freiTEXT | Christina König

Geschmacklos

Der Tag, an dem das Essen seinen Geschmack verlor, war ein Dienstag. Wir saßen beim Abendessen, meine Frau hatte Krautfleckerl gemacht und ich griff zum zweiten Mal nach dem Salz, um ihnen Aroma zu entlocken. Meine Frau schaute mich pikiert an. Sie konnte nicht kochen und wollte es nicht wahrhaben.
„Es ist sicher gut, ich schmeck nur heute nichts.“
„Wie, du schmeckst nichts?“
Ich zuckte mit den Schultern. Das Salz glitzerte nutzlos wie Haarschuppen auf meinem Teller.
Nach dem Essen reichte mir meine Frau einen Corona-Test.
„Ernsthaft?“
„Man weiß ja nie.“
Der Test war negativ.
„Vielleicht geht es ja von allein wieder weg.“

Es ging nicht von allein wieder weg. Nach einer Woche schickte mich meine Frau zu ihrem Bruder, der Arzt war. Er kratzte sich am Kinn.
„Hast du Kopfverletzungen? Eine Erkältung? Einen trockenen Mund?“
„Nein.“
„Nimmst du irgendwelche Medikamente?“
„Was gegen Eisenmangel.“
„Könntest du schwanger sein?“
„Du weißt schon, dass ich mit deiner Schwester verheiratet bin.“
„Ich mein ja nur.“
Er führte ein paar Tests durch, aber als die Ergebnisse da waren, hob er nur die Achseln. „Eigentlich hast du nichts.“
„Und was machen wir jetzt?“

Wir machten weitere Tests, diesmal im Krankenhaus. Auch bei denen kam nichts raus. Ich wusste jetzt, dass meine Schilddrüse nichts hatte, ich nicht an einem Gehirntumor litt und aktuell keine Strahlentherapie machte. Grantig schaute ich meiner Frau dabei zu, wie sie Schokoladeneis löffelte.
„Ich kann aufhören, wenn du willst.“
Ich stapfte in die Küche, holte mir einen Löffel und grub ihn ebenfalls ins Eis. „Ich stell es mir jetzt einfach vor.“
Meine Frau sagte nichts. Die Brownie-Stücke aß sie selbst.

Ich pflanzte ein Kochbuch über gesunde Ernährung auf die Küchentheke. Es gab Rote-Beete-Salat, Linseneintopf und Walnuss-Apfel-Porridge zum Frühstück. Ich nahm fünf Kilo ab.
„Wenn ich schon nichts schmecke, kann es gesund auch gleich sein.“
„Recht hast du.“ Trübsinnig schaufelte meine Frau gedämpfte Brokkoli in sich hinein.
„Magst du’s nicht?“
„Es ist ein bisschen stark gewürzt.“
Ich kniff die Augen zusammen.
„Ich sag schon nichts mehr.“

Die Pizza schwitzte auf dem Teller vor sich hin. Meine Freundinnen gafften mich an. Ich schnitt ein Dreieck ab und führte es zum Mund. Niemand sagte etwas. Ich nahm einen Bissen und alles jubelte, kreischte und applaudierte wie bei der Mondlandung. Ich hasste Tomatensauce. Meine beste Freundin erzählte heute noch die Geschichte, wie ich mich bei den Kennenlerntagen im Gymnasium übergeben hatte, als die Lehrerin mich zum Pizzaessen gezwungen hatte. Eine Freundin schoss ein Foto. Ich hob den Daumen und grinste blöd.
Drei Wochen lang musste ich bei jedem Freundinnentreffen Pizza essen. Dann wurde es den anderen zu langweilig. Meine beste Freundin sagte: „Ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten über dich erzählen soll, wenn ich nicht mehr sagen kann, dass du Pizza hasst.“ Meine Frau sagte: „So identitätsstiftend war das auch nicht.“ Meine beste Freundin sagte: „Na, es war schon ziemlich cool.“

Mein Neffe kicherte und gluckste und drängte mir eine furchtbare Essenskombination nach der anderen auf. Gurke mit Nutella. Ketchup auf Kaiserschmarrn. Cornflakes in Cola. Ich schlang alles gelangweilt herunter. Bisher hatte er mit mir nichts anfangen können, jetzt war ich seine Lieblingstante. So lange, bis er selbst nur noch Lasagne mit Gummibären essen wollte und seine Eltern mir verboten, ihn aufzustacheln. Dann mochte er wieder meine Schwester lieber.

Meine Arbeitskollegen redeten über die neue Kochshow auf Netflix, über die Vorteile von Granatapfeleis und über die besten Sommersalatrezepte. Ich zupfte an meinem Falafel-Wrap herum. Dann redeten sie über die Kollegin, die immer die besten Geburtstagskuchen backte, über die Teriyaki-Sauce beim Chinesen gegenüber und über kalorienarme Muffins. Ich zermalmte Kichererbsen und Datteltomaten zwischen den Zähnen. Dann schwärmten sie von den Erdbeeren aus eigenem Anbau.
„Hört ihr endlich auf mit dem Scheiß?“
Alle gafften mich an. Ich warf meinen Wrap in den Mülleimer und stopfte mir Dragee-Keksi vom Süßigkeitentisch in den Mund. Es krachte neurotisch.

