freiVERS | Patricia Falkenburg

Möwentableau.

Weiße Vögel
Auf kartoffelknollig gefurchtem
Braunem Grund.
Schwingen verwahrt,
Einbeinstand
Im rauschenden Regen. Regen.

Kein Licht
Am grauen Himmel,
Leintuchwolken, streifenfrei.
Weiße Lichtpunkte,
Köpfe in Federn geduckt,
Auf dem Feld im Regen. Im
Rauschenden Regen.

Patricia Falkenburg

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freiTEXT | Anna Gawlitta

Wenn die Zikaden zirpen

Schlafen nachts die Zikaden? Oder zirpen sie unentwegt?

Aufstehen müsste man, mitten in der Nacht, und lauschen, wie lange die Zikaden zirpen, dachte ich als ich an einem Sommerabend am offenen Fenster stand, meinen Kummer und meine Einsamkeit beweinte. Gregor hatte mich verlassen, einfach so, ohne Vorwarnung, ohne vorherige Anzeichen. Mir war ausschließlich aufgefallen, dass er seit einiger Zeit nicht mehr „Ich liebe dich“ gesagt hatte. Das hätte mir zu denken geben können. Vorher hatte er es mir unter die Nase geschmiert, diese drei berühmten Worte. Er hatte es in unterschiedlichen Sprachen gesagt, förmlich aufgezählt, ich bringe nur Je t`aime, I love you, Kocham Cie und Ich liebe dich beisammen. Gregor hatte mich mal zum Geburtstag überrascht, und in fünfzehn Sprachen die drei berühmten Worte deklamiert. Damals habe ich lachen müssen wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gekitzelt wird, er hatte mit seinem Ton gespielt, die Worte in die Länge gezogen, sie mal leiser, dann wieder lauter betont, mit den Händen gestikuliert, ist auf und ab gesprungen, auf die Knie gefallen, hat seinen Arm ausgestreckt und hatte mir ein schwarzes, viereckiges Döschen hingehalten, es geöffnet und mir war ein funkelndes Etwas in Ringform entgegen gestrahlt. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, die Hände vor den Mund nahm, aufstöhnte, auf ihn zu rannte, gemeinsam mit ihm umfiel, sein gesamtes Gesicht abküsste und so laut ich konnte Ja schrie. Wir hatten uns verlobt!

Nach der Verlobung veränderte sich alles zum Positiven, es intensivierte unsere Beziehung. Wir liebten einander intensiver, mit jedem vergehendem Tage; wir hielten fester Händchen, wir küssten einander stärker, wir redeten länger und rührten tiefere Themen an. Es hatte sich eine Innigkeit entwickelt, die uns beiden vorher unbekannt gewesen war, die wir vorher nie gehabt haben. Wir waren enger zusammengeschweißt worden, durch diesen Akt, durch diesen Ring an meinem Finger. Zumindest war es mir so gegangen, hatte ich so gefühlt, es so erlebt und habe es so in Erinnerung. Schließlich trug ich den Ring! Und genau hier setzt das Problem an, Gregor trug keinen. Und so lenkte er seine Aufmerksamkeit auf sein Promotionsthema. Gregor war Biologe, hatte sein Studium beendet und einen Promotionsplatz ergattern können. Das Thema: Zikaden. Zikaden hier, Zikaden dort. Ich hatte nicht einmal gewusst, was Zikaden sind. Gregor begann seine Liebe zu mir auf die Zikaden über zu lenken. Ich sah, wie er immer bissiger sich in sein Thema hinein lebte, regelrecht einen Fanatismus in puncto Zikaden entwickelte. Zikaden, Zikaden, Zikaden währte ich mich, als er eine von ihnen nach einem Forschungsgang in der Natur in einem leeren Marmeladenglas stolz wie Oskar nach Hause transportierte.

