freiTEXT | Leonie Groihofer

Leben geben

 

Sie versucht, sich noch länger unter Wasser zu halten, den Druck unzähliger Kubikmeter als warme Masse auf ihrem Körper zu spüren, aber sie kennt den Auftrieb, er hat schon eingesetzt, angesetzt, er lässt sie nicht mehr los. Treibt Miriam unaufhaltsam Richtung Oberfläche. Dann ist sie wach. Kurz benommen, weil der Druck noch immer da ist, weil sie sich den Druck für einen Moment nicht erklären kann. Für einen Moment nur, dann steht sie auf, deckt den Tisch samstagmorgendlich, stellt auch die Erdbeermarmelade hin, obwohl sie ihr zu süß ist. Über der An-Taste des Radios zögert sie. Radiohören wäre Schonfrist. Schonfristen kann sie sich nicht leisten. Das Radio bleibt aus, dafür kostet sie die Erdbeermarmelade, wider besseren Wissens, in einer kindischen Hoffnung, sie würde ihr vielleicht doch schmecken, weil Markus sie so gerne isst. Eigentlich, denkt sie, müsste ich ausnutzen, dass Markus nicht da ist, und sie überlegt tatsächlich eine ganze Weile, welche Dinge es gibt, die sie tun könnte, jetzt, während Markus weg ist, ohne jedoch ernsthaft auf etwas zu kommen, bis ihr einfällt, dass Markus ja nicht einfach so weg ist, dass es einen Grund gibt, warum Markus weg ist, dass Markus ja genau darum weg ist, damit sie Dinge tun kann, die sie nicht tun kann, wenn er da ist. Nachdenken. Eine Entscheidung treffen.
Sie lässt sich Zeit, wäscht das Brotmesser mit der Hand, trocknet es sorgfältig ab. Sie hat sich vorgestellt, sie würde sich an ihren Schreibtisch setzen, oder auf die Couch im Wohnzimmer, mit einem Block auf den Knien, Pro und Contra auflisten. Sie hat sich vorgestellt, sie würde noch einmal alle Artikel lesen, alle Informationsseiten durchgehen. Sie hat sich vorgestellt, sie würde sich vorstellen, wie ihre Großmutter entschieden hätte. Oder ihre Urgroßmutter. Sie hat keine Lust.
Sie hat keine Lust, das ist ihr mit einem Mal vollkommen klar, als sie sich auf das Sofa gesetzt hat. Am liebsten würde sie Markus anrufen, er solle nach Hause kommen und sie würden sich ein gemütliches Wochenende machen. Aber das geht nicht, natürlich geht das nicht, das würde er ihr auch genau so sagen, froh sollte sie sein, dass er ihrem Wunsch nachgekommen ist, dass er sie so gut verstanden hat. Und jetzt muss ich mich selber verstehen, denkt Miriam. Sie schaut an sich herab, schaut an ihrem Körper herab, dem vertrauten, dem selbstverständlichen, dem gegenüber man mit den Jahren des Erwachsenseins eine gewisse Betriebsblindheit entwickelt, bis sich das Alter bemerkbar zu machen beginnt. Aber dazu muss es nicht kommen. Nicht so schnell jedenfalls.

Ich sollte nackt sein, denkt Miriam plötzlich, zögert trotzdem einen Moment, bevor sie dann doch ein Kleidungsstück nach dem anderen abstreift, zuletzt die Socken. Sie legt sich auf den Rücken, den Kopf leicht an der Sofalehne abgestützt, sodass sie sich selbst betrachten kann. Die etwas zu langen Zehennägel. Die rasierten Unterschenkel. Die ausladenden Oberschenkel. Das zusammengestutzte Schamhaar. Den im Liegen perfekt flachen Bauch. Die unförmig zur Seite hängenden Brüste. Sie erinnert sich an eine Meditationsübung aus ihrer Yoga-Phase: Sie macht die Augen zu und wandert von oben nach unten, fängt beim Scheitel an, spürt ihre Wangenknochen unter der Haut, ihre angespannten Schultern, ihren Brustkorb, der sich hebt und senkt, das unangenehm vertraute Kreuz, die Kraft in ihren Beinen, spürt auch die Hände, leicht schwitzig, da, schon fangen sie zu kribbeln an, als würden sie sich genieren vor dieser Leibesvisitation.

Über diesen ihren Körper hat sie zu entscheiden.
Eine plötzliche Unruhe packt sie, vielleicht sollte sie Laufen gehen, sich bewegen, „den Kopf frei kriegen“, wie man so sagt. Sie will aufstehen, aber etwas lässt sie zögern. Seit gestern erfüllt sie eine seltsame Ehrfurcht, eine seltsame Scheu gegenüber ihrem Körper, als wollte sie ihn beschützen, in Watte packen, konservieren.

Morgen Abend kommt Markus nach Hause. Die kleine Digitaluhr auf dem Couchtisch, die auch Luftfeuchtigkeit und Temperatur anzeigt, macht Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.

Hast erfasst Miriam. Sie streift ihren Trainingsanzug über, schlüpft in ihre Laufschuhe, ist erleichtert, als endlich die Haustür hinter ihr ins Schloss fällt. Ihre Schritte sind schwerer als sonst, hallen in den Schläfen wider. Die Gedanken kommen von allein, aber es sind die falschen, die schon oft gedachten. Dass sie naiv waren, alle miteinander, dass sie das nicht kommen gesehen haben. Dass sie sich vielleicht eingeredet haben, sie würden die SULV hier nicht einführen, nicht rechtzeitig jedenfalls, in der abergläubischen Hoffnung, dass es gerade deswegen doch passieren würde. Wie sie am Ende alle überrascht waren, wie schnell es gegangen war. Zehn Jahre nach Einführung in den USA, wenige Monate nach dem Beschluss in Deutschland, wurde die Etablierung eines Systems zur Staatlich Unterstützten Lebensverlängerung in Österreich verkündet, bei einer schnöden Pressekonferenz, deren Livestream sie alle viel zu spät einschalteten, weil sie nicht geglaubt hatten, dass es tatsächlich passieren würde. Und dann die Unsicherheit, ob es sie noch betreffen würde oder nicht. Bei welchem Jahrgang sie die Grenze setzen würden. Und später das Gefühl, sie hätte noch ewig hin, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, bis zu der Entscheidung. Und zwischendrin Markus, der etwas in ihr Leben brachte, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Alles Ausreden. Sie weiß, sie hätte viel früher beginnen sollen, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Spätestens, als die Einladungen zur Untersuchung bei ihren Freundinnen eintrudelten. Als manche ein riesiges Geheimnis daraus machten und andere über kaum etwas Anderes mehr sprechen konnten. Miriam hatte mitdiskutiert, Meinungen gehabt, Fakten aufzählen können. Trotzdem hatte es sich immer fern angefühlt. Als ob es sie nicht beträfe. Man kann das sowieso nicht rein rational entscheiden, hat Miriam gesagt. Man muss sowieso das Ergebnis der Untersuchung abwarten, hat Miriam gesagt. Im Grunde gibt es eh nur eine vernünftige Entscheidung, hat Miriam gesagt.

