erträglichsten sind die Kinderblicke. Ernst und neugierig erlauben sie mir, mich wie ein seltenes Zootier zu fühlen. Die Kellnerin hier hat mir ausdruckslos ins Gesicht geschaut, flüchtig, mit halb niedergeschlagenen Augen, ein Ausdruck, der ein vages Echo wachgerufen hat. Ihre Haare fallen ihr weit in die Stirn. Keiner dieser Blicke. Sind sie real? Nehme nur ich sie so wahr? Kann ich mir sicher sein, dass mich alle so ansehen, wo selbst jener Spiegel im Wandblau mich beklommen werden lässt?
Etwas schaut mich aus den Gesichtern an. Richtet Gesetze auf. Schafft Recht. In dem Moment, in dem mich die Blicke treffen, verurteilt es mich. Ich gehe nur noch mit gesenktem Kopf dahin. Was hat mich hierher gestellt, in fortgesetzte Begutachtung? Ein Wall ist niedergebröckelt. Allmählich, schleichend? Habe ich es nicht gemerkt, hätte ich es verhindern können? Oder ist er niedergebrochen, plötzlich? Zwischen mir und ihnen. Diese stille Fassade, unauffällig getüncht, schmucklos, die sich einreihte in die Häuserfronten entlang einer der vielen Straßen. Mich verbarg in der Menge der anderen Gesichter. Weg jetzt. Alles liegt offen da. Jeder kann beanspruchen, alles über mich zu wissen. Puppenhauswände, das Innere dem prüfenden Blick dargeboten. Wer schauen will, schaue. Meine Seele. Liegt offen. Scheint jenen Blicken offen zu liegen. In meinem Gesicht, auf meiner Haut. Mit einem Mal möchte ich mich verbergen. Bin ein Flüchtling geworden. Fremd. Gehe gemessen. In mir der Impuls zu rennen, wegzulaufen, ein ständiger Begleiter. Ich schlage den Blick nieder. Unwillkürlich. Bald hatte ich gelernt, Blicken subtil auszuweichen. Immer mehr hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt, die Ursache sei in mir zu finden, strahle nach außen, müsse aufgehalten werden. Ich trage einen Hut, eine Sonnenbrille mit großen Gläsern. Ziehe ihn tief in die Stirn. Dann wieder fühle ich mich getrieben, von meinem Recht getrieben - welchem? -, hinauszugehen, mich dem Gericht zu stellen, entgegenzustellen, unverhüllt, mit hoch erhobenem Kopf. Vergebung erhoffend. Gerechtigkeit fordernd. Ein blöder Trotz vielleicht. Denn gleichzeitig will ich nichts mehr als mich verkriechen. In meiner Wohnung. Fest abschließen. In dieser Wohnung ohne Fassade. Mit dem Spiegel, dem einen Spiegel, den ich nicht meiden kann. Ständig am Anfang und auch jetzt in manchen Momenten, viel seltener und unter stetig zunehmendem Unwohlsein, das sich zu einer quälenden seelischen Pein steigern kann, habe ich mich selbst dort im Silberglas examiniert. Dem einzigen Spiegel in meinen Räumen. Teil des pompösen Aufbaus einer alten Kommode, die ich, ganz dem momentanen Geschmack an alten Möbeln entsprechend, im Internet erworben habe. Mit sorgfältiger Akribie fahre ich jede Linie, Kerbe, Erhebung meines Gesichts nach. Lippen, Augenfalten, Nasenflügel, die feinen Hügel der Wangen. Wieder und wieder, weiche meinem eigenen Blick aus, während sich ein erstickendes Ekelgefühl an mich heranschleicht, von mir Besitz ergreift, mich in der Magengrube packt, schüttelt, würgt, sauer und schal. Obwohl ich nichts, wirklich nichts auffinden konnte, was mir auf irgendeine denkbare Weise nicht menschlich erschien. Eigenheiten der Gestalt, der Haut, Porung oder Färbung, Deformierungen. Keine Merkmale, die mich eindeutig von anderen abheben würden. Etwas später, wenn ich mich erholt habe, durch gleichmäßiges Atmen beruhigt, einen Tee trinke, jagen meine Gedanken wild dahin, drängt sich mir der Verdacht auf, ich könnte in einer Illusion von mir selbst befangen sein, mein Gehirn könnte mir eine Gestalt zeigen, die nicht der Wirklichkeit, der schrecklichen Wirklichkeit entspräche. Ein Wunschbild, das ich mir von mir selber mache. Leider habe ich keine vertrauten Menschen, die ich dahingehend befragen könnte. Freunde sicher, aber niemanden, den ich in die mögliche, allergrößte Verlegenheit bringen wollte, eventuell eingestehen zu müssen, dass auch sie oder er etwas an mir anstößig finde, bisher in Stillschweigen verhüllt. Etwas, das auch sie möglicherweise nicht voll in ihr Bewusstsein dringen lassen, um den Kontakt mit mir überhaupt möglich und erträglich zu machen.
