Leuchtturmwärter

Als sein Wecker läutete, lag Markus bereits seit Stunden wach. Rasch kochte er sich Kaffee, stieg die Wendeltreppe in den obersten Raum empor und überprüfte, ob das Leuchtfeuer mittlerweile ausgeschaltet war. Dann inspizierte er alle Mechanismen und Scharniere. Trotz seines hohen Alters war der Turm in tadellosem Zustand. Nichts musste gerichtet oder geölt werden. Die Funkverbindung zur Steuereinrichtung im Rathaus war stabil, im digitalen Fehlerprotokoll fand sich nicht ein einziger Eintrag und auch die turmeigene Radaranlage, eine kostspielige Anschaffung, wie der Bürgermeister erklärt hatte, wies kein einziges Schiff aus, das nachts zu nahe an die Küste gefahren war.

„Eine Ausnahme. Das ist eine absolute Ausnahme, die ich hier mache. Normalerweise wohnt kein Mechaniker in unserem Turm“, hatte der Bürgermeister gesagt, als Markus sich ihm vorgestellt hatte. „Dafür gibt es eigene Firmen, die schicken wen, wenn es Probleme gibt. Ist auch billiger.“

Markus wusste, dass der Bürgermeister recht hatte. Einmal pro Monat eine Überprüfung zu machen genügte hier vollauf. Und das Leuchtfeuer schaltete sich jeden Abend automatisch ein, sobald die Sonne zu sinken begann und erlosch am nächsten Morgen. Auch dafür brauchte es ihn nicht. Menschen waren fehlbarer als Maschinen, denn Maschinen vergaßen nicht, das wusste Markus seit seinem Studium nur zu gut. Und doch war er hier, als „Leuchtturmwärter“, den es im Berufsregister der Küstenstadt eigentlich nicht mehr gab. Aber weil Markus jemanden kannte, der jemanden kannte, hatte der Bürgermeister für ihn diese „absolute Ausnahme“ gemacht.

In dieser Rolle kannte Markus sich nur zu gut: die Ausnahme. Der überflüssige Zusatz, ohne den es eigentlich besser funktionieren würde. Der alles ein wenig komplizierter machte, als es eigentlich sein musste. Auch Lena hatte zu ihm gesagt: „Du bist lieb, aber ohne dich ist es gerade einfacher.“ Immerhin hatte sie darauf verzichtet, ihn mit etwas wie „es liegt nicht an dir, es liegt an mir“ zu vertrösten. Lena hatte das Leben kapiert. Sie haute nicht einfach ab, weil sie es nach einer Trennung zuhause nicht mehr aushielt. Für Lena musste niemand mehr Ausnahmen machen, sie wusste, wer sie war und was sie wollte. Sie war notwendig. Markus nicht. Er war die Überbrückungskonstruktion. Die zweite Sicherung, wo eine genügte. Mitgedacht und mitgemeint, aber nicht notwendig. Er war halt da.

Markus sah auf sein Handy. Kein Anruf in Abwesenheit. Alle Leben da draußen funktionierten auch ohne ihn. Er trank einen Schluck Kaffee und starrte in die Ferne. Es war der erste schöne Tag seit langem. Die Sonne kletterte langsam über den Horizont, keine einzige Wolke trübte die Aussicht. Nach dem Frühstück würde er Sport machen. Dann die Vorräte prüfen und jeden Raum des Leuchtturms. Vielleicht würde er heute etwas lesen, Bücher hatte er genug dabei. Aber bislang waren seine Gedanken zu laut gewesen, um sich auf die Buchseiten konzentrieren zu können. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auf die Aussichtsplattform hinausgetreten und hätte seinen übervollen Kopf in die Tiefen des Meeres geleert. Stattdessen lauschte er dem Wellenrauschen. Irgendwann, da war er sich sicher, würde es sein Grübeln ersticken. Bis es so weit war, würde er hierbleiben.

„Ausnahmsweise“, hatte der Bürgermeister gesagt.

.

Stephan Kaiblinger

.https://www.mosaikzeitschrift.at/tag/Sigune-Schnabel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at