Sie bleibt stehen. Zu abrupt, das Keuchen atmet weiter. Sie hat sich gefreut, gestern. Als ihr der Arzt das Untersuchungsergebnis mitgeteilt hat, hat sie sich gefreut. Mit einer aufflammenden, ungekünstelten Freude hat sie sich gefreut, wie früher als Kind, wenn die Wohnzimmertür aufging und sie den erleuchteten Christbaum zum ersten Mal sah. Und auch der Arzt hat gelächelt, als fände auch er, dass es eine gute Nachricht sei, die er ihr überbracht hat. Eine gute Nachricht, die tausend Türen in Miriams Kopf aufgerissen hat, durch die seit gestern der Wind bläst, ein unaufhörlicher, einer, der undichte Fenster zum Raunen und Bäume zum Wanken bringt. Und ein Satz wirbelt jetzt wie ein weißes Blatt Papier durch diesen Wind, bis es an Miriams Frontallappen kleben bleibt wie an einer Windschutzscheibe. Ich wollte immer schon schwanger werden.
Und in diesem Augenblick weiß Miriam, dass das stimmt. Dass es stimmt, spätestens seit jenen Tagen, als sie mit Andrea oder Flora oder Isabelle spielte, nachspielte, was sie im Fernsehen gesehen oder sich von den Erwachsenen abgeschaut hatten, als sie spielten, dass sie toughe Frauen waren, die ihre unsichtbaren Männer an ausrangierten Telefonen zur Schnecke machten, spielten, dass sie Auto fuhren und einkauften und Urlaub machten und sich mit Freundinnen über Erwachsenendinge stritten. Als sie spielten, dass sie schwanger waren und Babies bekamen.
Miriam zwingt sich, weiterzulaufen. Einen Schritt nach dem anderen zu setzen. Den Sturm in ihrem Kopf leise zu halten. Zu ordnen, was jetzt also klar ist. Seit heute weiß ich, dass ich schon immer schwanger werden wollte. Und seit gestern weiß ich sicher, dass ich schwanger werden kann.

Für die weitere Familienplanung sprechen der SULV-Expert:innenrat sowie der Gesundheitsminister eine ausdrückliche Empfehlung an alle Frauen bzw. Menschen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen aus, vor Beantragung der Staatlich Unterstützten Lebensverlängerung (SULV) einen kostenlosen Fertilitätstest in einer Spezialambulanz durchführen zu lassen. 90% der Frauen, die SULV beantragen, nehmen dieses Angebot in Anspruch. Bitte beachten Sie, dass der Antrag auf SULV vor der Vollendung des 25. Lebensjahres abgeschlossen sein muss und vereinbaren Sie rechtzeitig einen Termin in Ihrer nächstgelegenen Ambulanz.                                                                                                                                        

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Damit bin ich noch keinen Schritt weitergekommen, denkt Miriam. Sie hat es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Sich an den Computer zu setzen, noch einmal alle Empfehlungen, alle Berichte zu lesen. Obwohl das nur Zeitschinden wäre. Weil sie alles, was sie wissen muss, längst weiß. Weil sie weiß, dass alle, Markus, ihre Mutter, ihr Chef, Isabelle, ihr zur Sterilisation raten würden, wenn sie sie fragen würde. Es ist das Vernünftigste, sagt Miriam sich. Sie läuft jetzt langsamer, fühlt sich auf einmal schlapp, erschöpfter als gewöhnlich. Erreicht das Haus wie eine Rettungsboje. Nimmt den Lift hinauf in die Wohnung anstatt wie sonst die Stiegen.

FAQ

Was bedeutet „demographiesteuerndes Anreizsystem“?

Die SULV (individuelle Lebensverlängerung) stellt unsere Gesellschaft vor große Veränderungen. Ein großer Teil der Bevölkerung wird viel länger gesund leben und erwerbstätig sein können. Um einen funktionierenden Sozialstaat aufrecht zu erhalten, gibt es daher einige Anpassungen bezüglich der Anspruchsberechtigten für staatliche Leistungen. Weiterführende Informationen finden Sie unter Familienbeihilfe NEU bei SULV , SULV und Pension .

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Sie sollte noch einkaufen gehen, irgendetwas kochen, das Markus nicht gerne isst, Karottensuppe zum Beispiel, und danach vielleicht die Fertigmohnnudeln, denen er so erstaunlich viel Verachtung entgegen bringen kann. Markus, der sich schon entschieden hat. Bei ihm gab es nicht viel zu überlegen, hat er gemeint, seinen Wehrdienst hatte er bereits absolviert, alle Voraussetzungen erfüllt, da war es keine Frage, ob er den Antrag stellen würde oder nicht. Markus, der seit über einem Jahr einmal im Monat zur Apotheke trabt und seine SULV-Ration abholt. Der das nie vergisst, niemals nervig findet. Markus, der für die nächsten 30 oder 50 Jahre keine Falten, keine Glatze, keine grauen Haare bekommen wird, keine Altersweitsichtigkeit, der sich die nächsten 150 Jahre nicht mit altersbedingten Krankheiten wie Diabetes oder Demenz auseinandersetzen wird müssen, dessen Krebsrisiko nur langsam ansteigen wird.