Hier muss ich etwas gestehen. Vor ein paar Tagen, bei einer dieser schwierigen Selbstbeschauungen habe ich zu meinem zitternden Erschrecken eine rötlich-braune Läsion auf der linken Wange entdeckt. Sie ist klein. Unscheinbar. Und so muss sie meiner Aufmerksamkeit entschlüpft sein. Oder ist es ein Riss in meiner Illusion über mich selbst, der mich diese Stelle hat auffinden lassen? Nun treibt mich die ständige Besorgnis um, dass sie wächst, sich ausbreitet. Wie konnte ich sie übersehen? Wie lange ist sie schon da? Vielleicht ist dieses Mal die Ursache für die Aufmerksamkeit, die ich errege. Gleichzeitig bin ich sicher, dass es diesen Fleck anfangs nicht gab, er eher hervorgekommen, gewachsen ist mit der erzwungenen Entfremdung. Eine Markierung. Mir aufgedrückt. Natürlich habe ich überlegt, einen Arzt aufzusuchen. Doch hält mich zurück, dass mir so recht kein Weg einfällt, wie er Abhilfe schaffen könnte, wollte er mir nicht ein gänzlich neues Gesicht verpassen, da es mit der Entfernung der Stelle nicht getan sein würde. Dies aber etwas ist, das mir medizinisch nicht möglich erscheint und trotz all meiner Pein auch nicht wünschenswert.
Am meisten drängt es mich dazu, in Gesichter zu schauen. In so viele, wie nur möglich. Ich setze mich auf eine Bank in der Fußgängerzone, in Shopping-Malls, in Cafés, wie jetzt, mit Hut und Sonnenbrille, schaue die Gesichter an, die vorüberziehen, registriere jedes Mienenspiel, jeden Ausdruck, jedes kleine Muskelzucken. Sie gleiten vorbei. Stetig. Ein Strom. Frisch, ausgelaugt von der Zeit, jedes ein bisschen anders, alle ein wenig gleich. Vorderfronten. Schützen ihre Träger. Markieren ihre Ansprüche. Zeigen ein Bild, von dem ich nicht weiß, was es über die Räume dahinter erzählt. Alle haben es. Was ich verloren habe. So scheint es mir. Ein Gesicht. Das meine Seele trägt, verhüllt zum Ausdruck bringt. In den anderen suche ich meins. Hoffe, dass es mir jene Blicke, die es mir gleichgültig entrissen haben, genauso gleichgültig zurückgeben. Eines Tages. Wenn ich nur lange genug ausharre.
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freiVERS | Nora Schramm
wie du vor dem gebirge liegst
den finger auf dem käfer ziehst du
unter fetzen von wetter
vorbei hast den boden an der schläfe
kleben siehst flechten in lawinen
wachsen als wäre alles erde nur du
ein kleiner stummer mond als wäre
alles krater nur du eingerollt an seinem
tiefsten punkt klopft dein puls an glas
es überschlägt dich einfach
bergab kannst
nie aufhören. bis du aufhörst
mit fleischfühlern im licht zu
wühlen aufzuplatzen wie keimende
bohnen kannst du einfach nie
aufhören. den boden zu bewohnen
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Bereits veröffentlicht in Literarische Blätter, Juli 2020
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freiTEXT | Peter Sipos
wenn ich verschlafe
wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“
beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.
„ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).
ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“
doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.