Ich hing über dem Schnitzel, das meine Frau und ich bei Mjam bestellt hatten. (Es gab jetzt wieder Schnitzel.) Nebenbei lief eine Fernsehsendung, von der wir beide bestritten, dass wir sie jemals gesehen hatten.
„Du, ich glaub, ich schmeck was.“
„Hm?“
„Ich schmeck was.“
Sie löste den Blick vom Bildschirm. „Bist du sicher?“
„Ich glaub schon.“ Ich kaute, stoppte, kaute weiter. „Oder ich weiß nicht.“
Meine Frau stand auf, holte das Chiliöl aus der Küche und goss einen Schluck über mein Schnitzel. „Probier nochmal.“
Ich kostete. Dann zuckte ich mit den Schultern. Meine Frau schnitt ein durchtränktes Stück von meinem Schnitzel ab und aß es selbst. Ihre Augen tränten, sie wurde rot und spuckte das Stück in ihre Serviette. „Du schmeckst nichts.“
„Okay.“
Wir widmeten uns wieder unserer Fernsehsendung. Dasselbe Gespräch hatten wir schon fünfmal geführt.

Beim Geburtstag meines Bruders kam die ganze Familie zusammen. Jedes Jahr wünschte er sich Käsefondue. Dazu gab es Fleischbällchen, Prosciutto-Melonen-Spieße, Ofenkartoffeln und Maissalat. Ich brachte selbst gemachtes Knoblauchbrot mit. Mein Bruder fütterte meine Nichte, mein Neffe ließ sich flüssigen Käse übers Gesicht tropfen, meine Frau schnüffelte an den Ofenkartoffeln, mein Vater lachte mit vollem Mund und ich warf meinen Teller auf den Boden. Alles wurde ruhig.

Ich hörte auf zu essen. Ich nahm nur noch etwas zu mir, wenn mir der Kreislauf versagte. In der Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich hatte dauernd Kopfschmerzen und lag am liebsten auf der Couch. Auf dem Weg zum Einkaufen wurde mir einmal schwindelig, ich fiel ein paar Stufen herunter und wachte im Krankenhaus wieder auf. Meine Frau saß auf dem Stuhl neben meinem Bett. „Wenn du so weitermachst, verlass ich dich.“ Die Schwester schob einen Wagen mit Lauchrisotto und Schokoladenpudding als Nachspeise herein. Ich griff zur Gabel.

Wir saßen gemeinsam am Frühstückstisch. Es gab Rühreier. Ich schaufelte meine Portion in mich hinein. Dann stockte ich. Ich öffnete den Mund.
„Du schmeckst nichts.“
Ich klappte ihn wieder zu. Wir aßen weiter.

 

Christina König

 

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freiVERS | Bastian Rosenzweig

What is love I

Fußtritte
am ganzen Körper.
Hämatome
in allen verfügbaren Herz-Emoji-Farben.

Die ständige Frage
ob man nicht doch
nur
jemanden ficken will.

Endlich mal wieder
ohne Film
weinen.

Es tut durchgehend weh
und manchmal
hat man dabei
einen Orgasmus.

.

Bastian Rosenzweig

.

