freiVERS | Ernad Osmic

Rahmet oder Wie Gleichmut geht

wenn du entschließt zu sterben
vergiss nicht den Herd auszumachen
und den Kühlschrank und das Bügeleisen
und den Fernseher aus der Steckdose
und schalte alle Lichter aus
oder noch besser
nimm die gesamten Sicherungen raus
schraub alle Glühbirnen raus
(die im Kinderzimmer
hast du ja lange schon herausgeschraubt)
zahle die Rechnungen
zahle die Kreditrate
zahle alle Schulden
versöhne dich mit Feinden
vergib ihnen, falls nötig
geh zum Grab deiner Mutter
geh zum Grab deines Vaters
geh zu allen Gräbern
zu denen du gehen solltest
küss dein Kind
küss auch das andere
küss deine Enkelinnen
streiche die Wohnung
fege vor der Tür
putz dein Badezimmer
wasch das Geschirr
putz deine Zähne
ziehe saubere Unterhosen an
ziehe ein sauberes Unterhemd an
damit die im Leichenschauhaus nicht lachen
bring den Müll raus
(denn, nur weil du entschlossen hast zu sterben,
bedeutet das ja nicht, dass morgen nicht Diensttag ist)
guck dir die Elbe an
geh runter und berühre sie
schau dir die Lichter in ihr an
zähle sie
guck nach oben
du siehst Sterne
zähle sie nicht
einatmen
ausatmen
schließe deinen Mund
hörst du in dir
etwas klopft
Hufen von Pferden
etwas schwellt und quietscht
Kinderschritte im Schnee
etwas brummt
der Regen als du geliebt hast
atme ein
atme aus
sie Rufen dich
du kennst seinen Namen
atme ein
fühlst du sie?

 

Ernad Osmic

 

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freiTEXT | Janine Adomeit

Keine Spatzen

Agata, das bedeute ja „die Gute“, hatte Herr Pfeiffer gleich am Bahnhof gesagt und ihr mit dem Zeigefinger auf die Schulter getippt.

Ob sie das gewusst habe?

Agata hatte nicht, obwohl zuhause in Kruszki jede Dritte oder Vierte so hieß.

„Ach so“, hatte Herr Pfeiffer gesagt, „ein ganzes Dorf voller guter Frauen!“ Sein grauer Schnurrbart zitterte.

„Na dann, Agata. Pass gut auf uns auf, ja?“

Sie nickte, etwas anderes als Nicken kam ihr unpassend vor.

Herr Pfeiffer nahm ihren Koffer. Sie müssten nur fünf Minuten gehen, sie wohnten sehr zentral. Es klang stolz, wie er das sagte. Agata sah ihn in die Dunkelheit vorausgehen mit ihrem Gepäck, das ihr in der fremden Hand eine ängstliche Sekunde lang nicht mehr wie ihr eigenes vorkam. Sie folgte Herrn Pfeiffer. Das Haus, vor dem sie stehenblieben, war groß, aber freundlich. Sie müssten jetzt leise sein, sagte Herr Pfeiffer, seine Mutter schliefe schon. Er steckte den Schlüssel ins Schloss.

Herr Pfeiffers Mutter wohnte im Erdgeschoss, in dem Zimmer das neben Agatas lag. In der Nacht hörte Agata sie zum ersten Mal klopfen, das Geräusch bohrte sich tief in ihren Traum. Sie stand benommen auf, dicke milchige Wärme hinter der Stirn, Schlaf, dachte Agata, Schlafen – und dann: Jakub. Aber als sie die Tür zum Flur öffnete, stand da nicht Jakub, sondern Herr Pfeiffer in seinem hellblauen Bademantel und hatte schon das Licht eingeschaltet.

„Sie klopft“, sagte er, „das ist das Zeichen.“

Er steckte den Kopf in das Zimmer seiner Mutter, seine Lippen bewegten sich lautlos und er gestikulierte in Richtung Agata, dann ging er zurück in sein Schlafzimmer im ersten Stock. Er trug keine Socken und hatte sehr weiße, sehr hässliche Beine. Er tat Agata leid.