Das alles kann Miriam auch haben, wenn sie will. Ihren Ausweis in der Apotheke mit merkwürdigem, aber unleugbarem Stolz vorzeigen. Sich gut fühlen, beruhigt fühlen, bestärkt fühlen, wenn sie vor dem Frühstück die zwei Pillen schluckt. 200, 300 Jahre leben, statt 80 oder 90. Reisen, Bücher lesen, Sprachen lernen, nachdenken. Ja, auch arbeiten, viel arbeiten, um genügend Vermögen für die lange Zeit als Pensionistin anzusparen, aber sie wird Sabbatjahre nehmen können, vielleicht eines alle 15, 20 Jahre. Wahnsinnig, die dazu Nein sagt. Sie sieht ein Paradies vor sich wie ein unberührtes Wochenende. Das köstliche Gefühl, Zeit zu haben. Und Markus. Wenn ich es nicht mache, dann müssten wir uns trennen, denkt Miriam auf einmal, verbietet sich den Gedanken noch im selben Moment, weiß, dass er wahr ist, lässt den Zweifel trotzdem zu, und auch den nächsten Gedanken. Beziehungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Sie muss sich alleine entscheiden.

Es fühlt sich seltsam an, im Supermarkt durch die Regalreihen zu gehen, sie ist unaufmerksam, nimmt die falsche Butter, die, die Markus immer leicht ranzig findet. Als sie in der Tiefkühlabteilung steht, packt sie so etwas wie Aufmüpfigkeit, sie will etwas Neues probieren, greift schon nach den Nougatknödeln, als ihr der Mut entweicht wie Luft aus einem Fahrradschlauch. Sie hat den absurden Gedanken, es wäre zu riskant, diese Nougatknödel zu essen, sie könnte davon einen anaphylaktischen Schock bekommen und keine Luft mehr bekommen und ersticken und dann wäre alles umsonst, besonders all die Gedanken, die sie sich heute schon gemacht hat. Miriam nimmt doch die gewohnten Mohnnudeln, nicht ohne ein Gefühl von Niederlage. Sie kennt sich. Sie ist noch nie aufmüpfig gewesen. Sie wird keine von denen sein, die die SULV in Anspruch nehmen und trotzdem ein Kind zur Welt bringen. So, wie es noch immer ein paar Frauen machen. Trotz all der Warnungen von Ärzten, das während Schwangerschaft und Stillzeit notwendige Aussetzen der Medikation könnte die lebensverlängernde Wirkung der Therapie erheblich beinträchtigen. Trotz der finanziellen Nachteile, des erloschenen Anspruchs auf Familienbeihilfe für Mütter mit SULV. Trotz der in jeder Zeitungskolumne vertretenen Meinung, es sei moralisch falsch, beides zu wollen: ein Kind und 200 zusätzliche Lebensjahre.

FAQ
Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der SULV und einer etwaigen Familienplanung?

Die lebensverlängernde Therapie muss für die Dauer der Schwangerschaft und Stillzeit ausgesetzt werden. Schwangerschaft und Geburt stellen eine weitreichende körperliche Belastung dar, die nach Ansicht von Expert:innen1 die Wirkung der SULV dauerhaft beeinträchtigen könnte. Frauen mit SULV wird dringend dazu geraten, sich vorbeugend einer Sterilisation zu unterziehen.

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An der Kassa hat sie das Gefühl, dass noch irgendetwas fehlt in ihrem Einkaufswagen. Irgendetwas Tröstliches. Sie will schon zu den Schokoriegeln für Spätentschlossene greifen, aber etwas hält sie zurück. Marietta. Mariettas insistierende Stimme, die ihr Vorträge hält über Kakaobauernfamilien, die sich zugrunde schuften, über Palmölplantagen, für die der Regenwald dran glauben muss. Marietta, für die Miriam eine scheue Bewunderung empfindet, eine mit schlechtem Gewissen durchsetzte, eine Zuneigung, die sich immer mehr vollzusaugen scheint mit schlechtem Gewissen. Sie denkt daran, wie sie mehr und mehr Zeit verstreichen lässt, bevor sie auf Mariettas Nachrichten antwortet. Wie sie sich am liebsten Ausreden einfallen lassen würde, wenn Marietta vorschlägt, einen Kaffee trinken oder gemeinsam zu diesem Konzert oder jenem Vortrag zu gehen, und dann doch mitkommt. Wie sie ihr aufgefallen sind, die zarten Fältchen um Mariettas blassblaue Augen. Wie sie Mariettas Stimme jetzt deutlich hört, mit nordwestdeutschem Einschlag, diese Stimme, die sich sicher ist, dass Miriam ihr zustimmen wird, wenn sie sagt, dass es ungerecht sei, dass gesunde Menschen in Österreich lebensverlängernde Medikamente bekommen, während anderswo die Lebenserwartung bei gut 50 Jahren liegt. Und natürlich stimmt Miriam ihr zu, auch jetzt, wo Marietta gar nicht da ist, sondern vielleicht gerade in Portugal oder den Niederlanden oder zuhause in ihrer WG, natürlich ist es ungerecht. Aber, denkt Miriam, es ist nun einmal so. Und meine Entscheidung dafür oder dagegen ändert nichts an der Situation einer Somalierin oder Nigerianerin. Und je länger ich arbeiten kann, desto mehr kann ich spenden, denkt Miriam, denkt es wie einen Satz, der nicht von ihr selbst stammt, wie etwas, das man eben so sagt, das man eben so gehört hat, das sich eben so gehört. An den sich die üblichen Sätze anschließen, die Miriam in Diskussionen mit Freundinnen selbst schon oft gesagt, oft gehört hat. Dass es Ausgleichsmaßnahmen gebe. Dass sie der SULV die migrationsfreundlichste Politik verdanken, die in der EU je geführt wurde. Dass das doch nicht nichts sei.

Sie erschrickt. Also hat sie sich schon entschieden? Der Augenblick fällt ihr ein, der kurze, gestern, als der Arzt schon zum Lächeln angesetzt hat, bevor er ihr den ausgedruckten Befund in die Hand gedrückt hat. Der kurze Augenblick, in dem sie gehofft hat, er würde ihr etwas Anderes sagen. Es würde das passieren, was sie sich in manchen Nächten kurz vor dem Einschlafen ausgemalt hat, nur dann, kurz vor dem Einschlafen, um sich vormachen zu können, sie hätte es gar nicht gedacht, nur geträumt, gehört, gelesen. Dass sie der Arzt nach der Untersuchung anschauen würde, mit diesem prüfenden Blick, den man aus Filmen oder Fernsehserien kennt, und dann sagen würde: „Aber Frau Pichler, Sie sind doch schon schwanger!“ Doch der Augenblick ist verstrichen, der Arzt hat ihr den Zettel in die Hand gedrückt, ihr diese und jene Zahl darauf erklärt und am Ende die Worte ausgesprochen: „Es spricht nichts dagegen, dass Sie ein Kind austragen können.“

Es spricht etwas dagegen, dass sie ein Kind austrägt.
Sie trägt ihre Einkaufstaschen nach Hause. Es fühlt sich an, als hätte sie zu schleppen. Sie braucht eine Pause.