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freiTEXT | Patricia Malcher

In Stein gemeißelt

Hier bist du zu Hause.
Ein Satz aus ihrer Jugend, mindestens zwanzig Jahre nicht erinnert. Die Hände braun, verklebt von aufgeweichtem Erdreich, die Nägel schwarz, gesplittert, blutunterlaufen kommt er ihr wieder in den Sinn.
Hier bist du zu Hause.
Ihr Vater hatte den Kopf geschüttelt, damals, als sie die Tage bis zum Abitur zählte, um anschließend zu verschwinden, endlich dem Dorf den Rücken zu kehren.
Sie selbst hatte nur türenknallend das Haus verlassen.
Nun drückt sie, gräbt, hält fest. Die Straße, die Erde, sie rutschen.
Fundament weggeschwemmt, schießt es ihr durch den Kopf und nun ist es die Kindheit, an die sie denken muss. Reime, Verse, rhythmisch geklatscht. Mit den Dorfkindern und Schulfreundinnen. Ene mene meck.
Jetzt also die Erde feucht und klebrig, als kleines Mädchen geliebt, ideal zum Bau von Burgen und Schlössern, von Prinzessinnen bewohnt und Stöckchen-Rittern gestürmt.
Damals, als das Dorf noch genügte und die Sehnsucht nach Städtischem in den Kinderschuhen steckte.
„Hilfe“, brüllt sie, während sie brusttief im Wasser versinkt, brüllt es bereits seit einigen Minuten, „Hilfe!“
Doch obwohl sie schreit, ohrenbetäubend schreit, das eigene Trommelfell foltert, hört sie niemand. Ihre Schallwellen versickern in Lehm und Regen und Flut und Gestrüpp.
Ein Schuh und ein Fahrrad und Frau Wagner strömen vorbei, den Alltagskittel um die Beine gewickelt, eng und verdreht.
Wie hinderlich, denkt sie, doch Frau Wagner stört es nicht, kein Versuch sich zu befreien, stattdessen ein Weiterströmen, kopfunter, ein Abprallen und Anecken an einem Postkasten vom Ende der Straße. Obgleich – endet die Straße jetzt nicht hier, am eigenen Grundstück?
Nichts ist klar in diesem Moment, weder das Wasser noch die Umstände, die Eigentumsverhältnisse, die Nachbarschaft, die Anzahl der Familienmitglieder.
Ist das ihr Sessel, samtig rot, der dort auf und ab schaukelt? Einladend der Eindruck, zum Ausruhen, lesen, Augen zu, Augen auf und endlich aufwachen, noch trunken vom Albdruck, mit sauberen Fingernägeln, intaktem Trommelfell, trockenen Füßen. Doch schon ist er untergetaucht, im Tante-Emma-Laden, der eigentlich Frau-Wagner-Laden heißen müsste, der nicht mehr dort steht, wo er stand, geschluckt wurde, nicht von einer Großhandelskette, sondern von der Wucht des Sturzbaches. Der Fluss ist es, der sich ihr kleines Dorf einverleibt, es schon immer würgt wie eine Schlange und nun, gemeinsam mit dem Dauerregen, mitsamt Knochen verspeist. Ein kleiner Bachlauf ursprünglich, so sagte der Lehrer stets, aus dem Keller eines Fachwerkhauses entsprungen. Mehr ist es nicht, und wo soll sie morgen Brot und Milch einkaufen?
Hier bist du zu Hause.
Mit Edding hat sie den Satz des Vaters seinerzeit auf die Rücklehne des Schulbusses geschrieben. Schwarzer Filzstift auf violett-grünem, blau-grau schillerndem Polster.
Das D von du umrahmte das Loch im Sitz, das irgendein Jugendlicher auf einer der täglichen Fahrten zur Oberschule hineingeknibbelt hatte. Gelber Polyester flockte aus dem Bauch des Buchstabens hinaus. Bereits einige Tage später war der Satz kommentiert. Ein stummes Schreibgespräch pendelnder Schüler.
Home sweet home, stand dort, Scheiß drauf, daneben No Future, Alles wird gut und Fuck off. Dazu der gewohnte Penis, krakelig und überdimensioniert, auf das Loch und die Füllung und das D und das du ejakulierend.
Jeder, den sie kannte, träumte damals davon, das Dorf zu verlassen. Dauerhaft. Nicht nur bis 19 Uhr 38, am Wochenende zwei Stunden länger. Der Bus war die einzige Möglichkeit, aus dem Alltag auszubrechen. Kein Hinaus-in-die-Welt-gehen ohne ihn. Die Ausgangssperre begann und endete an der Haltestelle. Zehn Kilometer entfernt schon die große, weite Welt. Weg. Einfach nur … weiter … Hauptsache … weg. So schnell es irgend ging, dem in Fels gemeißelten Lebensweg entfliehen, dem Familienhof, der Verwandtschaft, den verstaubten Lebenszielen vorheriger Generationen. Provinziell die schlimmste Schublade, die vorstellbar war.
Sie hört auf zu brüllen, erkennt die Sinnlosigkeit. Ihre Hand rutscht ab, verliert den Halt. Kurz taucht sie unter. Ein Stück Heimat schwappt ihr in den Mund. Es schmeckt nach Sand, Mörtel, nach Kalk und knirscht zwischen den Zähnen. In den Wangentaschen raut es die Schleimhaut auf, krümelig und bitter.
In Höhe der Kapelle ist ein Baum gekippt, ragt in das Hochwasser hinein, an der Krone die Sauerkirschen schon rot und prall.
Am Stamm bekommen die Finger Griff, die Füße Tritt. Sie kann verschnaufen, den Hals recken. Die Früchte in greifbarer Nähe.
In diesem Sommer werden es die Vögel sein, die ernten, denkt sie, nachdem Michi seine Frau hat sitzenlassen mit Kirschen, Kleinkind und Katzenklappe und in die Stadt gezogen ist. Michi, der noch nie was taugte und dieser Tage statt Kirschen zu pflücken in einem Zwei-Zimmer-Appartement sitzt, allein, so hört man jedenfalls, Fenster zum Hof, den Kopf voller Hirngespinste. Mit Mitte vierzig das Dorf verlassen, denkt sie und weiß, dass etwas nicht stimmt, mit diesen Kirschen, mit ihrer Logik, mit Vaters Satz, mit der Natur.
Der Lehm trocknet. Langsam beginnt er, sich zusammenzuziehen, kratzt und klebt ockerfarben auf der Haut. Die Zehen sind taub, das Wasser hat alles Gefühl ausgeschwemmt.
Sie sieht Toni und Heinz, für deren Gastwirtschaft sie die Buchführung macht. Sieht die Brüder hilflos vor ihrem Eigentum stehen, die Sandsäcke hüfthoch vor Kellerabgang und Haustür gestapelt.
Sie sieht Sophie, der sie Nachhilfe in Englisch gibt, und die das Dorf genauso hasst, wie sie selbst damals. Sie sieht das Mädchen mit einem Bündel Decken in der Hand, von Tür zu Tür rennen. Sophie, die sich schwer tut, the impact of globalization on culture and communication zu verstehen und für die eine mangelhafte Note in der Nachprüfung ein weiteres Jahr Dorfleben bedeuten würde.
Sie sieht Menschen, die sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann in ihrer Hoffnungslosigkeit und Angst und Verzweiflung. Menschen, deren Handeln und Denken und Fühlen sich in der Katastrophe gleichen.
Sie sieht Blicke aus übermüdeten Augen, morastige Hautfalten, Dreck so klebrig, dass doch jede Straße, jedes Haus, jedes Auto hätte pappen bleiben müssen.
Einige Meter entfernt hört sie erneut ein Bersten, ein Reißen, einen ohrenbetäubenden Lärm. Hört die Flut gegen Beton tosen, Masse auf Masse.
Sie kann sich nicht mehr halten, schnappt nach Luft, lässt los. Sofort verringert sich der Druck, die Natur gewinnt die Oberhand. Leicht fühlt es sich an, aus dem Leben erodiert zu werden, eigene Kraftanstrengung nicht vonnöten. Der Körper schwerelos umhüllt.
Ein letztes Mal bäumt sie sich auf, hebt ihr Gesicht über die Wasseroberfläche. Pustet, atmet, schluckt und spuckt. Sie kennt ihr Schicksal aus den Nachrichten. Hochwasser im Sudan, in Nigeria, in Indonesien. Immer weg, weit weg, doch niemals hier. Warum auch? Tausend Jahre ist es gut gegangen. Das Leben und Lieben und Weinen und Lachen, das Siechen und Sterben, das Gebären und Großziehen, das Anbauen und Ernten, das Siedeln und Melken, das Zimmern und Tischlern.
Sie sieht das gelbe Heck eines Busses neben sich, die Fahrtzielanzeige schwarz und leer. Sie folgt der Linie, fühlt sich leicht und unbeschwert. Eine Zeit lang treiben Mensch und Metall nebeneinanderher, bis der Bus an Fahrt verliert, trudelt und im Schlamm versackt.
Sie selbst rauscht vorbei.