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freiVERS | Michael Pietrucha
Großvater und der Herbst
gesät wird immer um die erzengel herum
und wie und wie
ist der weizen schon geerntet der roggen
die hecken die bäume sie müssen
ausgerissen werden
wer soll das machen
niemand kann das machen
der rücken der krümmt sich tief und tiefer
der atem der wird flacher
und wie und wie
ist der boden schon gepflügt
wo bleibt der regen
neunundsiebzig achtzig einundachtzig
mal den geburtstag gefeiert
zahlen sagen nicht viel nur
was dazwischen alles geschieht
bis die täglich suppe
zu salzig scharf fettig
ist
und fleisch und obst und gemüse
zu hart zu kauen
sind
zwei gläschen zu viel fürs herz
und wie und wie
wieso zeugen die enkel keine kinder nicht
während der großvater wie ein
chamäleon geht
das ihm der fernseher zeigte erklärte und
wieder erklärte
und er nicht mehr jeden satz aufschnappt
der herum schwirrt
bei tisch
wenn die suppe zu salzig scharf fettig
kalt ist
der herbst ist da
pflügen und säen
wer soll das machen
machen kannst du es nicht mehr
großvater
gesät wird immer um die erzengel herum
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freiTEXT | Katrin Rauch
A und B und C, oder Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen?
Wissen Sie, verehrte Lesende, mit der Reibung ist das so eine Sache. Es kann durch Reibung zum einen ganz warm werden – heiß direkt. So heiß etwa, dass beim Eislaufen das Eis unter den Kufen schmilzt und dadurch die derartige Fortbewegung überhaupt erst ermöglicht wird. Wird’s aber zu heiß oder passiert die Reibung an unangebrachten Stellen, kann es zu garstigen Verbrennungen führen: man reibt sich auf oder gar wund. Zum Auf- bzw. Wundreiben braucht es im Übrigen nicht zwangsläufig zweierlei. Das funktioniert allein mitunter ebenso gut. Diese diversen Reibeverhältnisse werden in freier Wildbahn des Öfteren eindrücklich demonstriert und beobachtbar gemacht – wie etwa im Folgenden bei A und B und C. Sämtliche möglichen Formen der Reibung – alleine, aneinander, heiß, kalt, wund, warm, um nur einige zu nennen – wurden und werden derart lehrbuchartig praktiziert, dass A und B und C und deren jeweiliger Reibung eigentlich ein Platz in denselben gebühren würde – gäbe es solche Lehrbücher denn. Denn mit der Reibung ist das so eine Sache. Sie entsteht nun mal nicht nach Lehrbuch, sie entsteht dazwischen.
Also, es ist so: Ich reise berufsbedingt überdurchschnittlich viel. Jede Woche eine andere Stadt, ein anderer Gig. Jede Woche eine andere Destination. Dafür buche ich der Gewohnheit halber One-Way-Flüge. Einen von A nach B, einen von B nach A, einen von A nach C, einen von C nach A, und so weiter, nur in den seltensten Fällen von B nach C oder dergleichen. Und am Ende jeder dieser Buchungen werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Auch bei den Buchungen nach A werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Dabei ist A so oft Ausgangspunkt und Rückkehrort meiner Flugstrecken, man möchte meinen, die Algorithmen hätten bereits eins und eins zusammengezählt und konkludiert, dass A wohl mein Wohnort sein muss. Aber ich werde am Ende jeder einzelnen dieser Buchungen von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Wofür?
Ich finde, wir sollten wieder einmal Sex haben. Wir könnten uns wieder einmal treffen und uns betrinken, dann läuft es ohnehin darauf hinaus. Wir würden einen Wein trinken, oder mehrere, bei dir im Wohnzimmer oder in einer Bar – ganz egal, es würde dann damit enden, dass wir uns angreifen und uns gegenseitig ausziehen – dafür reicht die Leidenschaft, fürs sich gegenseitig Ausziehen – und dann würden wir wieder einmal Sex haben. Betrunken. So lange, bis wir nicht mehr betrunken sind. Dann ein bisschen Dösen und Reden und Dösen und Reden und nochmal Angreifen und dann würde ich nicht dableiben, weil ich ja wie immer schon was vorhabe.
Es wird mir also vorgeschlagen, nur temporär hier zu wohnen, wieder abzuhauen. Es wird mir vorgeschlagen, ein temporäres Bett zu kaufen, kein eigenes zu haben. Es wird mir vorgeschlagen, mir ein Bett mit den Gästen zu teilen, die vor mir in diesem Bett geschlafen haben und nach mir in diesem Bett schlafen werden, und dazwischen die Bettwäsche nicht selbst zu waschen. Es wird mir vorgeschlagen, keine eigene Küche zu haben. Ich soll mich in der Früh, zu Mittag und/oder abends bekochen lassen. Es wird mir vorgeschlagen, bald wieder abzuhauen, denn das wird doch von einem verlangt, wenn man im Hotel schläft.
Reibung wird gelegentlich als Friktion bezeichnet und beides weist doch unabdinglich onomatopoetische Qualitäten auf. Passend, wenn man bedenkt, dass Reibung oder Friktion etwas ist, das zuweilen durchaus hörbar ist.