Liebe am See, irgendeine alte Folge. Sie merkt zu spät, dass es die ist, in der Saskia Robert endlich sagt, dass sie schwanger ist, nachdem es die Zuschauer schon geschlagene drei Folgen gewusst haben, ja sogar schon vor Saskia geahnt hatten, wegen der Schwindelanfälle, die sie seit Folge 2643 geplagt hatten.
Was hat sie denn vor in diesen 200 Extra-Jahren? Was wäre denn anders als jetzt?

100 Jahre „Liebe am See“ schauen.
Sie drückt auf Stopp. Legt ihre Hände über beide Augen.
Erlaubt sich, aus der untersten Lade im Küchenkasten die Tafel Schokolade hervorzuholen, zwei Stück abzubrechen, in den Mund zu schieben.
Natürlich könnte sie etwas anfangen mit diesem Leben. Mit dieser ganzen Zeit. Allein schon das Gefühl, Zeit zu haben. Sie könnte doch noch ihren Doktor machen. Markus verlassen. Andere Männer lieben. Markus zurückerobern. Sich mehr Fehler erlauben, vielleicht.

Dann ist das Leben vorbei, sagt Markus manchmal, wenn sie übers Kinderkriegen reden, und Miriam weiß, er meint die Jugend. Das Nur-für-sich-selbst-da-sein-Müssen. Das Sich-jederzeit-neu-entscheiden-Können. Das Noch-immer-nicht-hundert-Prozent-erwachsen-sein-Müssen.
Miriam streckt sich, spürt ihre vom Sitzen steifen Glieder. Fühlt sich plötzlich wahnsinnig alt in diesem ihrem, immer schon ihrem Körper. Wundert sich, dass er seit 24 Jahren ohne Pause funktioniert. Seltsam, dass unsere Herzen nicht öfter zu schlagen aufhören.
Ich bin jung, ich bin jung, ich bin jung.
Jung, das waren sie, als sie einer dem anderen nackt gegenüber standen. Ein Risiko eingingen. Sagten „Ich will dich“ ohne sicher sein zu können, dass der andere „Ich dich auch“ antworten würde. Jung. Zerbrechlich. Verletzlich. Hungrig, wach, neugierig. Rührend, zum Weinen rührend schön. Wann ist man jünger, als wenn man ein Kind bekommt?

Irgendwann wird Markus sich auch ein Kind wünschen, denkt Miriam. Und dann wird er sich eine Frau suchen, die noch kann.
Beziehungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht, Miriam.

Sie zwingt sich, das Andere zu sehen. Das zweite Studium, das sie sich in ein paar Jahren leisten könnte. Zeitlich und finanziell, muss sie hinzufügen. Vielleicht doch noch in die Forschung gehen, vielleicht doch noch ins Ausland, vielleicht noch einmal ein Jahr nichts machen. Das köstliche Gefühl, Zeit zu haben. Zu lernen. Immer mehr von dieser immer noch so unbegreifbaren Welt verstehen können. Den Dingen auf den Grund gehen können.

Nicht können. Niemals können. Unergründlicher Grund. 200 Jahre Serien schauen. Habe ich denn Träume?

Ja, Miriam.

Sie sieht das Kind nicht, sie spürt es. Zeugen, heranwachsen fühlen, gebären. Küssen. Lieben. Das Leben dafür geben.

Das ganz normale Opfer, das jede bringen muss.

Und dann denkt sie kurz, sie müsse verrückt geworden sein, weil sie da auf einmal etwas spürt, in ihrem Bauch, ganz weit unten, und erst als es hochzusteigen beginnt, hinauf in die Magengegend, weiß sie, es ist nur die Wut.
Es ist immer besser, die Wahl zu haben, hat Isabelle gesagt, als sie Miriam erzählt hat, dass bei der Untersuchung herausgekommen war, dass es bei ihr ohnehin schwierig wäre. Ein zurechtgelegter Satz, den man mit gut geölter Stimme ausspricht, der so dick in Vaseline eingecremt ist, dass unmöglich festzustellen ist, ob man ihn ernst meint oder nur nachplappert, einer, der er von selber herausflutscht, weil ihn jede sagen könnte, ein Satz, der eigentlich schon gesagt ist.

Es ist immer besser, die Wahl zu haben, es ist besser, die Wahl zu haben als nicht, es ist besser, die Wahl.
In England zum Beispiel, da ist Sterilisation Pflicht, für Männer und für Frauen, die Lebensverlängerung in Anspruch nehmen wollen. Hier in Österreich könnte Miriam vielleicht beides haben, ein Kind und, wenn nicht 300, vielleicht 250 Jahre leben, aber eben nur vielleicht, eben nur so, dass einem nie jemand etwas darüber erzählt oder sich bei jeder Gelegenheit in schwammige Umwege flüchtet, eben nur so, dass man niemandem etwas darüber erzählen darf. Dann besser ehrlich sein, so ehrlich wie Marietta, wissen, was das Richtige ist und gerade deswegen das Richtige tun. Darwin konnte dem Leben keinen Sinn geben, hat Marietta gesagt, wohl aber dem Tod. Platz machen für das, was nach uns kommt.

Marietta wird Platz machen, wird viel früher Platz machen als Andrea oder Isabelle, als Markus. Und sie, Miriam, wird zusehen. Wird vielleicht noch leben, wenn Marietta schon 100 Jahre tot ist. Wird sich unmöglich noch wirklich, noch ehrlich an sie erinnern können. Oder?
Ich bin zu feig, denkt Miriam. Nicht mutig genug, um so zu sein wie Marietta. Und noch etwas denkt sie, ganz leise, sodass sie so tun kann, als hätte sie es überhört: Für Marietta reicht ein Leben.

Für Miriam nicht?

Im Zimmer ist es dämmrig geworden. Wenn Markus sich noch nicht entschieden hätte. Wenn sie gemeinsam entscheiden würden. Der Geruch von Markus‘ T-Shirt, wenn sie ihre Nase an seiner Schulter verbirgt. Markus‘ Kopf in ihrem Schoß, Küsse auf seine Schläfe, seine Augen, seinen Mund. Markus‘ Hände, Markus‘ Zeigefinger, von den Augen bis zur Nasenspitze. Markus umarmen. Markus‘ Arme.
Wie oft wird es noch einen Markus für sie geben?