 

Patricia Malcher

 

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freiVERS | Julo Drescowitz

Störche

Störche
im Himmel
zwei Stück
auf den Treppenstufen vor der Bib
am Fluss
das Wasser rauscht
ich tue, als ob ich
etwas
fangen
würde
Dummkopf
einen Kürbis
einen Ball
aus dem Himmel
ich stehe auf und
lache
mein Kumpel
auf der Treppenstufe
neben mir
ich balle die
Faust in
den
Himmel
und sage
Wieso
habt ihr mir
ein
Kind
geschenkt?

Später
lache ich
nicht mehr
Haut an Haut
liegen wir
im Bett
feucht vor Schweiß
dein Geruch
Tränen in
deinen Augen
Ich erzähle
dir
von den
Störchen
und du
hörst mir
zu
still
schließt die
Augen
Es sind
Dinge wie
Störche gesehen
zu haben
die
uns Glauben schenken
Schweiß auf
deiner Stirn
das Rauschen
des Flusses
vor unseren
Fenstern
die
Störche
weiß
mit
langen
Hälsen
fliegend
irgendwo
dort draußen
sie zu
sehen
ist
ein eigenes kleines Wunder
und
diese Art
der
Wunder
lassen
uns
weiterleben

.

Julo Drescowitz

.

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Poedu - Text des Monats September

Wenn ich abends in mein Zimmer geh, schaut die Nacht durchs Fenster rein

und ich fühle mich ganz klein.

Komm ich ich morgens wieder raus,

bin ich groß und stark und der Tag klatscht mir Applaus.

 

Ari

(9 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

.

Die Aufgabe kam diesmal von Gerrit Wustmann:

Eine bei den klassischen arabischen und persischen Dichtern beliebte Gedichtform war das Rubaiyat, zu Deutsch „Vierzeiler“ - Gedichte, die immer vier Zeilen haben und sich reimen. Es gibt zwei Versionen: In der berühmtesten reimen sich jeweils die ersten beiden und die letzte Zeile; es ist aber auch in Ordnung, wenn alle vier Zeilen denselben Reim haben. Hier ein Beispiel des berühmten persischen Dichters Omar Khayyam, der von 1048 bis 1131 in Persien (dem heutigen Iran) lebte:

Kein Mensch erklärt die Rätsel der Natur
Kein Mensch setzt einen Schritt nur aus der Spur
Die seine Wesensart ihm vorschrieb, und es bleibt
Der größte Meister doch ein Lehrling nur.

Schreibe einen solchen Vierzeiler! Das Thema kannst du dir selbst aussuchen, aber es wäre schön, wenn die Natur darin vorkommt, denn sie spielt auch in der klassischen persischen Lyrik eine wichtige Rolle. Zum Beispiel stehen die Rose und die Nachtigall oft für zwei Verliebte.

 

>> Alle POEDU Texte des Monats

>> POEDU - das Buch / Teil 2

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

.

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freiTEXT | Juliane Hahn

Ich, ich und das Lottchen

Der Mond fiel durchs vorhanglose Fenster und ließ meinen Bettnachbarn erbleichen. Ein kleiner Junge, der sich beim Spielen fast das Genick gebrochen hätte. Aber er war mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Jetzt lag er dort und röchelte im Schlaf, manchmal wehten auch ein, zwei gehauchte Worte von seinen anämischen Lippen.

Ich drehte den Kopf weg und versuchte, nicht da zu sein, indem ich mich dem Satz hingab, der mich ohnehin vollständig beherrschte. Er hing in meinem Hirn wie in einer Warteschleife, seit Stunden. La beauté sera convulsive ou ne sera pas. Da fehlte noch irgendetwas in der Mitte, sie würde außerdem verschleiert und magisch sein, die Schönheit, so ähnlich jedenfalls hatte Breton es formuliert, als er den Surrealismus ausrief. 1924, sogar die Jahreszahl stand klar vor mir. Den Satz selbst habe ich nie verstanden, allein das Wort konvulsivisch. Die Schönheit zuckend, verkrampft, ein Krampf. Jetzt hatte mich dieser Satz, so absurd es klingt, mitten aus dem Leben gerissen und hierher katapultiert, ins Krankenhaus. Er war zu mir zurückgekommen, damit ich endlich das vollenden konnte, was ich musste. Mein Lebenswerk. Eine Installation, die alle Künste auf sich vereinigen würde, Skulptur, Malerei, Film, vielleicht sogar Poesie als eine Art integrierter Text, eingearbeitet in das hauptsächlich als Bilderfolge geplante Video. Noch lag alles vor mir. Mein Schaffensdrang hatte wieder Blut geleckt, ich war dabei mich aufzurappeln. Neue Bildwelten zu erfinden, Ästhetik, Schönheit. Das war es, was ich so dringend brauchte. Für alles, was ich berührte, für mich selbst, für den Durchbruch. Sogar dieser Gips, der meine ganze rechte Seite vom Schulterblatt an bis hinunter zu den Zehenspitzen verbarg, hatte etwas Ästhetisches. Über zehn Knochenbrüche! Die Ärzte waren beeindruckt gewesen. Voller Interesse hatten sie mich untersucht, als wäre ich ein faszinierendes Objekt, ein Wunderwerk. Währenddessen hatte ein Assistent etwas von Autounfall gemurmelt, Drogenmissbrauch eventuell, ich blieb ruhig, meine Erinnerung leer.

Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Kurz vor der Visite schoben sie den Neuen herein, ein älterer Herr mit Schnauzbart und verkrebsten Stimmbändern. Zu sprechen war ihm nicht möglich, so dass er zur Begrüßung sehr heftig nickte und mich dabei unverwandt ansah; türkisblaue Augen, wie das Meer in Ferienkatalogen. Ich grüßte zurück, wobei ich darauf achtete, nicht zu viel Freundlichkeit zu zeigen, um einer Verbrüderung von Anfang an entgegenzuwirken. Abstand war wichtig, gerade jetzt.