Frau Pfeiffer musste zur Toilette. Agata versuchte, nicht an den Bandscheibenvorfall vom letzten Winter zu denken, als sie ihr aus dem Bett half. Woran sie stattdessen zu denken versuchte, waren die kaputten Rohre in ihrem Haus und Jakubs Studium in Lublin, waren die tausend Euro, die sie schon nächsten Monat schicken könnte. Tausend, dachte Agata. Vierundzwanzig Stunden, ein halbes Jahr lang jeden Tag, dann könnte sie zurück für drei Wochen. Sommer in Kruzski. Ein Korbstuhl;  Wind im Laub der Weißbuchen und Wind über dem See; Kormorangefieder, das im Sonnenlicht schimmert wie flüssiges Metall. Tausend.

Agata und Frau Pfeiffer, geteilte Verlegenheit zwischen sich, gingen den Flur entlang zum Badezimmer. Die alte Frau machte die winzigsten aller Schritte, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Sie sprach erst, als sie sich, auf Agata gestützt, zum Pinkeln setzte, und Agata ihr das Nachthemd über die Oberschenkel zog.

Entschuldigung. Das sei ja nicht die feine Art, einander kennen zu lernen.

Doch, sagte Agata, Frau Pfeiffer sei sehr fein angezogen.

Sie schwiegen eine Weile und lauschten dem Geräusch von Frau Pfeiffers Urinstrahl, wie er auf das Wasser in der Toilettenschüssel traf.

„Der Erwin hat erzählt, du bist Krankenschwester in Polen.“

„Krankenschwester“, wiederholte Agata, „ja, Krankenschwester. In Polen.“

„Und du hast auch einen Sohn?“

„Ja“, sagte Agata und sah zu, wie die alte Frau sie beim Abrollen des Klopapiers beobachtete.

Sie hätten auch schon deutsche Schwestern gehabt, sagte Frau Pfeiffer: „Aber die wollten nichts tun für ihr Geld!“

Dazu fiel Agata nichts ein. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft zuckte sie mit den Schultern.

Sie konnte nicht gleich wieder einschlafen, nachdem sie zurück ins Bett geklettert war. Sie hörte auf die Züge mit ihren rumpelnden Waggons, die drüben im Bahnhof einfuhren, und sie dachte an die alte Frau im Zimmer nebenan. Sie streckte die Beine aus.

Agatas waren gute Beine. Nicht schön, sondern gut. Sie hatte mit ihnen fast alle Weitsprungwettbewerbe zwischen der vierten und der achten Klasse gewonnen. Wie viele Jahre würden die Beine noch zu gebrauchen sein? Wann würde sie das erste feine Reißen in den Knien spüren, in den Fingern, im Hüftgelenk? Der Rücken ließ sie ja jetzt schon im Stich. Zweifellos, Agata löste sich auf, sie wurde alt. Noch zwanzig Jahre Verfall, dann hätte sie auch das geschafft. In zwanzig Jahren wäre sie nur noch alt.

Ihr Kopf schmerzte. Erst nach einigen Minuten fiel ihr auf, dass sie Hunger hatte. Sie öffnete ihre Handtasche und fand die in Papierservietten eingewickelten Waffeln, die sie gestern Abend mit Jakub gebacken hatte. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass sie bei den Waffeln anfangen müssen würde, wenn sie jemals hier ankommen wollte. Sie nahm eine, biss ab, kaute, schluckte. Der süße warme Brei auf der Zunge, zwischen den Zähnen, war tröstlich. Sie nahm die nächste Waffel. Sie sah nicht auf die Uhr. Irgendwann waren keine Waffeln mehr da. Sie legte sich schlafen.

Herrn Pfeiffer sah Agata erst am nächsten Abend wieder. Er betrachtete die belegten Brote auf dem Küchentisch, legte sich schließlich eins auf den Teller und aß es mit Messer und Gabel, dazu zwei kleingeschnittene saure Gurken. Dann lehnte er sich zurück und sagte: „Tja.“ Agata kannte das Wort nicht, doch es klang wie „Ja“, deshalb wurde sie mutig und schob mehr von dem Brot über den Tisch, mehr von der rosa Fleischwurst, der Butter. Aber Herr Pfeiffer schüttelte den Kopf.

Agata habe das selbstverständlich nicht wissen können, aber wenn er abends vom Geschäft nach Hause kam, hatte er gerne etwas Warmes. Sie sei doch hoffentlich gewohnt, frisch zu kochen?