Bringt nicht auch Markus ein Opfer, so oder so?

Miriam hat es nie zugegeben, aber sie hat die laute Kritik der Feminist*innen an der SULV-Regelung nicht ganz verstanden. Hat die Argumente der Politik einleuchtend gefunden. Die offenkundige Notwendigkeit demographischer Steuerung. Die medizinischen Nachteile für Mütter. Die Gefahr, am Ende gar keine zeugungsfähigen Männer mehr zu haben, wenn sie sich wie in England auch sterilisieren lassen müssten.
Jetzt glaubt sie zu verstehen.

19-Jährige ohne Gebärmutter, die sich nach ein paar Bier für die SULV anmelden und es nie bereuen werden.

Sie, mit Gebärmutter, die eine Funktion ihres Körpers abschalten lassen soll.
Und Markus. Aber Markus. Markus, den sie trotzdem und unabhängig davon und mit voller Berechtigung liebt, den sie jetzt liebt, in der Gegenwart, dem einzigen, was real ist. Morgen ist schon Schimäre. Ein Kind ist schon Schimäre.

Draußen ist es fast Nacht. Sie hat Hunger. Sie hat noch gar nichts gekocht.

Der Schlüssel dreht sich im Schloss.

Da bist du, sagt Markus. Ich hab‘ mir gedacht, ich steh‘ dir bei.

Sie kann es ihm nicht verübeln.

Er ist zu früh.

Er weiß schon, was er tut.

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Leonie Groihofer

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POEDU – Text des Monats Dezember

Türchen öffne dich

Meine Süßigkeit ist eine Maus
Die Maus isst Zucker
Und wird zum Pfau
Der Pfau geht durch die Straße
Auch
Die Frau
Sagt Schau
Ein Pfau
Die Männer rufen an im Zoo
Die Wärter kommen angebraust
Der Pfau der rennt und spuckt
Den Zucker aus
Zurück sie ist die kleine Maus
Die huscht hinein ins
Türchen zu
Ruh

Emma

(8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe diesmal kam von Sabine Schiffner:

Erstelle ein Gedicht für ein Türchen von einem Adventskalender, den Du Deiner/m besten Freund:in schenken willst. Mach ihr/ihm also ein Geschenk aus süßen Worten. Schreibe über Deine Lieblingssüßigkeit, oder denk Dir doch einfach eine neue Süßigkeit aus, eine lustige, eklige, oder eine Zaubersüßigkeit.

 

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24 | Sigune Schnabel

Erziehung ist wie ziehen

Von Gott sollst du kein Bild machen.
Die Linsen verzerren seine Kanten,
verfärben die Schattierung im Gesicht.
Mutter steht
mit wehendem Handtuch
auf der Treppe.

Ich weiß von ihm
aus nebligen Geschichten,
suche im Gartenhaus
und zwischen Giersch.

Gib mir das Abendlied,
rufe ich,
damit ich dich besser verstehe.
Ich bin ein Erfinder.
Reiche es mir auf dem Silbentablett:
ein Klang überm Meer,
ein Wort,
das niemand kennt.

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Sigune Schnabel

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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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23 | Christoph Laible

Weihnachten ist nicht später

Karl ist ganz aufgeregt, als Papa die Haustür öffnet.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa.
Er schleppt die Einkaufsackerl ins Haus. Auf der Stirn eine tiefe Falte.

Karl klopft gegen die Küchentür und Papa öffnet sie. Es riecht nach Blaukraut und Knödeln.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa und rührt in den Töpfen, aus denen es dampft und zischt. Die Falte auf der Stirn noch tiefer.

Karl klopft gegen die Küchentür, aber Papa öffnet nicht. Also geht er hinein.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später.“ Er schiebt drei Bleche mit Keksen in den Ofen. Die Falte auf seiner Stirn kommt Karl nun unendlich tief vor.
„Es ist schon dreimal später!“ Karl stampft auf den Boden.

„Was ist denn so wichtig?“ Papa seufzt.

Vor dem Fenster liegt ein Vöglein.
„Oje“, sagt Papa.
Papa holt einen Schuhkarton und sie bringen das Vöglein ins Warme. Sie decken es mit einer Serviette zu und warten, aber das Vöglein rührt sich nicht. Als Karl weint, macht das Vöglein: „Piep.“
Papa holt eine Pinzette und gibt ihm Brotkrümel. Das Vöglein frisst. Bald riecht Karl Verbranntes.
„Die Kekse!“, ruft Karl.
„Später. Lass es erst fressen“, sagt Papa. Die Falte auf seiner Stirn ist verschwunden.

 

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Christoph Laible

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22 | Sarafina-Abena Yamoah

Schnee im Kopf

Wir sind die bauchige Schneekugel, die kaputt geht, Glassplitter wie Eiskristalle, aber schneien tut es ja nur da, wo die Wärme fehlt, wo Minusgrade an der Tagesordnung sind und bei uns schneit es in unsere Köpfe hinein, egal ob Winter oder Sommer, im Winter fällt es nur auf, weil da die Welt hinter dem Glas genauso aussieht wie hier drin

Manchmal erschreckt man sich, wenn man jemanden sieht, der einem zu sehr ähnelt und wer in der Glaskugel sitzt, sollte auch besser nicht mit Schneekugeln werfen Eiskristalle zeigen nämlich in alle Richtungen und können sich auch in angefrorene Herzen bohren, sie nutzen dafür die gleichen Widerhaken, die dafür sorgen, dass geliebte Menschen in unseren Gedanken so lange überwintern dürfen, wie es ihnen gefällt

So viel Winterschlaf kann doch kein Mensch halten, aber du bist schon so lange zwischen meine Schädelplatten gepresst wie die gelbroten Rosenblätter, die ich zum Abschluss bekam, die irgendwann anfingen das Buch mit Schimmel zu befallen, aber du bist so trocken, als hätte ich dich falsch herum an meine Wand im Kinderzimmer aufgehängt, darauf gewartet, dass du sorgsam vor meinen Augen stirbst

Aber hier lebt es sich wie unter einer Schneekugel und wem sag ich das, du selbst hast hartnäckig an ihrer Zerstörung gearbeitet, aber wie wir zueinanderstehen, blieb stets ein Kippbild, als würde jemand durch ein Kaleidoskop blicken: wir sind beide doppelt gebrochen und können einander deswegen nur spiegeln

Und die Eiskristalle tun ihr Übriges: Wenn es sich ausgeschneit hat, ist noch niemand bereit für den Frühling, jedes Jahr dieselbe Prozedur, dieselbe Tortur dieses Einsehen, dass der Kopf nicht mit den Blumen von draußen auftaut, dass es dort kalt und windig bleibt, wo Eiskristalle und braunmatschiger Schnee den Ton angeben; auch eine Schneekugel, deren Glaskuppel zerbrochen ist, bleibt eine Schneekugel.