Später die Visite. Meine Ärztin trug eine schwarze Hornbrille und beugte sich lächelnd zu mir herab. Ein Medizinerlächeln, ich glaubte ihr nichts. Sie wollte reden. Ob ich Bezug zu Drogen hätte, ob ich mich an das Fahrzeug erinnerte, an den Unfall selbst, den Aufprall vielleicht. Und meine Familie, ob sie bereits informiert worden sei?

Charlotte. Plötzlich fiel sie mir ein. Ich hatte lange nichts von ihr gehört. Sie war jetzt vielleicht sechs oder sieben, ein Schulkind. Das Lottchen. Abgesehen von den üblichen Babyfotos hatte ich nur ein Video mit ihr gedreht. Damals war sie erst ein knappes Jahr auf der Welt und konnte noch nicht laufen. Als Geisha verkleidet hatte ich sie an den Schrank gelehnt wie eine Puppe und ihrem Gebrabbel synchron einen Text unterlegt - über Liebe, Geld, Genuss, eine Geisha eben. Eigentlich war es ein scharfer kleiner Film geworden, aber Anja rastete aus. Das wäre Kindesmissbrauch und widerlich und die Kunst könne ich mir sonst wohin. Ich war froh, als sie später mit dem Kind auszog. Denn je älter das Lottchen wurde, umso mehr Schrecken verbreitete es. Jedes Mal, wenn ich in ihr Gesicht blickte, bemerkte ich Linien und Formen, die auf mich zurückgingen. Ihre Nase zum Beispiel und die Form ihrer Oberlippe. Erblasten, die ich ihr zugeschoben hatte, ohne es zu wollen. Ich hatte meinen dicklichen Körper nie haben wollen, diesen fleischigen Mund. Diese viel zu stark gebogene, unförmige Nase. Sie hatte mir damals leid getan, das Lottchen, und auf grausame Weise hatte es mich geekelt, sie zu sehen, uns beide zusammen, das ging einfach nicht.

Zehn vor sechs. Die Schwester setzte mir ein Tablett mit Schonkost vor, eher unappetitlich: Selleriesalat in weißliche Kuben geschnitten. Ich verzehrte ihn mit asketischem Gleichmut, ebenso wie mein Zimmernachbar. Überhaupt schienen Askese und Demut die Koordinaten zu sein, auf die es momentan ankam. Dies wertete ich als Zeichen für die Schwere meiner Krankheit, welche mir zugleich eine umso strahlendere Rückkehr ins Leben, in die Kunst versprach. Je tiefer unten, desto höher hinauf. Voller Vorfreude senkte ich mein Kopfteil ab, da sah ich sie. Anja. Charlottes Mutter. Sie lehnte lässig an der Wand direkt neben dem Fernseher. Noch immer trug sie ihr Haar aufgetürmt wie eine Plastik, ein haariger Widerstand, der die Luft zerteilte.

Familienbesuch, sagte sie trocken. Ich antwortete nicht.
Wie lange willst du dich noch krank stellen?
Ist das dein Mitleid?, fuhr ich sie an. Zehn Knochenbrüche, mein Körper ist zerbröselt.
Zerbröselt, wiederholte sie höhnisch. Dann müsstest du eigentlich dein Ziel erreicht haben. Physische Auflösung, Immaterialität, Reinheit der Kunst, blabla.
Ich blickte an mir herunter. Der Gips sah tatsächlich wie ein Gebirge aus, unter dem ich verschwand. Sie war gekommen, um mich zu verletzen. Nach so vielen Jahren. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.
Wieso bist du gekommen?, fragte ich schließlich. Und wo ist Charlotte?
Sie neigte leicht den Kopf, und ich meinte einen kleinen Vogel zu sehen, der dort in ihrem Haarturm nistete. Stille trat zwischen uns.
Glaubst du wirklich, du wirst diesen Ort gesund verlassen? Glaubst du wirklich, du wirst so sterben können?
Ja, wo ist sie denn?, schrie ich laut. Wo ist das Lottchen?
In diesem Moment regte sich mein Zimmernachbar, wir mussten ihn geweckt haben. Ich wollte ihn beschwichtigen, aber er blickte mich böse an. Geh endlich los, sagte er, geh sie suchen. Das sagte er, obwohl er gar nicht sprechen konnte, wegen seiner Stimmbänder.
Erschöpft fiel ich zurück aufs Bett. In diesem Krankenhaus war ich nicht mehr sicher. Ich litt, Knochenbrüche und Halluzinationen. Und selbst wenn ich mir alles nur einbildete: Dass ich sie suchen musste, mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. Und dass man mir Hypochondrie vorwarf, Feigheit, Verantwortungslosigkeit – große deutsche Worte, wie abstoßend. Dieser Ort war voller Täuschungen, und die einzige Wahrheit, die es jetzt noch gab, war Charlotte. Sie musste ich finden, irgendetwas bedeutete es doch, das Band der Gene.

Mühsam erhob ich mich und schlich am Schwesternzimmer vorbei den Gang hinunter. Meine Glieder spürte ich kaum, ganz offensichtlich war ich kerngesund und frei. Lautlos öffnete sich die automatische Glastür, die von der Wartehalle im Erdgeschoss ins Freie führte. Der Pförtner verharrte starr vor der Glotze, in einen Actionfilm aus den Siebzigern vertieft, während ich den Parkplatz überquerte. Ich folgte der Straße, die hinter dem Gelände weiterführte, wanderte ins Dunkel, irgendwohin, bis die Lichter der Stadt sich auflösten.