Igiitt, igitigit, igit brachte ich nur hervor. Nahm das Marmeladenglas samt der Zikade, flitzte so schnell ich nur konnte aus der Wohnung, die Treppe hinunter, öffnete das Glas und warf die Zikade ins Gras. Da fing die Zikade an zu zirpen. Ich erschrak und sprang zurück. Da ging mir auf, was eine Zikade ist, es ist das zirpende Etwas zwischen den Grashalmen an einem warmen Sommerabend. Ich war auf Anhieb begeistert, die Zikade gab ihr Konzert und ich lauschte. Gregor kam mit fuchtelnden Armen mir hinterher, blieb stehen und konnte nicht glauben, was er sah. Ich saß im Gras und lauschte der Zikade. Komm, sagte ich, setzt dich zu mir. Er blickte irritiert, sah sich um, ob niemand uns sehe und setzte sich zu mir. Schön, nicht, sagte er. Ich nickte begeistert, gleich einem Kleinkind. Hier entfachte meine Zikadenliebe und schweißte Gregors Liebe zu den Zikaden mit der meinen zusammen. Ich wurde zur Doktorandin im Thema Zikaden, las alle Materialien, die Gregor bis dahin zusammengestellt hatte, forschte sogar selbst in Bibliotheken nach, korrigierte, vermerkte, ergänzte Gregors Notizen. Seit diesem Zirpen waren die Zikaden zu meiner Leidenschaft geworden. Ich ersetzte Gregor gegen die Zikaden. Wir drückten unsere Händchen nun nicht mehr so fest zusammen, küssten uns nicht mehr stärker, redeten nicht intensiver. Aber das fiel mir erst gar nicht auf, weil ich, solange noch Sommer war, die Zikaden zirpen hören wollte, jeden Abend. Gregor fing an mir den Vogel zu zeigen, aber das machte mir nichts aus, nur dass er jetzt öfters den Finger an den Kopf hielt, und sagte, dass ich spinne, anstatt wie früher den Finger zum Herzen zu führen, und mir zu sagen, dass er mich liebe. Aber dennoch beruhigte es mich nicht, schließlich gehörten wir seit dem Ring an meinem Finger zusammen, so dachte ich. Als ich begann meine Kritik auch mündlich zu äußern, neue Fragestellungen zu entwickeln und überhaupt unentwegt über die Zikaden zu schwärmen, gab Gregor auf, und machte mit mir Schluss. Den Ring wollte er zurück, aber ich bekam ihn nicht mehr vom Finger, so beließ er es dabei, räumte den Schreibtisch, den er bei mir stehen hatte, beisammen, packte seine halb fertige Doktorarbeit zusammen und zog wieder komplett zu seinen Eltern.

Doch wir sahen uns nun häufiger als es ihm lieb war. Ich hatte mich nämlich an der Universität immatrikuliert und forschte zum Thema Zikaden. Ich hatte meine eigenen Fragestellungen und dachte daran über Zikaden meine Abschlussarbeit zu schreiben. Ich besuchte schon sehr bald die Kolloquien, in denen auch Gregor saß, zu seinem Leidwesen, denn ich merkte, wie wütend er auf mich war. Dabei hatte ich nichts anderes als meine Leidenschaft zu Zikaden entdeckt – das war alles! Doch für Gregor war es nicht genug, er ließ sich nicht mehr bei den Kolloquien blicken, ich machte mir Sorgen. Als er das gesamte Semester über weg blieb, rief ich bei seinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Gregor, sagte sein Vater, habe seine Notizen und Bücher eingepackt und sei ausgewandert, aus Forschungszwecken. Wirklich, sagte ich, und da ging mir auf, dass ich bisher ausschließlich die deutschen Meinungen gelesen hatte.

