freiTEXT | Valeska Stach

Die Qualle hat keine Stimme

Das Kind bekommt ein Aquarium ins Zimmer gestellt, nachdem es eines Nachts plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als wäre da einfach keine Luft mehr gewesen. Ins Aquarium wird eine Qualle gesetzt. Das Wasser, in dem die Qualle schwimmt, macht, dass die Luft wieder nachwachsen und das Kind besser atmen kann.
Das mit dem fehlenden Atem, das ist ein bisschen so, wie wenn da keine Worte mehr sind. Außer, dass das mit den Worten ständig so ist. Da sind eigentlich ganz viele Worte, aber sie passen nicht in den Mund oder der Mund passt nicht zu den Worten. Das Kind ist voller Worte, aber es hat nichts, womit es sie aussprechen kann. Es hat gar keinen Mund. Da ist einfach kein Platz. Kein Platz für etwas von diesem Kind in dieser Welt.

Die Tante mit den rot gefärbten Haaren ist eine böse Hexe, das Kind weiß es genau. Sie friert Kuchen in der Truhe ein und das Frieren des Kuchens kitzelt auf der Zunge, wenn man ihn isst. Und auch der Magen, in dem der Kuchen später liegt, beginnt zu frieren. Und die Kälte krabbelt bis hoch ins Herz. Das Kind stellt sich vor, es legt sich zum Kuchen in die Gefriertruhe und atmet weißen Kuchenschnee, durch die einfrierende Kehle.

Der gewölbte Körper der Qualle sieht hohl aus, er hält sich durch eine ungreifbare Hülle zusammen, die das Nichts in sich hineinfrisst und in sich zu einer dichten, glibberigen Masse zusammenpresst. Auch die Brust der Mutter wird langsam ausgehöhlt, von der schwarzen Knolle, die darin wuchert.

Das Kind kann erahnen, wie es sich anfühlt, im Bauch der Qualle zu sein. An der Unterseite ihres hängenden Magenstiels, dem Manubrium, befindet sich ihre Mundöffnung, die gleichzeitig ihr After ist und durch den sie ihr erbeutetes Fressen verschlingt und in den Magenstil würgt. Die Qualle hat kein Gehirn. Ihre Jagdinstinkte sind automatisiert. Die Nesselzellen auf ihren Tentakeln haben stielartige Cnidocil-Fortsätze. Diese stülpen, nach Aufplatzen der Kapsel unter einem Druck von hundertfünfzig Bar, rasend schnell einen Nesselfaden nach Außen. Feine, dünne Giftschläuche, setzen einen Widerhaken in das Gewebe ihrer Beute und injizieren das tödliche Sekret ins fremde Fleisch, pumpen ihr Opfer damit voll. Wie die Knolle. Auch sie streut ihr Gift ins Fleisch der Mutter. Und dann frisst die schwarze Knolle das vergiftete Fleisch auf, bis sie satt ist. Aber die Knolle wird nicht satt. Sie gräbt sich in die Brust der Mutter und wuchert darin mit ihren giftigen Fäden. Auch wenn man die Knolle herausgeschnitten hat, wachsen die Fäden in der Brust der Mutter weiter fort.

Unter Wasser beginnen die Haare der schwebenden Wasserbrust zart zu leuchten. Die Fäden schimmern hell, silbrig und bewegen sich im Rhythmus der Qualle, die mit ihrem runden, transparenten Körper und den flatternden Fadenhaaren lautlos durch die Tiefe schwebt. Sie wird fast unsichtbar im Wasser, sie ist perfekt getarnt. Das Kind denkt an die leergesaugte Brust der Mutter. Brusthülse. Sie wird nie wieder voll sein, voluminös wie Quallenfleisch. Das Kind drückt seine Finger an die Scheibe des Aquariums und malt die Bewegungen der Qualle nach. Es bilden sich Schmierlinien auf dem Glas. Das Kind denkt, wenn es die Qualle sieht, an eine schwimmende Silikonbrust. Es möchte sie aus dem Aquarium fischen und der Mutter an die kahle Stelle auf ihrer Brust legen.