Die Weite der Landschaft umfing mich, es war, als geriete ich mit jedem Schritt, den ich über unbestelltes, rohes Feld stolperte, tiefer in ihren Bann. Der feuchte Boden zog mich förmlich an, und ich erschrak, als ich mein eigenes Schnaufen bemerkte, schnell, kurzatmig, laut. Wo sie sich wohl aufhielt, überlegte ich, während ich mich umwandte: Felder, weiter hinten Wiesen, die sich an den Hang schmiegten, ein Zaun, ein paar wenige Bäume, Sträucher. Meine Knie zitterten, ich musste mich hinlegen, nur einen winzigen Moment. Die aufgewühlte feuchte Erde würde mir Kühlung verschaffen; so machte ich es mir bequem, während ich den Sinn dieser Suche geradezu physisch empfand. Ich würde das Lottchen finden, sie war der Schlüssel zu mir, der letzte, der mir noch geblieben war, und wie im Märchen musste man nur den Zauberspruch kennen. Ich breitete die Arme aus, um meinen Körper in die Länge zu ziehen, so weit es ging. Vielleicht gelänge es mir, mich so zu dehnen, dass ich annähernd zwei Meter groß würde, vielleicht sogar größer. Wie eine Vogelscheuche. So würde sie mich leichter finden, falls ich zu schwach sein sollte. Sie würde auf mich zukommen, sehen, dass ich auf sie gewartet hatte. Feuchtigkeit drang von unten durch meinen Bademantel, während meine Hände die Erde abtasteten, um mich zu vergewissern, dass ich es war, der hier auf dem Feld lag, ich – bis mich ein tiefer Schlaf fortnahm.

Plötzlich Licht, Stimmen, das Klacken einer Tür. Jemand hat den Raum betreten, gleich steht er vor mir. Ich hebe abwehrend die Hand, bin krank, habe genug, da sehe ich die braunen Flecken, Altersflecken. Das muss eine Verwechslung sein, diese Hand ist uralt, vielleicht achtzig oder noch älter. Papa, flüstert die Frau; sie ist jung, sie setzt sich auf die Bettkante. Weint. Ein lautes, unbeherrschtes Weinen, das mich einhüllt, als wäre es ein Teil von mir. Irgendwie angenehm. Die Schönheit der Konvulsion, ist es das? Sie hat sich nach vorne gebeugt, zu mir hin, fast liegt sie auf mir. Ich möchte den Arm heben, nur ein Zeichen, aber es ist unmöglich. Ich habe mich schon entfernt und die Distanz wächst. Und zugleich die Schönheit, so scheint es, denn sie – das habe ich früher mal gelesen – nimmt man von ferne umso deutlicher wahr.

 

Juliane Hahn

 

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freiVERS | Silke Scheffel

sinnig II

barfuß insgesamt
der abschied spricht sich dunkelrot
wie vorgestern
das brombeerblut gemalt an deiner
oberlippe ränder sagst im norden
liegt das glück
und im schatten balzender birkenwälder
wo ein permanenter farbenwechsel
wangenlicht bewegtes deines
schneeweiß
schneegrün
schneeorange
dazwischen
auch mal sand und dünen schrieb ich
dir zuletzt in blanke zwischenräume zehen
wo wir gingen und lebten und liebten
weil wir wussten tief in uns das meer
klingt seine eigene landschaft nass
darin verschwammen und vergaßen
alle maße zeit
noch mehr
den blassen blauen heimweg

.

Silke Scheffel

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freiTEXT | Katharina Forstner