Anna Gawlitta

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freiVERS | Eva Brunner

lpk

die Pflastersteine von Hierapetra
ließen die Mamorfrau vorher gehen
das Planimeter noch in der Tasche

komm geh einen Palast besetzen
Pampelmusen und Pistazien essen
deine Traurigkeit plastisch machen

das Patriarchat ist keine Primel leider
Papier kann helfen Pik kann stechen
denn deine Unschuld ist antik

Eva Brunner

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freiVERS | Susanne Rzymbowski

Verschachtelt
die Sätze in deinem Kopf
aus Fragmenten
einer Zeit die gewaltig
im Nichts tobt
als Schimmer aus Zukunft
ohne Erleben
und dein Herz stahl
für den Moment
der verhungert
so umherirrt
und du schweigst
zu der dir bleibenden Welt

Susanne Rzymbowski

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freiTEXT | Isabella Krainer

Edith

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, da diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.

Isabella Krainer

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freiVERS | Lütfiye Güzel

geisterbahn-karussell

zwanzig neue bücher
in gepolsterten umschlägen
die klammern stecken
ihre köpfe
durch die beiden löcher
ich klebe die seiten noch zu
bevor ich beschossen werde
von meinen eigenen organen

Lütfiye Güzel

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mosaik26 – ich bin keine pflanze

mosaik26 – ich bin keine pflanze

INTRO

„denken sie darüber nach wie es ist
ohne frau zu leben“
– Steffen Kurz (S. 20)

Dieser Tage kam eine Frage auf uns zu: Sag, liebes mosaik, wie hältst du’s mit dem Gendern? Und wir waren etwas überrascht – nicht über die Frage, sondern darüber, festzustellen, dass wir noch nie im Team darüber diskutiert oder aktiv darüber nachgedacht haben. Seit wir uns erinnern können ist der Asterisk da, als wäre er eine selbstverständliche Gegebenheit, wie der Umstand, dass wir nicht auf Kunststoff sondern auf Papier drucken (was wir im übrigen auch nie diskutiert haben).

Kritik an dieser Praxis kommt dieser Tage nicht nur von den Eh-scho-wissen, sondern zum Beispiel auch vom Wiener Philosophen Robert Pfaller, wie er es u. a. in einem Interview mit dem Standard formuliert hat: „Eine Kunstsprache zu verwenden, also zu ‚gendern‘ oder ein Binnen-I einzufügen“, scheint ihm nicht der richtige Weg, „man klingt dabei schnell nicht mehr wie ein vernünftiger Mensch.“ Und er markiert das Gendern als eine Form, sich über eine andere Gruppe zu erheben. Womit wir schnell bei einer Frage sind, die uns in Wellen immer wieder beschäftigt: Was kann/soll Kunst/Literatur im gesellschaftlichen Zusammenhang?

Wir verstehen uns auf einer Mission, Literatur zugänglich zu machen. Doch was bedeutet das? Ist es Aufgabe der Kunst, sich mittels Simplifizierung (über die Themen, Wege und Mittel) neuen Bevölkerungsschichten anzunähern oder ist es Aufgabe der Gesellschaft (des Staates?) Initiativinteresse für Kunst zu schaffen? „Man muss Kultur zu den Menschen bringen“ ist ein häufiger Schlachtruf, der in Sozialprojekten in sogenannten „Problembezirken“ endet und damit genau jene Überheblichkeit zelebriert, die auch Pfaller ankreidet.

„Sei unbesorgt: Von den hundert Namen,
die ich trage, ist kein einziger
Eva“
– Marina Berin

Seid unbesorgt, liebe Leserinnen und Leser, liebe Lesende, liebe Leser*innen, wir geben uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Dafür kann eine Antwort dann auch mal länger dauern. Vor allem dann, wenn man vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Letzteres wünschen wir euch für die vorliegende Ausgabe.