Die Qualle schläft nie. Sie treibt mal regungslos durchs Wasser, dann lässt sie wieder eine Welle durch ihren Bauchkranz fahren und stößt sich ruckartig vorwärts. Der Schirm der Qualle wird von einem Ringmuskel zusammengezogen und ihr verformter Körper wird anschließend von der Stützschicht, die zwischen Außen- und Innenhaut liegt, wieder glatt gezogen und breitet sich zu einer faltenfreien, homogenen Masse aus. Dabei gleitet die Qualle lautlos durchs Wasser. Die Flüssigkeit, in der sie schwimmt, sieht in der Nacht fast schwarz aus, so dunkel ist es im Zimmer und das Aquarium verliert im Raum seine Konturen. Der pulsierende Quallenkörper pumpt sich vorwärts und dreht sich dabei immer wieder im Kreis. Das Kind schaut ihm zu, wie er bis zur unsichtbaren Grenze an der Wasseroberfläche vordringt und dann erschrocken wieder zurück nach unten treibt. Der Quallenkörper, der immer wieder zwischen dem Schwarz verschwindet, leuchtet milchig weiß durch die Scheiben des Aquariums. Er schwebt als Mond durch das Kinderzimmer.

Manchmal steht das Kind, wenn es nachts nicht schlafen kann, auf und geht zum Aquarium. Es greift mit der Hand ins Wasser. Der glibberige Quallenkörper glitscht durch die Kinderhand und die Hand hat Mühe, das Tier fassen zu bekommen. Wenn die Qualle dem Kind durch die Finger gleitet, greift es zu und quetscht die durchsichtige Fleischmasse mit der Faust zusammen, damit die Qualle nicht mehr entwischen kann. Dann hebt das Kind den kleinen Körper für einen kurzen Moment aus dem Wasserbecken. Als es Angst bekommt, die Qualle könnte sterben, lässt das Kind sie wieder ins Wasser plumpsen. Dabei stellt es sich vor, wie es sich mit dem kleinen, nassen Körper ins Bett legt, stellt sich vor, es presst die kalte Glibschkugel auf seinen Bauch und atmet ein und atmet aus.

Der Kuchen schmeckt nie. Er kommt nämlich aus der großen Tiefkühltruhe der Tante mit den rot gefärbten Haaren und ist kalt. Alle sagen, er wäre lecker. Das Kind sagt nichts.

Die Qualle hat keine Stimme. Sie ist stumm.

 

Valeska Stach

 

 

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freiVERS | Clara Dobbelstein

Das Nest

Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.

Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.

Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.

Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.

So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.