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Sarafina-Abena Yamoah

 

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21 | Katharina Forstner

Beweisführung

Es ist bewiesen: Frankreich existiert
mit seinen Banlieues der großen Stadt,
wo grenadineverklebte Zungen weiche Worte schlingen,
das Trottoir bestreikt von Autos und Cafés.
Es existiert -  ich habe es gesehen –
wie meine Zehen unter schwarzen Socken
das Strafgesetzbuch
und die Einsamkeit.

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Katharina Forstner

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20 | Susanne Sophie Schmalwieser

kurven (Studie zum Ende einer Geschichte)

blätterspiegel
gold und braun dahingeschwunden
monatliche lippensteife stoff und haare
zuckerverklebt ein martinshorn
blau der mund macht mich strg+d. löschen
ist übung wie alles andere, der karlsplatz
zerrüttet vom geräusch eines stehenden helikopters in der luft

die strassen ausgestalten mit nur einem
hauch, das licht ist mir egal geworden
den teil eines geruches vernehmen und ihm bekanntschaft heucheln
und dann wieder weihnachten
wieder dejavus und das vergehen feiern
wieder einmal bin ich eine zu wenig
(eine zu viel)

du bist mir wie ausgedacht gewesen
einen winter und ein paar stunden lang
(immer ist es der herbst der mich menschlich spült)
einmal im jahr will ich tauber sein oder das wozu ich mich verstümmelt fühle
als hätte man den kopf falsch herum an die wirbelnerven angewebt
wenn mein bruder mich fotografiert finde ich mich hässlich und ihn einen verräter dass er mich zwingt zu sehen wie er mich kennt.
(das gesicht so verzogen als hinge ich schief)

ich zapple wie du; das tappen des fusses
sieh wie wir im selben
schatten wohnen oder einmal
wieder einmal kurz von gewohnheit geklebt
mich nicht lösen können. dich nicht
behalten ist übung wie alles andere
die halbe familie schreibt meinen namen anders
(im handy der tante ein Z erspähen wo ich es nie geschrieben habe)

wieder fast winter doch wärme gemessen (zu lange zu wahr)
wieder fast winter und ich bedenke die grossmütter ein glas sturm ein abend ein essen und so wohlsam verwirrt bin ich von dir gewesen, ein fiebriges kalt über meine finger

zwerchfellknoten; ich frage mich nicht mehr wer an mich denkt
was hat man mir abgeschnitten mit der nabelschnur
ausser einer mutter die mein räuspern nicht erkennt
oder die hinkende silhouette am ende einer strasse
ich störe mich erst seit ich an meiner hässlichkeit gezweifelt habe
das goldene kleid sitzend, sässe ich nicht in ihm
(einmal sind alle meine kleider rot gewesen und der körper darin seltener entrückt)

neujahr in new york
die schwester schwitzend im
krankenhausbett für fünfhundert dollar die heilung
mir ist als wäre ich als einzige von einer alten zeit als rest geblieben
kinderklagen
die einen mit offenen händen die anderen mit offenem hals
wohlsam warmsein nur in splitterstücken
einer wirklichkeit.
keine eisblumen jenseits der
jugend durchrumpelt vom klirren einer menschheitsgeschichte
(deine eigene familie sind ja auch einmal menschen gewesen)

ein auto am anfang der kurve
sein ende im schilf
(wer hat gerufen und wen gebremst)
ein cafe namens soul, dein gesicht so verzogen
und deine seele im wetterwind kurz vor oslo verglüht

du fehlst dir selbst am meisten
in marokko lassen sie uns keine feuerwerke sehen
gefährlichkeiten gemessen in soldatengruppen marschierend
durch die hotelallee fakultative prohibition
programmepos
ein strassenspiegel biegt uns wanderende in kurven
der weg zur kirche einmal sorgloser zwischengesang
später bewegungsweise gezittert
verzittert die zweisame zeit vor dem ende der kurve das flutlicht das quietschen das brechen und bersten als letzte gemeinsamkeit

kerzen und die meisten kreise um die sie sich drängen sind runder
wenn du bis zehn zählst ist dann alles nur ein traum gewesen
oder jedes jahr ein neuer diese paar tage in frieden
und wer meint den denn schon zu verdienen, zwischen den zu seltenen beweinungen der vertrockneten grabkränze, letzte gedanken erbrechen im röhricht
einen abschied aus worten haben wir nie gebaut;
nur jedes jahr zum festtag ein paket in gold-rote bänder gewickelt und gestanden dass wir uns genug sind.
(wie reproduzierbar das glück doch ist,
heute versuche ich wie ein kind es abzupausen
mein bleistift bricht
und eine stille über mich herein.)

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Susanne Sophie Schmalwieser

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19 | Marlene Schulz

Kompa, Frau Mirjami und Herr Ernst

Ich bin Kompa und eine Katze. Mein Herr, er hört auf den Namen Ernst, nennt mich so. Seine Frau, Mirjami, hat den Namen für mich ausgesucht, als sie noch in unserem Haus wohnte. Sie fand mich auf dem Kompost als meine Augen noch geschlossen waren – daher mein Name – und fütterte mich.

Ja, Sie haben recht, ich habe eine schwierige Kindheit hinter mir, aber ich habe es geschafft, wie Sie sehen.

Herr Ernst redet sehr viel – er unterrichtet in der Schule – und Frau Mirjami hatte eines Tages genug davon. Jetzt redet Herr Ernst mit sich und seinen wechselnden Besuchen. Manchmal setzt er sich neben meinen Schlafplatz, wenn ich ruhe, und beginnt zu sprechen. Das ist mir äußerst unrecht und mir bleibt nichts anderes übrig, als aufzustehen und meine Ruhestätte zu wechseln.