Inhalt

elektrisches zirpen
  • Dagmar Falarzik: Aufziehender Sturm / Der Sturm / Nach dem Sturm
  • Erik Wunderlich: Liebes Dreifingerfaultier
  • Thomas Ballhausen: Stanze
  • Stephan Weiner: Buch vom Zweck
  • Ursula Seeger: Unwillkürliches Flattern. Teil 31: Feingefühl und Anfälligkeit von Maschinen für Unausgeglichenheit und Exzentrik
waldwerden
  • Steffen Kurz: eine blume zwischen zwei abgründen
  • Manon Hopf: Fangen
  • Fabian Lenthe: Sie verlassen mich
  • Michael Pietrucha: Oh. Philia und deine geteilte Pflege mit dem Leben
  • Martin Peichl: 1000 Tode
und du nur so. oh.
  • Barbara Marie Hofmann: wiegenlied [totenschaukel]
  • Marina Berin: Du bittest mich
  • Katherina Braschel: Der Dosenrost sagt den Kieselsteinen, sie sollen mir temporäre Cellulite an den Knöcheln machen. Oder was?
  • Dustin Young: bitte komm
  • Hannah Bründl: wenn wind
Kunststrecke von Dominika Ziober.Król
BABEL – Übersetzungen
  • Jacek Dehnel: Miasta Dalekie / Ferne Städte (aus dem Polnischen von Michael Pietrucha)
  • Enesa Mahmic: Blatusa (aus dem Bosnischen von Marko Dinic)
  • Tobias Roth: Firn / Neve di Primavera (ins Italienischen von Nicoletta Grillo)
  • Yevgeniy Breyger: Schöne Lagunen / Lagune Frumoase; Vorsicht / Atentie (ins Rumänische von Krista Szöcs)
Kolumnen
  • Peter.W.: High Noon an der Datumsgrenze, Hanuschplatz #14
  • Marko Dinic: Über das Plagiat, Lehengrad #5
Buchbesprechung
  • Josef Kirchner: „Buchstaben sind Schmutz auf Papier“ – Zeitschriftenumschau
Interview
  • Miss Tell und Miss Spell – Gespräch Franziska Füchls und Lisa-Viktoria Niederberger
Kreativraum mit Magic Delphin

freiTEXT | Lisa Krusche

Maritim Grand Hotel

Das Flattern des Absperrbandes im Wind. Die Locke, die über deine Wange Richtung Mund streicht. Du, den Joint in der Hand mit dem Siegelring, wie du einatmest, noch mal einatmest, damit der Joint mehr reinknallt. Dein Blick in Richtung Plakate und was du erzählst. Dein Ausatmen und um die Ecke der Obdachlose im Schlafsack und ich, die ich mich frage, ob er schon erfroren ist. Das Maritim Grand Hotel im Hintergrund, Waschbetongebäude, mit diesen Fenstern, innen warmes oranges Licht und die weißen, mal halb mal ganz zugezogenen Gardinen. Du sagst, du müsstest noch mal herkommen, bevor wir überhaupt richtig da sind. Die Kälte und das Bild auf dem Plakat und zu jeder Sekunde mein Körper und das Gefühl meines Körpers, der sehr bewusst ist in seinem hier stehen und noch bewusster in seinem Sehnen. Die Strähne, das Klackern des Absperrbandes, quadratische Betonplatten auf dem Boden, die Härchen auf deinen Fingern, die Strähne und mein Gedanke, ich müsste Film machen, Film ist das Mittel der Wahl, weil es alles hat, Bild und Ton und Text, wenn man will, und der Wunsch eine Kamera zu haben, um alles, um dich aufzunehmen und die Strähne und die Hand und der Joint an deinen Lippen, und noch viel mehr der Wunsch endlich aufzuhören diese Dinge zu tun, die ich tue, aus Pflichtbewusstsein, und stattdessen nur noch dich zu filmen und alles aus Lust.