Frisch. Agata verstand: Schnell, und nickte heftig. Schnell kochen konnte sie, zur Not auch für viele. Herr Pfeiffer machte eine Handbewegung, so als risse er an etwas, und sagte: „Nicht so!“ Dann tat er, als rühre er mit einem Löffel in einem Kochtopf: „Sondern so!“

Seit dem zweiten Tag kochte Agata frisch. Sie probierte es mit den Gerichten, die Jakub gern aß, bei denen er sagte: Schmeckt gut und macht satt. Sie hatte dabei Herrn Pfeiffers großen Bauch vor Augen, wie er den Bauch mit einer geschickten Handbewegung angehoben und bequem unter der Tischkante platziert hatte. Sie ahnte, das Essen musste stark sein und viel. Aber er mochte den Eintopf nicht, wie Agata ihn machte, und er mochte keine Kutteln. Spätzle, sagte er. Sie solle sich von seiner Mutter das Rezept geben lassen.

Die alte Frau Pfeiffer hörte das und bekam aufgeregte Flecken im Gesicht.

„Mein Erwin“, sagte sie, als Agata ihr später im Bett die Haare bürstete. Seit Jahren habe niemand mehr für ihn gekocht, alles habe er selbst machen müssen. Ein guter Koch, ihr Erwin. Aber das wolle er jetzt nicht mehr, jetzt sei Agata da.

Frau Pfeiffer ließ sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück die Lesebrille bringen, den Notizblock, den Bleistift, und steckte die Bleistiftspitze lange in den Mund und saugte daran.

„Dann schreibt er besser“, sagte sie.

Agata sah ihr über die Schulter. Spätzle, schrieb Frau Pfeiffer und zog eine schwache Linie darunter. Agata presste die Schneidezähne auf die Unterlippe. Sie ließ Frau Pfeiffer allein, ging in ihr eigenes Zimmer und nahm das Wörterbuch aus der Nachttischschublade. Es dauerte lange, bis sie glaubte, fündig geworden zu sein. Spatzen. Agata strich das Wort mit ihrem gelben Textmarker an und starrte auf das pergamentdünne Papier, das kühl und abweisend unter ihren Fingern knisterte. Sie wusste, es verbarg etwas vor ihr.

Erst am Nachmittag war Frau Pfeiffer fertig. Ihr Gesicht leuchtete vor Zufriedenheit.

„Ja, Spätzle“, sagte sie, als sie das Rezept auf den Küchentisch legte, „das ist was Gutes. Der Erwin hat abends gern was Gutes. Er arbeitet doch so schwer.“

Agata wusste nichts von Herrn Pfeiffers Arbeit, sie hatte auch nicht gefragt. Sie wusste nur, dass er Jeans und Hemd trug, wenn er morgens das Haus verließ, und kam er später zurück, war alles noch so sauber wie einige Stunden zuvor. Im Treppenhaus waren ihr gerahmte Fotos von ihm aufgefallen, fünf oder sechs versetzt nebeneinander, und auf jedem stand er neben einem anderen Auto, eine Hand auf der geöffneten Wagentür, die andere in die Hüfte gestützt. Vielleicht war das schwerer, als es aussah.

Agata setzte sich an den Küchentisch. Sie faltete den Bogen Papier auseinander und strich ihn glatt. Sie starrte darauf. Sie blinzelte.

„Ja“, sagte Frau Pfeiffer in ihrem Rücken. „Das ist Sütterlin. Kennst du Sütterlin?“

Agata antwortete nicht. Sie lächelte schief. Sie begleitete die alte Frau ins Wohnzimmer und schaltete ihr den Fernseher ein. Zurück in der Küche öffnete Agata den Kühlschrank. In Kruszki öffnete sie immer den Kühlschrank oder ging in die Speisekammer, wenn sie nachdenken musste. Verdammtes Spatzenessen. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen, damit die Tränenflüssigkeit dahin zurücklaufen konnte, wo sie hergekommen war. Kälte kroch ihr übers Gesicht. Agata schlug die Kühlschranktür zu. Sie nahm das Rezept vom Tisch, faltete es klein und steckte es in die Hosentasche. Sie ging in den Flur und warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Frau Pfeiffer schief im Sessel saß, das Kinn auf der Brust, die Atemzüge geräuschvoll, gleichmäßig. Agata nahm Jacke, Schlüssel, das Portemonnaie – ihr eigenes Portemonnaie mit den an der Grenze eingetauschten Scheinen, nicht das mit dem Haushaltsgeld. Die Haustür zog sie so leise wie möglich hinter sich zu.