Regentinnenschaft

Die Königin frauscht waltet regiert:
108 m² Wohnfläche und einen kurzgemähten Rasen
zur Miete. Die zahlt sie an den Mann.
Die Königin besitzt: einen Thermomix einen Vibrator ein Auto. Den Thermomix besitzt sie auf der Kücheninsel, den Vibrator in der Sockenschublade, das Auto unter dem Carport. Die Königin fährt SUV. Das Schwarz glänzt in der Sonne, die Katze liegt auf der Motorhaube.
Die Königin weiß, dass sie glücklich ist. Ich bin glücklich, denkt sie
als sie in den Wagen steigt. Die Katze flüchtet beim Schlagen der Türen. Das Auto schnurrt aus der Einfahrt. Die Abendnachrichten säumen den Weg in die Arbeit.
Die Königin pflegt: 25 Wochenstunden für 1700 brutto auf der Neurologischen.
Dazu braucht sie: orthopädische Schuheinlagen gegen den Hallux Valgus. Eine junge Kollegin für die Eingaben am PC. Eine Tafel Schokolade für die Seele.
Hier dauert die Nacht zwölf Stunden und 24 Betten lang. Auf dem Heimweg wird sie zweimal angehupt: Die Ampel ist grün.
Die Schlüssel klimpern. Die Schüsseln klirren. Trockenfutter rieselt. Die Königin duscht und stellt sich nicht auf die Waage. Im Spiegel betrachtet sie Bauch und Haaransatz. Sie ist weiß gekrönt und muss bald nachfärben. Ihr Körper ist ein halbes Jahrhundert alt. Er hat eigene Zeitrechnungen erschaffen: 25 20 17 Jahre seit dem Urschrei. Das ist jährlich wert: Gutschein für drei Mal Wäsche aufhängen. Gutschein für einen Tag nicht lästig sein. Gutschein für einmal essen gehen. Die Königin wurde zur Mutter gekrönt.
Diese Krone ist mein Glück, sagt sie zum Spiegelbild und legt sich ins leere Doppelbett.
Die Königin hat gelernt sich zu kümmern um: drei Kinder zwei Katzen einen Mann. Den ist sie losgeworden. Jetzt hat sie einen anderen. Den neuen König statt dem alten.
Zu Mittag wird der neue König nach Hause kommen, deswegen schläft die Königin nur bis zwölf und wärmt das Essen. Um halb eins schreibt sie dem Mann: Wo bleibst du so lang?
Wo warst du so lang? Das Essen ist schon kalt geworden. Setz dich nieder. Ich nehme den kleineren Knödel. Der ist mir zerfallen. Willst du noch einen Schöpfer? Die Soße ist nichts geworden, zu viel Schlagobers erwischt. Hast du eh genug gehabt? Noch einen Kaffee? Kuchen habe ich auch noch.
Der Mann nimmt Platz auf der Eckbank und das Besteck in die Hand. Einen Bissen vom ganz gebliebenen Knödel. Er nimmt gerne. Er nimmt Liebe wie einen Blumenstrauß.
Die Königin gibt gerne. Das macht sie glücklich. Du machst mich glücklich, sagt sie dem Mann und springt auf um den Geschirrspüler auszuräumen.
Jetzt setz dich mal hin, sagen die Kinder immer zu ihr. Bleib doch am Tisch. Wenn sie mal da sind zwischen ihren Aventuiren.
Die Königin ist ihr Leben lang gelaufen: dem Läuten der Patienten nach, auf Eltern- – korrigiere – Müttersprechtage, zum Hofer zum Spar zum Fußballturnier laufenden Siebenjährigen zuschauen.
Der Mann steht auf und geht gemütlich: wieder in die Arbeit die Enkel besuchen seinem Freund Haus bauen helfen. Das Kaffeehäferl lässt er stehen.
Die Königin putzt schrubbt tuscht sich die Wimpern. Spricht mit den Katzen. Die Katzen sprechen nicht zurück. Bückt sich im Schlafgemach des Sohns nach Unterhosen und sagt: Das letzte Mal räume ich hier auf. Das Schlafgemach spricht nicht zurück. Ruft bei der Tochter an und erwischt nur die Mailbox. Die Mailbox spricht nicht zurück. Der andere Sohn hebt ab und will zum Essen kommen, morgen. Die Königin wird gebeten. Der Königin wird gedankt. Der Sohn spricht von seinen Weihnachtswünschen. Die Königin spricht nicht zurück.
Sie liest gießt sprießende Tomaten. Der Schlauch und die Augen tropfen.
Die Königin wartet: dass der Mann zurückkehrt die Kinder sie besuchen die Himbeeren reif werden
wartet: dass es heimkommt, ihr Glück.

 

Katharina Forstner

 

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freiVERS | Alexandra Regiert

Flaschengrün

melierte murmeln
kicherten ins gebüsch
überwarfen sich über dem moos
taumelten lindgrün
ins gedächtnis
waldläuferhymnen
gesungen mit eulenkehlen
gurrten in ockertönen am gaumen
manchmal summten sie
seidenwörter
am bauch entlang
die warm wurden
wie frisch gekochter spinat
und streichelten etwas
smaragd ins auge
bis alles wald wurde
und selbst das ebenholz
ergrünte

.

Alexandra Regiert

.

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freiTEXT | Simon Gottwald

nevermore

Da fliegen die Worte, rabenschwarz auf grauem Papier. Seit Stunden steht der Mann auf der Brücke und lässt sie aus einem schier unerschöpflichen Vorrat auf die Straße regnen.
Das Neonlicht der Reklame schneidet ihnen die Flügel ab, scheint es.

Wir sind doch alle Rabenkinder unglücklicher Eltern.

Wagen fahren keine mehr; die Polizei hat den Verkehr umgeleitet. Schaulustige stehen in dicken Trauben an den Absperrungen. Manche schütteln den Kopf, als hätte die Fassungslosigkeit ihr Genick gelockert. Andere heben eines der herbeigewehten Flugblätter auf, runzeln die Stirn, nachdem sie es überflogen haben, und werfen es wieder weg.
Der Mann will mit niemandem sprechen. Solange die Beamten auf Abstand bleiben, ist er eine Schatulle aus Schweigen. Jedes Mal, wenn sie sich ihm nähern, droht er, zu springen.
Fröhlich leuchtende Bildschirme reproduzieren die Szene unendlich, wie gegeneinandergestellte Spiegel. In der Menge diskutieren die Menschen, was der Mann da wohl mache. Eine Werbeaktion, meint einer, das ist ein Protest, weiß ein anderer, wogegen, er zuckt mit den Schultern.

Eine brechende Eierschale gibt zwei Welten frei. Manchmal ist das Nest geflochten aus einander verschlingenden Schlangen oder gebaut aus glühenden Kohlen. Das ist dann Pech. Mit fremden Flügeln kann man nicht fliegen.
Wo andere mit Schmuck oder Tand vollgestopft sind, bergen manche Schatullen eine Spieluhr, die eine seltene oder eine bekannte Melodie spielt, berührt man sie nur vorsichtig.

Vor grauem Papier ist der Asphalt kaum noch zu sehen. Ein Schottergarten aus Worten liegt auf der Straße.

Aus den Menschenmassen steigt eine Stimme auf. Jemand erkennt den Mann. Das ist Narcissus Hyde, sagt er. Der Name springt von Mund zu Mund, schlüpft in kleine Tastaturen und tänzelt durch die Luft wie ein Irrlicht.
Werbeaktion, wiederholen jetzt andere, Kunst, widersprechen einige. Zerknitterte Flugblätter werden als Beleg für beide Thesen weitergereicht.

Der Pelikan nährte seine Jungen von seinem eigenen Fleisch.

Haben Sie auch gehört, was man neuerdings über ihn sagt, wispert jemand. Ich kenne ihn gar nicht, lautet die Antwort. Alles nur Gerüchte, wird ergänzt, alles nur Gerüchte, bis es Beweise gibt. Das ist er gar nicht, mischt jemand sich ein, Sie verwechseln ihn.