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Clara Dobbelstein

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freiTEXT | Katrin Oberhofer

Wie du bist, Orion, in einem Feld aus Gold

Das Gras steht hoch im Spätsommer, die Halme schon trocken. Auf manchen Wiesen ist der Mähtraktor schon gefahren, dem eine Reihe von Menschen vorangeht, die durch die Wiese, den Acker kämmt, um die Rehkitze und Hasen aufzuscheuchen, damit sie von den rotierenden Messern nicht zerfetzt werden. Frühmorgens passiert das, vor der Arbeit, aber jetzt ist es Samstagnacht, und die Nachtluft legt sich schwer vom Geruch des Heus auf die Landschaft. Wenn wir uns jetzt ins hohe Gras legen, droht keine Gefahr.
Dort, sagst du, ist einmal ein Birnbaum gestanden, doch vor vielen Jahren stürzte er um im Sturm, und dein Großvater hat aus dem wertvollen Birnenholz eine Bank gefertigt, die jetzt immer noch vor eurem Haus steht, obwohl der Großvater schon viele Jahre tot ist. Du erinnerst so viele Dinge in dieser Landschaft, von denen ich keine Ahnung habe, denn ich bin nicht von hier.
Wann immer ich dich treffen will, komme ich ins Dorfwirtshaus, am Samstag. Am Gang vor den Toiletten sind wir uns diesmal begegnet, voreinander stehen geblieben, weder ich noch du haben eine Ausweichbewegung gemacht. Stattdessen wenige Schritte aufeinander zu, die Körper greifen ohne Zögern ineinander, die Münder küssen. Meine Finger in diesen deinen langen, blonden Haaren, deine hellblauen Augen geschlossen. Nur dieser gegenwärtige Moment.
Komm, sagst du, und führst mich hinaus zu deiner Klapperkiste aus Rot und Rost und ich steige ein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Die Hand in deinem Nacken, während du fährst, und ich weiß nicht, will gar nicht wissen, wohin.
Das Auto haben wir stehen gelassen an der Kehre, wo die asphaltierte Straße in einen geschotterten Waldweg mündet, und von dort aus sind wir den Hügel hinab gelaufen, gemeinsam haben wir die Mitte der Wiese gesucht, das Zentrum, gefunden in einer kleinen Kuhle, die sich in die Hügelflanke schmiegt, und uns einlädt zum Rasten.
Schau, sagst du, und deutest hinauf. Ich schaue zum Himmel, folge dem Fingerzeig. Orion und die Plejaden. Die Geschichte von den sieben Schwestern, sage ich, die von Orion verfolgt werden. Die älteste Erinnerung der Menschheit soll das sein, diese Geschichte. Es gibt sie in Europa, aber auch in Australien. Kennst du die? Du antwortest nicht, und auch ich verstumme, meine Stimme kommt mir zu laut vor, fühle mich wie die besserwisserische Studentin aus der Stadt.
Nun, da wir nebeneinander in der Wiese sitzen, und nicht fürchten müssen, dass uns jemand überraschen könnte, halten wir Abstand voneinander, die angebrochene Rotweinflasche zwischen uns. Du nimmst einen großen Schluck, hältst mir die Flasche hin, ich gieße Wein in mich hinein. Ob meine Lippen, meine Zunge blau verfärbt sind, frage ich mich. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen, hastig, damit kein Raum bleibt zum Küssen. Mit zitternden Händen fummelst du dein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündest mir die Zigarette an, beide starren wir auf die Flamme, bis ich Rauch ausatme, den du mit dem Mund fängst.
Lachend lässt du dich nach hinten fallen, ins trockengelbe Gras. Zuerst ist es nur ein Summen, später ein Singen, deine Stimme rauh, so wie die deines großen Vorbildes. Du siehst aus wie er, sagen alle, und Gitarre spielst du auch, in den dunklen Himmel singst du hinauf: Take your time, hurry up, choice is yours, don't be late, take a rest as a friend ...
Das ist die Rolle, die du am liebsten spielst, wiedergeboren, sagst du, wenn du betrunken bist, in diesem Scheißkaff umgeben von Bergen. Endlich nicht gesehen werden. Die Bürde der Berühmtheit abgelegt. Du glaubst trotzdem, dass du mit der Stimme, mit der Nummer, jede haben kannst, die du willst. Ich frage dich nicht, warum du diese Vorstellung brauchst, die mir so kindisch vorkommt. Dass du ein früheres Leben abrufen könntest. Als wärst du nicht selbst genug.
Ich konzentriere mich auf deine Stimme, sie trägt mich, wenn ich zwischendurch die Augen schließe. Ich intoniere in dein Singen hinein, wir improvisieren zusammen, es wird eine harmonische Mischung, obwohl ich schon lange nicht mehr gesungen habe.

You'll remember me when the west wind moves
Come as you are, as you were
You'll forget the sun in his jealous sky
As I want you to be
As we walk in fields of gold
As a friend, as a friend

Gleichzeitig verstummen wir, lassen etwas verklingen in die Nacht hinaus, und du drehst dich zu mir, dein Kopf auf deinen Arm aufgestützt. Ich rücke näher, drücke mich an dich, und deine andere Hand legt sich zwischen meine Brüste, ruht da, sie streicht über die Länge meines Körpers, von oben nach unten, immer wieder.
Come as you are, sagst du.
Meine Stimme kommt dir entgegen, ganz fremd mit zu viel Atem, aber trotzdem klar: Nein, sage ich zu dir.
Keiner im Dorf würde mir dieses Nein abnehmen, das jetzt zwischen uns steht. Ich kann mir gut vorstellen, was sie über uns geredet haben, ab dem Augenblick, in dem wir das Wirtshaus zusammen verlassen haben. Wenn wir zurückkommen, werden sie sich das Maul zerreißen über mich, und dir auf die Schulter klopfen.
Du rollst dich weg von mir, lässt eine Körperbreite Abstand zwischen uns. Ich lächle dich an, suche deinen Blick, nehme deine Hand. Dieses Nein eröffnet einen Raum zwischen uns, der sich so weit anfühlt wie der Nachthimmel.
Wir schauen hinauf, zu den Plejaden.
Choice is yours, sagst du.