In dem Supermarkt, den ihr Herr Pfeiffer am ersten Tag gezeigt hatte, ging sie entlang der Tiefkühltruhen, die Eiskruste darin glitzerte diamantschön im Licht der Neonröhren. Klamm und mutlos betrachtete Agata das abgepackte Fleisch unter dem Truhendeckel, die gefrorenen Erbsen, den Apfelstrudel. Endlich sah sie eine Frau in einem rot-weiß-gelben Kittel und reichte ihr das Stück Papier aus ihrer Hosentasche. Ihr Herz klopfte.

Sie wolle kaufen, sagte Agata. Zögerlich fügte sie hinzu: „Spatzen?“

Die Frau runzelte die Stirn und nahm ihr den Zettel aus der Hand. Las. Gab ihr den Zettel zurück.

„Das kann ja kein Mensch entziffern. Machen Sie es sich nicht so schwer. Im Kühler gibt es Spätzle, ganz frisch, sind im Angebot.“

„Spatzen“, wiederholte Agata.

„Spatzen, Spätzle, die einen sagen so, die anderen so. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“

Agata folgte der Frau durch den Supermarkt. Die Frau blieb vor einem Kühlregal stehen. Sie griff nach einem rechteckigen Paket. Gelbe Teigstreifen drückten sich von unten gegen die Folie. Nicht einmal auf der Verpackung war ein Spatz abgebildet. Nudeln.

„Danke“, sagte Agata.

Sie drehte die Spätzle um, suchte nach den kleinen Flaggensymbolen, fand die weiß-rote. Zwölf bis vierzehn Minuten in kochendes Salzwasser geben. Agata stellte sich an der Kasse an.

Frau Pfeiffer war wach, als sie gegen Vier nach Hause kam.

„Du musst einen Zettel schreiben, wenn du gehst, Agata“, sagte sie.

Agata lächelte der alten Frau zu, hielt das Paket mit einer Hand hinter dem Rücken und sperrte sich in der Küche ein. Sie ließ das Lächeln aus ihrem Gesicht fallen. Noch zwei Stunden, bis Herr Pfeiffer von der Arbeit kommen würde. Agata öffnete die Schränke. Eine Handvoll Mehl, zwei Eier, Salz. Das Handrührgerät. Sie schlug eine geringe Menge Teig, einen Teigrest nur. Sie verteilte das Mehl auf der Arbeitsplatte und dem Fußboden, sie bestäubte ihre Hände damit und fuhr sich durchs Haar. Um zehn vor Sechs ließ sie Wasser aufkochen auf dem Herd. Um zwei vor Sechs öffnete sie die Packung Spätzle und schüttete die Nudeln in das Wasser. Sie setzte sich an den Küchentisch und wartete.

Die saubere, glänzende Spüle. Die karierten Handtücher. Das weiße Ziffernblatt der Uhr über dem Kühlschrank. Und Agata dachte an das gestickte Madonnenbild, das an derselben Stelle hing in Kruszki.

Janine Adomeit

bereits erschienen in: entwürfe 74 (2013)

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freiVERS | Lütfiye Güzel

9:45 p.m.

watched a documentary
on beuys
& even though I know it all in the end
& at the beginning too
I’m there
dangling a teabag
in the cup
the poems are useless
the poems are dead rabbits

 

Lütfiye Güzel

 

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freiVERS | Max Rauser

Das sanfte Klicken,
mit dem sich Bilder überlagern,
(Ich höre es im Kopf) übereinander
einrasten. Zum Beispiel:
Wie wir hintereinanderher
durch den Wald laufen. Wir
sind zu diesem Zeitpunkt sicher
schon einen Monat lang ein Paar.
Das heißt, es muss mindestens
im Juni sein, der Sommer steigt,
der Wald ist grün und dicht,
der Vormittag noch klar.
Und gleichzeitig fürchte ich
deinen Vater, du Atalante, fürchte,
dass ich die Äpfel zuhause
vergessen habe. Es ist ja auch nicht ihre Jahreszeit.
Oder: Die ständige Flucht
meiner Gedanken aus der Zeit
(Ist es eine Flucht?), wie
als ich die breite Treppe
eines U-Bahnhofs heraufsteig,
die bewohnt ist von Kot und
Müll. Und mir kommt die Treppe
vor, wie zum herrlichsten Tempel führend:
Man war so müde, wenn man endlich
oben stand.