Herr Ernst redet wirklich sehr viel an einem Tag und auch noch, wenn es dunkel wird. Er gibt sich bei einem Thema, das er begonnen hat, selbst Stichworte für das nächste, das er direkt anschließt. Seine Besuchsmenschen, ich habe das mehrfach beobachtet, sind auf der Lauer und warten auf eine Pausierung in Herrn Ernsts Gespreche, um auch etwas sagen zu können, aber den wenigsten gelingt das. Sie müssten unhöflich sein und ihre Worte über seine legen, aber die meisten wollen das nicht. Herr Ernst hat zu allem etwas zu sagen.

Er ist vielseitig begabt. Er wäre gerne ein ruhmreicher Maler. Handwerklich begabt ist er durchaus, auch an seinem Fahrrad kann er Kleinigkeiten selbst reparieren und bei der letzten Wahl hat er sich für eine Partei aufstellen lassen, die wie eine Farbe heißt, und wurde zu meiner großen Überraschung gewählt. Ich hätte ihn, das sage ich nur Ihnen, nicht gewählt. Herr Ernst hat zu zu vielen Dingen eine Meinung. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass sein Wissen zwar breit ist wie ein Ozean, dafür aber nur tief wie eine Pfütze.

Ich habe beobachtet, wie er das mit dem Sprechen regelmäßig mit seinen Besuchsmenschen macht. An einer Stelle ihres Redebeitrages gibt er ihnen recht, nickt sogar auffällig stark, und setzt dann seine Referate an.

Was Herr Ernst nicht macht, ist kochen. Das hat er an ungefähr 260 Tagen im Jahr Frau Mirjami überlassen und weitere 105 Tage waren sie zum Essen ins Restaurant oder zu anderen Menschen in deren Wohnung oder Haus gegangen. Für einen konservativen Menschen stellt das keine Ungewöhnlichkeit dar, aber Herr Ernst möchte gerne ein fortschrittlich denkender, emanzipierter Mann sein. Sie könnten Frau Mirjami befragen, was diese dazu sagt, oder es sich selbst zusammenreimen. Für so klug halte ich Sie.

Herr Ernst hat durchaus liebens- und lobenswerte Seiten. Er reinigt den Ort meiner Hinterlassenschaften regelmäßig, gut, gelegentlich dürfte es gründlicher und häufiger sein, aber ich möchte nicht kleinlich sein. Für meine Mahlzeiten sorgt er ebenfalls, bürstet mein Fell, was eine Wohltat ist, vor allem, wenn ich haare, und er nimmt mich sogar mit auf Reisen. Er besitzt ein Haus in den Bergen. Wir fahren drei bis vier Mal im Jahr dort hin. Eine mehrstündige Fahrt ist von Nöten, die er abends zuvor mit Nahrungsentzug für mich ankündigt. Er möchte, dass ich die Fahrt möglichst gut ertrage und keine Übelkeit aufkommt. Mir wäre es lieber, er würde nicht so viel herumüberliegen, stattdessen etwas zügiger fahren und Zeiten hohen Verkehrsaufkommens meiden. Das nimmt er sich zwar jedes Mal vor, sagt so etwas wie: Morgen fahren wir noch vor Anbruch des Tages los, aber dann muss er noch dringend Dinge erledigen, die schon seit Wochen, gar Monaten liegen und es wird – so bin ich es von ihm gewohnt – doch Mittag, bis wir loskommen.

In den Ferien liest mir Herr Ernst häufig aus den Büchern vor, die er liebt. Sachbücher über Bienenzucht oder Hühnerhaltung – die soll ja jetzt wieder zunehmen – auch Ausstellungskataloge, Bildbände, Kunstkritiken zu berühmter Malprominenz, Reisebücher sind auch dabei. Und dann sagt er so etwas wie: Ach, Kompa, schau dir diese Landschaften an und stell dir vor, wie ich sie male. Er verspricht dann, mir auch ein Plätzchen darin einzuräumen. Bis jetzt hat Herr Ernst sein Versprechen noch nicht halten können.

Das Fahrradfahren liebt er ebenso und ich bin sehr beglückt, dass er mich auf diesen Fahrten nicht mitnimmt. Frau Mirjami hat einmal mit ihm zusammen die Alpen auf dem Zweirad überquert. Kurz danach zog sie aus und weg. Ihr neuer Wohnort entzieht sich meiner Kenntnis. Glauben Sie mir: Zu meinem großen Bedauern.

Herr Ernst spricht noch mehr, wenn er am Abend beginnt zu trinken. Ich habe beobachtet, dass er bei einer bestimmten Menge mehr redet. Wenn diese Menge noch größer wird und er beispielsweise für einen Entleerungsgang den Raum verlässt, kommt er deutlich ins Schwanken. Nimmt er dann noch mehr alkoholisches Getränk zu sich, wird er stumm, seine Haltung am Tisch wirkt labil, sein Kopf fällt zur Brust und er beginnt zu weinen. Er weint einige Zeit für und vor sich hin bis sein Kopf auf den Tisch fällt, er die Arme darunter überkreuzt und beginnt mit offenem Mund zu schlafen. In solchen Momenten schwanke ich, ob ich wirklich bei Herrn Ernst bleiben mag. Sein Selbstmitleid kann abstoßend sein.

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Marlene Schulz

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18 | Carolina Reichl

Die Wunschlosen 

Du sagst, es ist spät. Ich schaue auf die Uhr, die du mir vor Jahren geschenkt hast, auf der Innenseite hast du mir was eingravieren lassen. Numquam retro. Niemals zurück.

Es ist nachts, zwei Uhr einundzwanzig. Meine Augen sind ausgetrocknet, zu lange habe ich auf den Bildschirm geschaut. Fünf Stunden, 39 Minuten, um genau zu sein.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darauf zu achten, wie viel Zeit ich für was brauche. Sechs Stunden Schlaf, 43 Minuten im Bad (morgens und abends zusammen), zehn Stunden in der Arbeit. Die restliche Zeit kümmere ich mich um deinen Kater Morli, in der Hoffnung, dass er sich irgendwann von mir berühren lässt, und gehe zu deinem Grab. Mindestens zweimal die Woche pflege ich es. Die Leute sollen schon von der Ferne sehen, dass dein Grab am schönsten ist, damit sie merken, dass du wichtig bist.

Ansonsten habe ich keine Hobbys, ich mache den Haushalt und bereite meine Patientengespräche vor.

Ich bin effizient.

Wenn ich mich entspanne, fühle ich mich faul.