Die Nachbarn über deiner Wohnung haben deiner guten Freundin, die noch eine Wohnung darüber wohnt, mal gesagt, dass da wohl jemand neuerdings regelmäßig recht „ausführlich“ miteinander schlafen muss. Sie hatten laut deiner guten Freundin tatsächlich „ausführlich“ gesagt, weißt du noch? Was haben wir uns tot gelacht und dabei nickend zugeben müssen: Mit welchen Worten man unsere Male auch beschreiben wollen würde, „ausführlich“ wäre das passendste unter ihnen. Und hinter dem Gelächter hatte unser Inneres mitgenickt und zugegeben: Das ist auch schon das Einzige, das an uns „ausführlich“ ist.
Warum sollte ich mir ein Hotel in einer Stadt nehmen wollen, in die ich immer wieder zurückkehre? Also ein- bis zweiwöchentlich. Also andauernd. Als wäre das nicht Grund genug, mir eine bleibendere Bleibe zu suchen als ein Hotel. Aber was soll’s – dann wird mir eben vorgeschlagen, dort ein Hotel zu nehmen, wo ich eigentlich eh wohne. Dann wird mir eben vorgeschlagen, nicht meinen eigenen Kaffee zum Frühstück zu trinken. Nicht mein Kaffee. Ich muss mich ja nicht darauf einlassen und kann die Meldung genauso einfach übersehen, wie ich auch die anderen Meldungen übersehe: Mietauto, Zusatzgepäck, Reiseversicherung.
Ich finde, wir könnten jetzt langsam wieder einmal Sex haben. So ohne Netz und doppelten Boden. Ohne Poolnudel und Schwimmflügerl – wofür denn? Wir wären locker und ungezwungen und würden uns angreifen und ich könnte es mittlerweile sogar greifen, denn inzwischen hätten wir uns ja schon öfter angegriffen und irgendwann gewöhnt man sich. Außerdem wäre in der Zwischenzeit viel passiert. Vielleicht haben wir da ja gelernt, keinen Rettungsring zu brauchen, und ich, dass du doch keine Gewohnheit bist.
Interessant zu beobachten sind auch die Reibungsunterschiede, je nachdem in welche Richtung gerieben wird. Hinwärts verhält es sich ähnlich, wie bei einer Wasserrutsche, wobei am Ende das erfrischende Schwimmbecken wartet. Dazwischen ist vor allem in den Kurven verhältnismäßig viel Herzklopfen zu erwarten. Rückwärts: mehr so flauschige und feste Seite des Klettverschlusses.
Es ergibt eigentlich von der Logik her überhaupt keinen Sinn, aber ich finde die Anreisen immer anstrengender als die Rückreisen. Ich bin bei der Ankunft im Hotel in B und C und dergleichen immer fertiger, als bei der Rückkehr in meine Wohnung in A.
Nur blöd, dass die Schwimmbeckenreibung die Klettverschlussreibung überhaupt erst verursacht.
Von der Logik her müsste doch die Anreise vor lauter Vorfreude und so weiter viel weniger zermürbend sein. Vielleicht liegt’s daran, dass ich beruflich und zu viel reise.
Manchmal erzähle ich lieber, wir hätten uns auf Tinder kennen gelernt, denn die Eislaufgeschichte glaubt uns eh kein Mensch. Du rutschst aus, fällst in mich hinein, ich falle und schlage mir am Eis einen Zahn aus. What are the odds? Manchmal denke ich: Heute würdest du nicht mal mehr in Tanzschuhen auf dem Eis ausrutschen, um nicht in mich hineinzufallen.
Vielleicht liegt’s dran, dass ich im Hotel in B und C und dergleichen nicht erst herausfinden muss, wie die Dusche funktioniert, und dass [zuhause] (Anm.: nachträglich eingefügt) die Bettdecke vertraut riecht.
Das vorletzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben, hätte ich sogar noch ein bisschen bleiben können, aber du hattest schon was vor.
Das letzte Mal hab ich dich auf Tinder gesehen.
Vielleicht liegt’s auch daran, dass bei der Anreise gefühlt mehr schiefgeht als bei der Rückreise. Aber das kann auch Einbildung sein.
Vielleicht liegt das daran, dass du immer so selten zu mir und ich immer so oft zu dir gefahren bin. Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich dann wieder nicht dageblieben bin, weil ich – ja, warum eigentlich?
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