 

Max Rauser

 

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freiTEXT | Sylvia Hubele

Der Einzelhändler

Jetzt weiß ich, warum der Einzelhändler so heißt: Nicht etwa, weil er mit einzelnen Sachen handelt, mit Glühbirnen und Schokoriegeln, mit Hämmern und Streichhölzern. Nein, er steht mutter- und vaterseelenallein in seinem Laden. Er räumt und kramt in den Regalen, sortiert Suppentüten, pinselt den nicht vorhandenen Staub von sorgfältig sortierten Schrauben. Er ist allein. Einzeln und in Einzelhaft. Der Einzelhändler steht in seinem Laden einzeln herum, döst im Halbdämmer vor sich hin, träumt von reger Nachfrage und sammelt in den langen Pausen die Kraft und Energie, die er braucht, wenn er mal nicht alleine ist.

Auf der Straße gehen hin und wieder Menschen vorbei, doch kaum jemand dreht den Kopf und sieht auf die Pyramide von Suppendosen und das Aquarium, in dem zwei Guppys Verstecken zwischen den Wasseralgen spielen. Der kundige Einzelhändler wartet geduldig im hintersten, im dunkelsten Eck seines Ladens, wie die Spinne - versteckt im Astloch am Rande ihres Netzes. Er schaut nicht auf die Straße, sondern poliert die Messingstangen, an denen er mit Ösen aus handgebogenem Draht die bunten Topflappen hübsch drapiert hat. Er wartet. Er hat Zeit.

Der Einzelhändler beobachtet gerne, wie sich der Mensch langsam in einen kaufenden - und vor allem auch zahlenden Kunden verwandelt. Die Wandlung geschieht Schritt für Schritt, und der kundige Einzelhändler weiß, dass er diese Metamorphose nicht stören oder gar zu früh unterbrechen darf.

Denn manchmal geht ein Mensch erst zügigen Schrittes vorbei, zögert dann, verhält, schaut in das Schaufenster und auf das Schild an der Ladentür, legt die Hand auf die Klinke und erst nach einer Weile drückt er die Tür auf. Die meisten Menschen zögern, solange sie noch die Hand auf der Türklinke halten, und lassen diese nur ungern los. Wenn sich die Ladentür mit einem satten Schmatzen hinter ihnen schließt, zucken sie zusammen, als wären sie jetzt gefangen.

Doch der Einzelhändler bewegt sich keineswegs, um seinen künftigen Kunden standesgemäß zu empfangen. Er weiß genau, dass er um keinen Preis die Verwandlung stören darf, bevor sie vollständig ist. Nimmt also der Mensch, der so zögernd in den Laden kam und die Tür so widerstrebend losließ, endlich etwas in die Hand, die geöffnete Packung Aspirin etwa, deren Inhalt hier auch tablettenweise verkauft wird, so beginnt die langsame Metamorphose des Menschen in einen Kunden. Dann erschrickt dieser nicht mehr bei der Frage: "Kann ich etwas für Sie tun?" oder verlässt gar fluchtartig den Laden.

Am besten ist es allerdings, wenn der künftige Käufer etwas sucht, was er nicht sofort selbst findet. Hier ist ihm der Einzelhändler außerordentlich beflissentlich behilflich, kramt selbst in seinen Regalen, schiebt die Brille erst hoch in die Haare, dann nach vorne auf die Nase. Er murmelt leise vor sich hin und holt hier und da interessante Schachteln und Dinge aus Schubladen und Ecken. Jedes Teil wird dem Kunden ausführlich vorgeführt, während dieser von einem Fuß auf den anderen tritt und hofft, dass der Einzelhändler doch bald fündig werden möge. Manchmal allerdings muss der Einzelhändler nach langer Suche aufgeben, weil die erwünschte Ware partout nicht aus ihrer Ecke kommen und sich zeigen möchte. Dann geht der Kunde, ob mit gesuchter Schraube oder ohne gewünschten Haken.