Nur wenn ich nach Hotels schaue, kann es passieren, dass ich mich für Stunden verliere. Ich plane eine Weltreise, darunter ein zweiwöchiger Aufenthalt in Peru. Ich recherchiere nach den besten Unterkünften, Ausflügen, Lokaltipps und Reiserouten, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mehr kann. Ich schließe den Laptop, ich bin voller Adrenalin. Ich stelle mir vor, wie das wohl sein wird. Peru, Island, Litauen, Japan, Indonesien, Australien, Hawaii, L.A., New York. Wissend, dass keiner von diesen Urlauben jemals für mich stattfinden wird.

Aber warum, du würdest doch gerne verreisen, sagst du. Es hätte nichts geändert, wenn du bei mir geblieben wärst.

Mein Handy vibriert.

Unsere ältere Schwester Katrin schreibt, ob ich nächsten Samstag zu ihr komme.

Wegen Weihnachten.

Ich seufze.
Schön wieder ein Jahr vergangen.

Katrin hält den Gedanken nicht aus, dass ich den 24. Dezember alleine verbringe oder so wie vor zwei Jahren den ganzen Tag an deinem Grab stehe. Zu groß das schlechte Gewissen. Beim Weihnachtsfest selbst will sie mich aber nicht dabei haben, nicht dass ich die Stimmung runterziehe, ich soll am Vormittag kommen.

„Till ist mit den Kindern einen Baum aussuchen“, sagt sie. Sie öffnet einen Prosecco. Wie eine Sanduhr bei einem Saunadurchgang markiert die Flasche unser gemeinsames Zeitfenster, das anzeigt, wie lange ich noch durchhalten muss, bis ich wieder verschwinden kann.

Ich schenke ihr eine Orchidee, Pralinen und ein Buch, das sie vermutlich niemals lesen wird. Sie sagt, das wäre nicht nötig gewesen. Es ist nicht leicht, jemanden zu beschenken, der schon alles hat.

„Für dich“, sagt sie und hält mir einen Reisegutschein entgegen. Letztes Jahr Wizz Air, dieses Jahr Tui. Ich bedanke mich, doch ich greife ihn nicht an.

„Freust du dich nicht?“, fragt sie.

„Doch. Ich kann ihn nur nicht annehmen.“

„Warum nicht?“
„Du weißt doch, dass ich Morli nicht alleine lassen kann.“

„Er kann bei mir bleiben.“
„Die Kinder würden ihn stressen. Außerdem muss ich auf meine Patienten schauen. Mir wäre nicht wohl dabei, ein Wochenende nicht erreichbar zu sein.“

„Du arbeitest zu viel.“

Sie hat recht, meinst du. Ich schüttle den Kopf.

„Wann warst du das letzte Mal auf Urlaub?“
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich es nicht. Es sind drei Jahre, elf Monate und zwei Tage, seitdem du tot bist.

„Hast du kein Fernweh?“

„Ich glaub, ich brauch das Reisen nicht mehr“, sage ich.

„Blödsinn!“, ruft Katrin. „Mit ihr wolltest du noch eine Weltreise machen! Du warst immer so gern unterwegs und jetzt dreht sich alles nur noch um deine Psychopraxis!“

Katrin hält nichts von Psychotherapie. Sie glaubt, dass das Geldabzocke ist, dass die Leute nur an ihren Profit denken, wenn sie sich am Leid der anderen bereichern. Sie findet, mit seinen Problemen muss jeder selbst fertig werden; es bringt nichts, seine Sorgen immer wieder durchzukauen. Man muss weitermachen, sich auf das Gute konzentrieren, dann wird das schon.

„Und sonst?“, fragt Katrin. „Hast du irgendwas vor? Irgendwelche Pläne für die Feiertage?“

Ich schüttle den Kopf.

„Ich bin wunschlos.“

„Aber glücklich bist du nicht.“

Katrin trinkt den Prosecco aus und spricht mit ernster Stimme weiter: „Ich mach mir Sorgen um dich.“

Sie will wissen, was mich hier hält.

Ob es wegen dir ist?
Warum ich nicht loslassen kann?

Ihre Lippen bewegen sich weiter, aber ich höre nichts. Ich sehe deinen ausgetrockneten Mund, Katrin, wie sie dir den Speichel weg tupft. Ich sehe mich dir winken, euch sagen, ich hätte einen Notfall, einer Patientin geht es nicht gut. Ich verlasse das Krankenhaus, steige in ein Taxi und fahre zum Flughafen, ohne Gepäck buche ich dort den nächstbesten Flug, es geht nach Athen. Ich steige in den Flieger, ich komme an, ich lasse mich in einen Klub bringen, ich trinke, bis ich nicht mehr gerade stehen kann. Ich unterhalte mich, ich lache, ich tanze, ich mache alles, was du nicht mehr machen kannst. Ich habe Spaß, ich denke nicht an dich.

„Geht’s dir gut?“, fragt Katrin.

Mein Gesicht ist nass und salzig. Meine Haut glüht. Ich dachte, ich würde um dich trauern und dann würde es mir besser gehen, doch stattdessen bekomme ich jedes Jahr einen neuen Reisegutschein, den ich verfallen lasse und anstatt dem Rauschen der Wellen höre ich immer wieder die dröhnende Partymusik des Klubs und Katrin, die mich am nächsten Morgen anruft und sagt, du wärst friedlich eingeschlafen.

„Was ist?“
Ich kann nicht antworten, nicht denken, ich habe das Gefühl zu zerfallen, ich falle –

„Du warst sicher zehn Minuten weg.“

Katrin sagt, dass ich zu viel alleine bin und mehr auf mich schauen muss. Sie hätte mich mehrmals gerüttelt und meinen Namen geschrien, ich wäre am Boden gelegen und nicht ansprechbar gewesen.

Ich soll mir die Feiertage nehmen und mich entspannen, meinst du.

Ihr übertreibt.

Nach den Feiertagen gehe ich wie gewohnt zur Arbeit.

Numquam retro.

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Carolina Reichl

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17 | Silke Gruber

Landvermessung

Dein Blick
spuckt grobe
Gebirgskettensilhouetten
aufs offene Gelände

Meiner schlägt
statt Grenzpflöcke
seine erbärmlichen Haken
ins längst vermessene Feld

Vor Freunden
sprechen wir synchron
von: Lot, Kataster,
Waffenruhe

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Silke Gruber

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