 

Katrin Oberhofer

 

 

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freiVERS | Anna Lena Bercht

Zukunft
Zukunftsangst
Zukunftsangstunterdrückung
Zukunftsangstunterdrückungsstrategien
Zukunftsangstunterdrückungsstrategienmüdigkeit
Zukunftsangstunterdrückungsausbruch
Zukunftsangstkonfrontation
Zukunftshandeln
Zukunft

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Anna Lena Bercht

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freiTEXT | Sabrina Busch

Notausgang

Ich wollte niemals hier enden. Ich wollte Gründerzeit und Eisblumen an schlecht isolierten Fenstern, ich wollte offene Kamine und geheimnisvolle Dachböden. Verwinkelte Räume und enge Flure, vertäfelt mit dunklem Holz. Ich wollte verriegelte Türen und verschwundene Schlüssel. Ich wollte alte Fotografien und Zeitungsausschnitte, versteckt in den Fugen des Mauerwerks, wollte, dass das Haus erzählt von seiner Geschichte und den Menschen, die vor mir dort waren.
Aber jetzt bin ich hier. Bestens isoliert. Perfekt verputzt. Eine weiße, sterile Box, in der wir sitzen. Darauf warten herausgenommen zu werden. Wie Figuren eines Brettspiels.
In Gedanken ziehe ich durch meine Gründerzeitvilla, die Kriege und Brände, Familien und Vernachlässigung überlebt hat. Ich erzähle vom Brand, der den hinteren Teil der Villa zerstört hat, dem Teile des Dachs zum Opfer gefallen sind. Von dem Wintergarten, der dort angebaut wurde und durch den jetzt Licht strömt und alles erhellt.

In dieser Box hängen auf jedem Flur Poster mit grünen Linien und roten Kästen, Fluchtpläne. Neben dem Aufzug hängt ein Schild: Aufzug im Brandfall nicht benutzen. Gekennzeichneten Fluchtwegen folgen. Daneben läuft ein weißes Männchen. Sie versuchen uns zu retten. Aber die gekennzeichneten Fluchtwege führen ins Treppenhaus. Schutz ist für die Privilegierten.

Der Bau begann vor fünf Jahren. Das Ziel war barrierefreien Wohnraum zu schaffen. Sie schickten ein paar Bulldozer über einen alten Bauernhof weit außerhalb der Stadt und stellten diese Box auf. Applaus und Segnungsmarathon, oh welch Güte.
Niemand wollte so weit außerhalb der Stadt leben. Niemand zog ein. Außer wir, wir, die nicht in Häusern mit engen Fluren und knarrenden Treppen, die zu geheimnisvollen Dachböden und Kellern führen, leben können.
Zu Beginn kamen Reporter mit glänzenden Augen. Viele von uns waren wohnungslos gewesen oder hatten sich selbst verletzt, um Zeit im Krankenhaus überbrücken zu können.
Sie fragten: Ist das nicht wunderbar, dass ihr hier nun gemeinsam leben könnt?
Aber wir antworteten: Wir hätten gerne näher an der Stadt gewohnt. Dort wo alle anderen wohnen.
Sie runzelten die Stirn. Undankbares behindertes Volk, das wir sind. Sie kamen nie wieder.