Wie hauchdünne Spiegel aus Licht sehen die Zettel aus. Sie stürzen, als wäre das Papier zu schwer für sich selbst. Vielleicht sind es auch die Worte auf ihnen, die sie nach unten ziehen, oder die Gedanken, zu denen diese sich verschlungen haben.

Verstehen Raben, was sie sagen, wenn sie menschliche Worte verwenden?
Und wie ist das eigentlich mit Menschen?

Was halten Sie davon, fragt einer seinen Nebenmann. Muss der das von da oben machen, antwortet der. Nein, ich meine das hier, sagt der Erste und zeigt ihm ein Flugblatt, auf dem ein Schuhabdruck aus Straßenschmutz prangt. Die Linien sind deutlich zu erkennen.
Frechheit, so etwas noch zu verteilen, meint der Zweite.
Der Erste knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn weg.

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein‘ Fuß, hat ein‘ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein‘ Gruß.

Unermüdlich regnet das Papier, so, als würde der Mann aus der Unendlichkeit schöpfen. Man ist sich nicht einig, ob er wirklich Narcissus Hyde ist. Man diskutiert über die Zettel. Inzwischen haben die Menschen festgestellt, dass auf jedem einzelnen etwas anderes steht. Manche hat er sogar von Hand geschrieben, sehen Sie mal, das kann er gar nicht alles alleine gewesen sein, warum denn nicht, die Handschrift ist eine ganz andere, sehen Sie das nicht, nein das ist die gleiche, sie verändert sich nur, weil er so viel geschrieben hat.
Wissen Sie, ich glaube, ich habe mich geirrt, so etwas würde Narcissus Hyde nicht schreiben, doch ich denke schon, waren Sie nicht eben noch der Meinung, dass …

Wir sind alle Rabenkinder. Über unzählige Generationen lässt unsere Geschichte sich auf ein einzelnes gesprenkeltes Ei zurückverfolgen, aus dessen dampfender Ursuppe das Leben entstand. Flossen, Beine, Flügel und Arme differenzierten sich aus.
Ein in Plastik erstarrtes Fossil, Spiegel einer in Öl gemalten Welt. Irgendwann werden Städte, Beton und Abgase nur noch als unverständliche Albträume existieren.

Der Mann, der vielleicht jenen Namen trägt, von dem keiner der Zuschauer weiß, ob er ein Pseudonym oder der ihm von seinen Eltern gegebene ist, sieht auf die Menschen herab. Es könnte Enttäuschung sein, was sich auf seinen Zügen abzeichnet, oder kaum verhohlener Ekel. Manche der Menschen halten seinen Gesichtsausdruck für einen der Neugierde, andere bemerken gar nicht, dass er ein Gesicht hat.
Ein älterer Mann in den hinteren Reihen keift wütend vor sich hin, wobei er so sehr mit dem Kopf zuckt, dass die über die Glatze gekämmten langen Strähnen sich lösen und wild vom Haarkranz abstehen. Unglaublich, dass der den Verkehr so beeinträchtigt, teeren und federn sollte man den, ruft er. Manche stimmen murmelnd zu, anderen missfällt die Forderung offensichtlich. Vielleicht denken sie an die Lebensbedingungen in den Legebatterien oder daran, dass die Dinosaurier Federn hatten.

Nachdem er stundenlang Worte in die Stadt entlassen hat, beginnt der Mann, die Kartons von der Brücke zu werfen. Noch immer fast randvoll, platzen sie unten mit lautem Knall auf und ergießen sich über das Zettelfeld.
So fasziniert sieht er den fallenden Kartons nach, so erleichtert nimmt er den Aufprall jedes einzelnen zur Kenntnis, dass man denken könnte, dieses Finale sei der eigentliche Zweck der Inszenierung und alles andere sei nur eine belanglose Fingerübung gewesen.
Der Polizei entgeht nicht, dass der Mann sie nicht mehr beachtet, dass er nichts anderes als die Kartons und die aus ihnen schwemmenden Zettel wahrnimmt.
Zwei Polizisten rennen auf einen Fingerzeig zu dem Mann und stürzen sich auf ihn. Er wirft gerade einen Karton, als sie ihn packen und ihm die Arme auf den Rücken drehen wie brechende Rabenschwingen. Obwohl er sich mit aller Kraft wehrt, haben sie ihn rasend schnell zu Boden gebracht und fixieren seine Hände.
Er gibt keinen Laut von sich. Röhren schütten Neonlicht über der Szene aus wie verdorbenes Saatgut. Die Polizisten heben den Mann vom Boden auf und stellen ihn auf seine Füße, als wäre er eine Vogelscheuche. Sein Gesicht glänzt, als würde er stark schwitzen.

Lieber Vogel, fliege weiter, nimm die Welt mit und noch mehr, nie wieder werd ich heiter, denn das Leben ist schwer.

Keiner der Zuschauer hat gesehen, wie er es geschafft hat, sich aus dem festen Griff auf seinen Schultern zu befreien, keiner, wie er die Fesseln an seinen Handgelenken gelöst hat. Auf einmal steht er auf der Brüstung und breitet die Arme aus. Dann legt er den Kopf in den Nacken, atmet einen Sonnenfleck aus und gibt dem Himmel einen Kuss.
Die Beamten können ihn nicht fassen, er ist wie in Öl gehüllt, seine Haut wie ein Panzer gegen die Welt.

Melodie im Bauch, gefüttert mit der Würmer Weisheit, jedes Wort ein telepathisches Tentakel, und Odin fehlte ein Auge.

Am nächsten Morgen rollt kein Verkehr, obwohl die Absperrungen nicht mehr da sind, die Schaulustigen verschwunden.
Die einzige Erinnerung an den Vorfall sind die Papierstreifen, mit denen die Vögel ihre Nester auspolstern.

 

Simon Gottwald

 

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