freiTEXT | Merle Müller-Knapp

Märtyrer

Hallo, ich bin Dirk. Ich bin eine Made. Ich rette deinen Knochen, dein Bein, vielleicht rette ich sogar dein Leben.

Geboren wurde ich in einem Labor. Inakzeptabel, denkst du jetzt vielleicht, Hygiene-Desaster oder Fahrlässigkeit. Zeit für einen Facebook-Post? Nein, tatsächlich steht mein Leben im Zentrum des eben genannten Labors.

Ich bin keine Otto-Normalmade, meine Heimat liegt fern von Biotonne oder Kothaufen. Ich bin Produkt bewusster Anzucht. Das Ei, dem ich mich entwand, lag auf dem Boden einer Plastikschale und tatsächlich war es ein Mensch, der mein Ei dort neben vielen anderen Eiern arrangierte.

Jetzt bin ich einen Tag alt und wurde soeben verpackt. Zusammen mit Barcode, Mindesthaltbarkeitsdatum und einigen hundert anderer Maden bin ich auf dem Weg zu dir. Mein Etikett stellt klar: ich bin steril, sowohl was meine Keimflora als auch meine Fortpflanzungsfähigkeit angeht.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, ich würde mir vermutlich grade ordentlich den Bauch vollschlagen. Kompost oder Tierkadaver, wer weiß. Stattdessen hungere ich. Ich warte auf dich.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, nach 20 Tagen würde ich mich verpuppen. Ich würde die Nährstoffe meiner vorangegangenen Fressorgie in Flügel und große Augen wandeln. Dann würde ich meinen Kokon durchbrechen und ich wäre eine Fliege, eine große Fliege. Lärmend würde ich durch dein Zimmer schnellen und meinen Leib mit Maximalgeschwindigkeit gegen das Fensterglas werfen. Vielleicht würde ich dabei bewusstlos werden.

Ich bin aber keine Otto-Normalmade. Ich bin eine Biomade. Das bedeutet: erst helfe ich dir und dann muss ich sterben. Fliegen werde ich nie.

Du brauchst meine Hilfe, weil dein Körper versagt. Du hast deine Haut verletzt, irgendwo und irgendwie, vermutlich schon vor einiger Zeit, und weil dein Immunsystem an seinen Aufgaben scheitert, brauchst du mich.

Deine verletzte Haut hat sich zur Bedrohung gewandelt. Deine ehemalige verletzte Haut, sollte ich vermutlich sagen, denn da wo alles vielleicht ganz undramatisch begann, klafft jetzt ein Loch. Wundheilungsstörung und Infektion als Stichwörter für meinen Einsatz.

Wenn ich bei dir ankomme, bin ich sehr hungrig. Ich sabbere viel. Sabbern gehört zu meinen Essgewohnheiten. Tatsächlich beginnt mein Verdauungsprozess nämlich schon vor meinem Mund. In meinem Speichel lösen sich tote Zellen und Dreck. Das ist gut so, denn beides findet sich vermutlich in deiner Wunde. In meinem Speichel lösen sich auch Bakterien, sogar solche, die deine Ärzte seit Monaten erfolglos zu bekämpfen versuchen. Den Glibber aus meinem eigenen Speichel und den darin gelösten Dingen esse ich dann. Ich räume deine Wunde auf.

Die Ärzte haben dich vielleicht gewarnt. Du könntest meine Anwesenheit als Kribbeln spüren, ganz selten wird mein Vorhandensein dir auch Schmerzen bereiten. Sehen musst du mich aber immerhin nicht. Das könnte dich nämlich stressen und Stress ist schlecht für die Wundheilung.

Nachdem man mich in deiner Wunde abgesetzt hat, werde ich verpackt. Hinter weißer Watte und beruhigend breiten Pflasterstreifen vollbringe ich mein Werk. Erst drei Tage später holt man mich hervor. Zu diesem Zeitpunkt bin ich vermutlich mächtig dick. Deine Wunde wird mein Fest gewesen sein.

Deine Wunde wird auch mein Ende sein. Wenn ich deine toten Zellen, deine Bakterien, deine Fäulnis gegessen habe, habe ich nicht nur mein Aufgabenspektrum als Biomade erfüllt, nein, ich gelte dann auch als kontaminiert. Deine ehemaligen Schadstoffe in meinem Bauch bedeuten meinen Tod.

Hätte ich Augen, ich würde in Richtung Fenster blicken. Oder wenigstens in die Neonröhren am Krankenhaus-Filament. Ein letzter Moment im Licht, die Melodramatik reizt mich. Ich habe aber keine Augen und so sterbe ich in Dunkelheit. Der Arzt wird mich vermutlich in einen Bottich mit hochprozentigem Alkohol werfen. Dort löse ich mich auf.

Ich glaube nicht, dass mein Tod mit körperlichen Schmerzen einhergehen wird, meine Nervenzellen sind nämlich kaum vorhanden. Nichtsdestotrotz, du lieber Mensch: ich sterbe für dich. Ich werde niemals fliegen können, niemals sehen können, niemals zwei haarige Beine aneinander reiben können.

Also bitte ich dich um Sinnhaftigkeit für meinen Tod.

Hör auf zu rauchen, geh regelmäßig zur Fußpflege oder besorg dir einen ambulanten Krankendienst. Kümmer dich um dich selbst. Diese eine ekelhafte Wunde soll deine letzte sein.

Ich wünsche dir alles Gute und ich wünsche mir ein nächstes Leben als Otto-Normalmade.

Merle Müller-Knapp

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