Lisa Krusche

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freiTEXT | Bas Lindgaard

Von Licht und Schatten und Wind und Ratten

Ich bin ein Landstreicher und brate Ratten über offenem Feuer, wenn der Hunger zu groß wird. Eigentlich will ich kein Fleisch essen, vor allem nicht das von quietschenden, pfeifenden Abfallwesen, aber oft bleibt mir keine andere Wahl. Ich mag Beeren und Gemüse, und letzten Herbst habe ich mir meinen Beutel bis obenhin mit Mais vollgestopft und tagelang nichts anderes gegessen. Was würde ich jetzt für einen dieser saftigen Maiskolben geben! Stattdessen kämpfe ich dagegen an, mich zu übergeben, während der beißende Fleischgeruch mir in die Nase steigt und das Rattengesicht im Feuer dahinschmilzt.
Aber danach geht es mir besser und wenn ich ehrlich bin, ist es mir schon währenddessen egal, was genau ich da eigentlich in mich hineinstopfe. Manchmal gelingt es mir, einen Vogel zu fangen, und manchmal ist es sogar ein schöner Vogel, einer mit gemusterten Federn, und wenn ich mich erstmal dazu überwunden habe, ihm die Flügel auszureißen, und den ersten Bissen des zarten Fleisches auf meiner Zunge spüre, kann ich das unwürdige Mahl fast ohne Probleme genießen.
Wirklich schlimm wird es erst wieder, wenn der Magen rebelliert, so, als würde er wissen, welche Abartigkeiten er da zersetzen muss. Dann hilft es meistens, zu laufen.
Beim Laufen prasseln ständig neue Eindrücke auf mich ein, ich bekomme so viel zu sehen, dass ich gar nicht erst auf die Idee komme, an mich selbst oder das Zeug in meinem Inneren zu denken. Ich denke an das Geräusch, das die Schritte auf dem Feldweg verursachen, denke an den Wind, der durch die Bäume und die Gräser streicht, daran, dass er das schon getan hat, bevor ich hier war und es noch tun wird, wenn ich schon lange mehr da bin. Vielleicht werde ich irgendwann selbst zum Wind und muss mir keine Gedanken mehr machen, über die nächste Mahlzeit oder den nächsten Winter, wenn es wieder nur Ratten zu essen gibt.
Komme ich an einen Fluss, kann ich nicht anders, als ihm ein Stück weit zu folgen. Ich stelle mir dann gerne vor, dass ich irgendwann seinen Ursprung erreiche, einen kleinen Spalt in einem großen Felsen, der bis weit über die Wolken reicht, und da oben sitzen die Götter und trinken Wein und wundern sich über die Menschen. Darüber, dass sie Ratten fressen, statt zum Wind zu werden.
Die Steine am Ufer sind älter als ich und müssen nichts sagen, damit ich von ihnen lernen kann, sie können nicht denken, also sind sie glücklich. Mit ihnen würde ich mir gerne den Magen vollschlagen, ich würde mich nicht schlecht fühlen dabei, vielleicht würde ich in den Fluss steigen und auf den Grund sinken, zu den anderen Glücklichen, die einfach da sind und an nichts weiter denken.
Aber heute noch nicht. Heute streife ich durch die Felder und wenn die Sonne droht, hinterm Horizont zu verschwinden, lege ich mich in einer Scheune zur Ruhe …