Nach dieser Anstrengung öffnet der Einzelhändler eine abgegriffene Pappdose mit Aluminiumdeckel und streut den beiden Fischen zwei einzelne Flöckchen Fischfutter in das Aquarium, bevor er sich selbst einen Schokoriegel greift und mit dem sechsten Schlag vom nahe gelegenen Kirchturm den Laden von außen mit seinem großen Schlüssel absperrt.

 

Sylvia Hubele

bereits erschienen in: Himmelsstürmerinnen 2, (Prosa, Lyrik und mehr, 2008)

 

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freiVERS | Caroline Danneil

im liegen im bett zum beispiel

sind schwäne in zimmerdecke eingegraben & ein fleck wär
ein stück herausgefall’nes brot; schimmelgrau

erinnerung 1
der ruf des eichelhähers, sein kreischen, wie das einer ente
schon verwischt, vorbei

erinnerung 2
sich kräuselnde schatten gelblich & schwarz
– sommer, später nachmittag, auslaufende zeit –
schatten die substanzlos springen wie
berührungen seltener geworden sind & herumspringender,
ungerichteter, indirekter –

von wänden übermitteltes wissen
ich muss meine hand bloß auflegen
kühlen auf zeichen warten

schwäne & brotstücke & vergangene, ausgegangene
berührungen, auf dem weg zu mir gingen sie jemandem vor meinen
augen aus

von wänden übermittelt
was sperrte ich mich auch anfangs so
gegen sie ein.

 

Caroline Danneil

 

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freiTEXT | Markus Anton

daphne oder alle herrscher sterbender welten

ne bessere frau nen besseren job ein schnelleres motorrad längere kürzere hellere dunklere haare besser leben nachhaltiger leben und scheiß auf nachfolgende generationen ein haus mindestens ne villa ein schloss eine insel der mond oder alle anderen bemitleidenswerten planeten hiv mit ner scherbe in die brust geritzt krebs in all seinen variationen und alle anderen krankheiten oder infektionen unheilbar heilbar bewegte bilder zu tode gevögelt re run re run größer kleiner mutterficker vatermörder duftwasser verwesungsgeruch sell buy gutes wetter schlechtes wetter artensterben leise laut grau der unendlichkeit die augen aus dem schädel reißen es versuchen das geräusch glühenden tabaks der sich in die unterarme brennt dann ne chesterfield drogen alkohol vergewaltigung einvernehmlich uneigennützig etwas erreichen irgendetwas my life is better than yours und kinderhände mit gebrochenen fingerknöcheln klammern sich an werte nachfolgender generationen nur mittelmaß erzielt durchschlagende erfolge der klang deiner stimme wirst du gefickt der klang deiner stimme fickst du alter egos auf hochglanz poliert samstag nachmittags massensterben staatlich gefördert dehumanise sportveranstaltungen arenen bitte vergessen sie nicht mich positiv zu bewerten hitler ghandi jede bewegung erzeugt ne gegenbewegung vergänglichkeit ist das problem der anderen mehr macht tödlichere waffen mordende krüppel too many puppys die andere wange hinhalten opfer scheißopfer ich

 

Markus Anton

 

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freiVERS | Stéphanie Divaret

Die Liebenden

Abends standen sie, im Winter,
achteten auf Gleichmaß in den Atemstößen,
setzten den Dolch nur etwas tiefer.

Mit jedem Intervall, das sich verkürzte,
stieg eine Spannung in den Sehnen,
dass die Faust sie nicht mehr hielt.

Aus roten Wänden fiel ein frostiger Befehl,
bis einer aufhorchte, dann beide.

Eine Saite riss, schnalzte in ihren Untergang
und wippte nach als Material.

Wie kleine Tiere fielen letzte Töne
aus dem Korpus einer Weite, die es plötzlich
nicht mehr gab. Nur noch

ein paar Kristalle fügten sich in großer Höhe,
zwei Atemlängen,
auf denen irre Schwärze lag.

