freiTEXT | Marie Schwarz

Großmutter

Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Melodie. Meine Schuhe hinterlassen einen Schmutzstreifen auf dem Flur. Ich denke mich neben Dich mit deinen klackernden Ledersohlen. Pferdeleder, Ostpreußen, Lasagne. Ich stehe hinter dem Haus meiner Großmutter.

Die Handschuhe deiner Großmutter sind in der Tomatensauce ertrunken. Im Exil habe deine Großmutter sie genäht, hast du gesagt und dich verschluckt. Im bayrischen Exil hat sie unent-wegt Handschuhe genäht, sagte dein Vater. Dein Vater hat unentwegt Egerland-Postkarten bei Ebay ersteigert. Drei, Zwei, Eins, Meins. Einmal im Jahr zog sie die Tracht an. Ich hatte die kleinsten Hände. Ich trage die Handschuhe.

„Bist du wiedergekommen?“ Du hast damals es leise vorgeflüstert und dann nicht gesagt. Ich habe Bauchfrei getragen und die Katze gestreichelt. Ich sagte, sie ist tot, die Beerdigung ist nächsten Samstag. Everything was forever, until it was no more. Dein Beileid passte dabei sowohl auf unsere gerade vollzogene Trennung als auch den Tod meiner Großmutter. Auf der Beerdigung war ich nicht, es gab wohl wenig Tränen und viel Kuchen. An dem Samstag hielt ich einen Vortrag zur Unmöglichkeit der Erinnerung an die Leningrader Blockade in der spät-sowjetischen Literatur. Dort verkommt die Erinnerung zu einem rostigen Nagel. Nachts rufe ich Dich an, wirst du etwa sentimental, fragst Du. Ich sage, in Paris gab es einen Terroranschlag. Diese Novembernacht ist nun drei Monate her, unserer Trennung dreieinhalb. Meine Großmutter ist genauso lange tot wie unsere Beziehung. Die beiden Daten wachsen miteinander.  Heute Nacht stehe ich im Garten meiner Großmutter und sollte weinen. Ich kann nicht schlafen. Ich denke an den Streuselkuchen, den es am Sudetendeutschen Tag gab. Die Unvollendeten. Es wurde ein Film gezeigt, in dem fordert der vermeintliche Enkel die Zuschauenden auf, zu Versöhnung auf. Im Hintergrund Marschmusik. Nach dem Film wurde der Streuselkuchen von allen Seiten gelobt. Meine Hände sind kalt und die Handschuhe liegen in der Garage, nass vom Gartenschlauch. Die restliche Tomatensauce bildet eine Kruste um den Zeigefinger herum. Inventur. Ich frage mich, ob das hier mal damals sein wird. Ich habe eine Zigarette, aber kein Feuerzeug und das Bild funktioniert nicht. Zurück im Bett drücke ich mit der Zunge die Beiβschiene gegen den Oberkiefer. Die Zähne reiben aneinander, der Kiefer knirscht. Ich versuche die Schiene durchzubeißen, die Zunge gerät zwischen die Fronten. Ich verliere die Fassung. Contenance hat meine Großmutter bewahrt. Aus dem Frankreichurlaub hat sie uns Streifenpullover mitgebracht, stets eine Nummer zu groß. Französinnen seien zierlich. Es dauerte 3 Jahre bis ich in den letzten Pullover hineingewachsen bin. An der Wand eine gelb-orange Tapete mit knallbuntem 70er Jahre Muster. Deutsches Schweigen. Diesen Kampf hatte sie verloren. Ich gehe ins Bad. Früher bin ich immer gerannt, damit mich niemand fangen kann. Im Bad öffne ich den Schrank mit der angehorteten Nivea-Creme Sammlung. Der Krieg meiner Großmutter fand vor allem in einem Operationssaal statt, in dem sie sich übergab, als sie ein Auge freilegten. Danach stiefelte sie durch Straßenbahnen und wer sich nicht benahm, kam nach Dachau. Davon haben wir nichts gewusst.