Am nächsten Morgen schaue ich zuerst in den Lauf einer Schrotflinte, dann in das harte Gesicht des Mannes dahinter. Und ich verstehe ihn nicht, ich verstehe seine Worte, aber ich weiß nicht, warum er wütend ist, ich weiß nicht mal, ob es wirklich Wut ist oder irgendwas anderes, irgendwas, das er selbst nicht versteht. Und weil ich nichts verstehe, schließe ich die Augen, und sehe wieder das schmelzende Gesicht der Ratte, und als der Schuss ausbleibt und ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Gesicht des Mannes, das langsam zerschmilzt und weich wird und dann lässt er die Schrotflinte sinken.
Er will wissen wie ich heiße und ich sage Fedka und dann will er wissen, was ich mache, außer in fremde Scheunen einzubrechen, und ich erzähle ihm von den Ratten und von den Vögeln, und dann fragt er mich, ob ich für ihn arbeiten will. Will ich, sag ich.
Und jetzt esse ich Eier von Ulinovs Hühnern und all die anderen Leckereien, die seine Vorratskammer hergibt, und helfe ihm auf seinem Hof und den Feldern, was meistens bedeutet, dass ich die Krähen verscheuche, die in den Baumwipfeln ausharren und lauern.
So vergehen die Tage und Ulinov ist zufrieden mit mir. An das harte Gesicht kann ich mich kaum noch erinnern, er nennt mich liebevoll »Vogelscheuche Fedka« und erzählt von seiner Frau, davon, wie sie eines Nachts mit seiner Tochter fortging und nicht mehr wiederkam, und wie sehr er die beiden liebt und vermisst und ich verspreche ihm, die beste Vogelscheuche weit und breit zu werden, damit die Vorratskammer aus allen Nähten platzt, wenn seine Frau und seine Tochter zurückkommen. Und er lacht und er freut sich und sagt ja, mein Sohn.

Dann kommt der Briefträger. Es ist das erste Mal, seitdem ich hier bin, dass Ulinov Post bekommt, und es soll auch das letzte Mal bleiben, denn nachdem der Briefträger ihm den Brief vorgelesen hat, fasst mein Freund sich ans Herz, und ich hätte ihn gerne noch gefragt, was denn los ist, und noch tausend andere Dinge, doch sein Gesicht ist schlohweiß und so hart, wie es damals war, und ich habe Angst und bleibe still. Ich bleibe auch dann noch still, als er zu Boden sackt und fange erst an zu weinen, als ich seinen leblosen Körper in den Armen halte und in ein fremdes Gesicht blicke, eines, das weder hart noch weich ist.

Dann wird Ulinov begraben. Ich war noch nie auf einer Beerdigung, ich verstehe nichts von dem, was der Mann im schwarzen Umhang spricht und werde sauer auf ihn und frage mich, ob er der Tod ist.
In den Friedhöfsbüschen lauern die Ratten wie die Krähen, und nachdem Ulinov in der Erde versunken ist, erschlage ich aus Wut jede einzelne von ihnen, und ich weiß noch nicht mal, ob es Wut ist oder irgendwas anderes, was mich das tun lässt. Ich stopfe sie in den Beutel, den gleichen Beutel, der letzten Herbst noch voll mit saftigen Maiskolben war, früher, als alles besser war.

Denn jetzt sitze ich alleine auf Ulinovs Feld und brate Ratten und sein Gesicht hab ich schon fast wieder vergessen. Aber vielleicht ist er noch da, vielleicht ist mein Freund jetzt der Wind, der die Glut entfacht und das Feuer nährt, der gleiche Wind, der die Funken fliegen lässt, der untergehenden, blutroten Abendsonne entgegen, und das Feld in Brand setzt. Und diesmal wird es mein Gesicht sein, das in den Flammen knackt und dahinschmilzt, und ich werde still sein, während ich langsam auf den Grund des Flusses sinke und aufhöre zu denken.

Bas Lindgaard

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freiVERS | Enno Ahrens

Im Geisterdorf

Ihr Geschrei ist verstummt
keine Kinderhand entzündet
sich mehr an den Nesseln
am Saum der Gärten stehen
sie verschlafen
die Häuser nur noch leere
fruchtlose Hülsen vereinzelt
bewohnt von Alten gefallen
wie aus einer längst
vergangenen Zeit
ein Greis döst in seinem
Lehnstuhl unwirklich
wie ein Rauchermännchen
verschwindet einen kurzen
Moment in dem Qualmwirbel
wie in einem schwarzen Loch

einzig die Ente im
verwilderten Fischteich
zeigt sich befindlich
beim Eintauchen
den Bürzel aufwärts

Enno Ahrens

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