 

Stéphanie Divaret

 

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freiTEXT | Magdalena Baran

Nichts als Hitzefrei

Aufwachen. Es kommt von innen. Du machst die Augen zu. Noch ein bisschen. Es wird noch gehen. Nein, doch nicht. Du musst es angehen. Jetzt. Augen öffnen. Sonnenstrahlen durch Jalousien. Schatten am Bett und Boden. Wie Gitter. Schlafzimmer weiß, fast steril. Mit Gittern. 07:42. Kindergeschrei vom Hof. Geruch nach Eiern. Frühstück. Nicht für Dich. Du bist allein. Ganz allein. Drehst dich um. Er schläft. Drehst dich fort. Gut, jetzt raus. Stehst auf. Gehst in die Küche. Drehst Kaffeemaschine auf. Räumst Geschirr weg. Machst Kaffee. Räumst Wohnzimmer auf. Trinkst Kaffee. Drehst Notebook an. Trinkst Kaffee. Schreibst Text. Trinkst Kaffee. Die Angst noch da. 09:19. Dir wird heiß. Ganz heiß von innen. Brechreiz vom Kaffee. Kinder schreien weiter. Kein Geruch mehr. Frühstück aus. Wettervorhersage: heute 34 Grad. Heiß. Drinnen und draußen. Wunsch nach Abkühlung. Überall. Drinnen und draußen. Nicht auszuhalten. 09:27. Schaust aus dem Fenster. Klimaanlage wird montiert. Das nutzt auch nichts. Du weißt es. Es nutzt nichts. Machst Tür auf. Nimmst Zeitung. Titel: #Respekt. Uninteressant. Vollkommen lust- und antriebslos mit 33 Jahren. Jeder andere fröhlich und heiter. Karriereziele. Familienplanung. Selbstoptimierung. Für dich völlig sinnlos. Wunsch nach dem Ende. Bis dahin Zeit totschlagen. 09:53. Vielleicht doch Eier. Vielleicht hilft das – eine Eierspeise! …Eier vorzüglich mit Salz und Schnittlauch. Dazu Toast. Zeitung geht auch noch: Die Bereitschaft Lügen zu glauben ist enorm gestiegen. Glaubst du sofort und isst Eier. Geräusche. Er ist aufgewacht. Licht am Klo. Du isst. Und liest: Kein Staatsziel Wirtschaft –„Fataler Fehler“. Klar. Alles klar. War dir schon immer klar. Fehler macht man. Einmal. Zweimal. Dreimal. So schnell kann es gehen. Das ganze Leben verfehlt. Eierspeise aber doch ganz gut. Nur noch ein Bissen übrig. Zeitung schreibt: Auch der Pudel denkt sich was. Zweifellos. So wird es sein. Aus Langweile einen Hund zu kaufen. Das hättest du machen sollen. Diese Chance auch verpasst. 10:33. Spülung. Angst schon weniger. Eier und Zeitung helfen. Er geht zurück ins Schlafzimmer. Du allein im Wohnzimmer. Zeitung lesend, Eier essend. Leben im Wohlstand. Schön. Scheinbar Badewetter. Dann halt an den See. Gehst ins Bad. Duschen. Rasieren. Eincremen. Schminken. Badeanzug im Schlafzimmer. Er schläft nicht. Legst dich dazu. Er berührt dich. Du berührst ihn. Dir wird heiß. Nähe. 11:28. Du starrst an die Decke. Er neben dir. Alles lichtdurchflutet. Jalousien hochgezogen. Angst weg. Was machen wir heute? Baden? Ihr lächelt. Sonnig und heiter haben sie vorausgesagt. Es wird schön werden. Und heiß. Du weißt es.

 

Magdalena Baran

 

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freiVERS | Raoul Eisele

ein Fleischerleben

unter all dem verwesenden Ruhm
grub er sich aus der dunklen Bauernerde
hin zum Leben:
verwurzelt, wuchs er
Blütentrieb um Blütentrieb heran
neben Kälbern auf der Weide
die um ihn grasten
um endend in jenes zu beißen;
beim Schlachten war er erstmals
mit sieben auf der Bank
[man musste ein Mann werden – tränenvergießen ausgeschlossen]
erbarmungslos
dann schickte man ihn in die Lehre
- Fleischer -
traditionsreich war die Dynastie
schon in der fünften Generation
schlachten/ausweiden/zerteilen/verarbeiten/servieren.
Man war in aller Munde
durch ihn versammelte man sich am Tisch
Jung und Alt
alles kam zusammen …

… als man ihn begrub
warf man Speckscheiben
Rosenblätter waren ausverkauft.

 

Raoul Eisele

 

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