Gegenüber war früher immer der Acker. Acker und Wald. Seit Jahren aber drei Sparkassen Fertighäuser. Die vergisst man gerne, weil der Acker dann nichts mehr erzählt. Du warst nie hier. In deiner Zeit war das Haus verkauft und meine Großmutter war in eine Seniorenparka-nalage gezogen, in der sie Französischunterricht gab und tadelte, wer keine Vokabeln lernte. Mein Pappmaché-Engel stand auf dem Schreibtisch. Wir waren beide schlank und haben viel gelesen, das hat gereicht und nach persönlichen Befindlichkeiten fragte man nicht. Ich drehe am Radio, ich will noch eine rauchen, die Idee mich beim Rauchen von außen zu betrachten. Deutschlandradio, Sendung mit Hörerbeteiligung, dann Seehofer und wir hatten ja nichts: „Sollen wir doch Merkel wählen?“ Helga Schmitt aus Verden ruft an, bloß die Merkel nicht hängen lassen. Menschliche Fehler und waren die Vertriebenen eigentlich Flüchtlinge, ach ne, sagt Frau Schmitt, man sprach ja Deutsch. Die Radionacht hat schon angefangen und wenn ich den Schnaps schnell trinke, dann brennt er nicht. Ich öffne die Schränke, es ist nur noch Cognac da. Als wir 16 waren, haben Johanna und ich mal Cognac getrunken, er war in einem hohlen Buch, wir haben dabei gekichert und sofort wieder geflüstert. Später sind wir auf dem Sofa eingeschlafen. Uneingelöste Sehnsüchte, an die wir glaubten und später blieb davon nur der halbe Mut nach dem letzten Wodka. Ich schenke nach, meine Hand wird lockerer, sie schwenkt den Cognac herum, irgendwas an diesem Bild muss mal etwas versprochen haben. Ausbruch, Rückkehr, Schatten. Ich wandere durch das Haus, nur keine Eile, im Takt bleiben. Ich fahre über das Klavier, ich habe es nie wirklich spielen gelernt. Als Kind habe ich ihren alten Kochbüchern gelesen, mir die Familien gedacht und versucht die Bilder aus den Fotoalben mit dem gebackenen Kalbskopf zusammenzubringen. Ich helf dir kochen. Meine Großmutter konnte nicht kochen, sie konnte nur lesen. Sie blieb die Fremde, auch als sie wieder zurück war. Etwas besserer haben sie im Dorf gesagt, immer in Ehrfurcht vor der Aktentasche. Als ich im Bett liege und den Ring, ihren Ehering ablege, wird mir ein wenig übel. Meine Leerstelle ist nicht das Kind aus der Minenarbeiterfamilie oder die Rückkehr ins nirgendwo, aus Montpellier zurück in die deutsche Provinz, nein. Meine Leerstelle ist ihre Verzweiflung. Mit drei Kindern stand sie auf der Beerdigung, seinen Namen hat sie vorgeflüstert und nicht mehr genannt, weitermachen als ob Nichts sei, Wodka ist wie nichts. Ich habe gelernt, dass man ihn nur schnell genug trinken muss. 40 Jahre blieb sie allein. Es schickte sich nicht, sie als Witwe in eine Runde aus Ehepaaren einzuladen. Von Begierde kein Wort. Ich versuche mich zu erinnern welche Berührungen mir von dir bleiben und warum alles außer deinen Handgelenken verschwimmt und ob in 40 Jahren überhaupt noch ein Rest bleibt.

Ich wache mit trockenem Mund auf, ich bleibe liegen, der Kopfschmerz oberhalb der Schläfe. Die Übelkeit wandert langsam durch den Magen. Erst als sich die saure Galle mit der Spucke unter die Beißschiene schiebt, stehe ich auf.  Es ist noch zu früh. Draußen liegt Reif auf die alten Friedhofsfiguren, die sie sich in den Garten stellte. Es war eine Kollektion, Kindergrabengel waren oft abzugeben. Ich friere, weil mir von der Heizungsluft wieder schlecht wird. Einmal habe ich dir gesagt, dass es erst kalt ist, wenn die Milchpackung auf dem Fensterbrett gefriert.  Es wird ein Turbantag werden, an denen der Kopf fest eingepackt ist in Vergangenheit. Es ist kalt. Ich werde Brötchen holen gehen, die kalte Luft besänftigt den Kopf. Auf dem Rückweg werde ich am Wald kurz stehen bleiben, wo ich spazieren war, als meine erste Periode einsetzte. Alles nicht brauchbar, alles vorbei. La mère est morte. Ihre letzten Worte. Die Dichter lügen. Meine Großmutter hat Oden gelesen, keine Fahrpläne. Und meine geliehenen Worte erreichen das Schweigen nicht.

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Marie Schwarz

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