Der Weg in die Stadt führt über eine kurvenreiche Landstraße. Die Frage, wie wir Besorgungen erledigen sollen, wurde mit Broschüren von Lieferdiensten, Fahrdiensten, die wir nicht bezahlen können und Online-Angeboten wie z.B. Livestreams von Sonntagsmessen beantwortet.
Und sowieso haben sie in der Stadt Misstrauen gegen uns gehegt. Wenn ich es bis dorthin schaffe, stecken sie die Köpfe zusammen, denken, ich könnte sie nicht hören: Oh, eine aus dem Wohnprojekt. Als wären wir Teil eines Experiments. Und vielleicht sind wir das auch. Vielleicht beobachten, studieren, erforschen sie uns in der Box. Aber dann muss ich lachen. Niemand schert sich einen Scheißdreck um uns, wer wir sind, was wir tun. Sie mögen, dass wir aus dem Weg sind. Und möchten, dass es so bleibt.

Als ich auf meinem Flur ankomme, steht die Wohnungstür der Nachbarn offen. Ich habe sie vor Wochen gehört, wie sie Möbel und Koffer hereingetragen haben. Gedämpfte Stimmen und seitdem Stille. Ich stecke meinen Kopf am Türrahmen vorbei.
Eine ältere Frau sitzt in einem Sessel. Sie hat einen winzigen, adretten Dutt und ihr Gesicht ist nur Knochen. Scharfe Kanten überzogen mit Pergamentpapier, wenn sie ihren Mund öffnet, erwarte ich ein lautes Knistern. Sie sitzt da, erhobenen Hauptes, die Lippen stramm über ihren Zähnen. Ihre Augen treten aus den Höhlen hervor, große dunkle Kugeln, als hielten sie an der Welt fest, während der Rest ihres Körpers langsam ins Nichts schrumpft.
Ich wollte an die frische Luft, aber weiter als zur Tür hab ich es nicht geschafft. Sie lässt sich in ihren Sessel fallen. Seufzt. Mein Stuhl frisst mich irgendwann noch auf.
Und ich sehe es vor mir. Wie die Ritze zwischen dem Sitz und der Rückenlehne hinter ihr klafft. Sie jeden Moment hinein saugen könnte. Sehe meine Nachbarin in tausend kleine Einzelteile zerfallen. Wie sie zerbröselt und sich in der Ritze sammelt. Wie Krümel.
Sie sagt, ihr Name sei Alma. Sie erzählt von ihrer Wohnung in der Altstadt. Meine Badewanne war sehr tief, hatte wunderschöne, gusseiserne Klauenfüße. Ich kam da nicht mehr alleine raus. Meine Tochter sah die Anzeige. Und jetzt bin ich hier. Es soll ein Bericht über das Haus und mich geben. Meine Tochter hat zugestimmt. Jetzt kommen irgendwelche Leute von der Zeitung morgen hierher… ich wünschte, ich könnte mich in meiner Badewanne ertränken, aber diese ebenerdigen Duschen hier haben den effizientesten Abfluss, den ich jemals gesehen habe.
Was für einen Bericht denn?
Ich soll das Projekt loben, beteuern, dass wir alle glücklich und zufrieden sind.
Das ist schrecklich, Alma.
Es ist ein gottverdammter Alptraum.
Warum sagst du es nicht ab?
Sie zuckt mit den Schultern, überlegt, wartet, antwortet: Manchmal gehe ich am Fenster vorbei und kann mein Spiegelbild nicht sehen. Ich kriege Panik, dass ich einfach verschwunden bin. Ich gucke dann nochmal hin, versichere mich, dass es mich noch gibt.

Die Leute von der Zeitung kommen am Nachmittag. Auf dem Parkplatz haben wir einen Grillabend organisiert, alle sind dort, decken Tische, tauschen Salatrezepte aus. Die von der Zeitung lieben es, machen Fotos, fühlen sich bestätigt. Beschwichtigt. Wir leben unser bestes Leben hier.
Dann marschieren sie durch die Box, schleppen ihre Ausstattung und ihre Leute an.
Wir beide verstecken uns hinter meiner Tür. Alma steht, Hand auf der Türklinke, angelehnt an den kalten Lack und späht durch den Türspion. Ihre Tochter schließt Almas Wohnung auf. Sie gehen rein. Wir hören ihre Rufe.
Alma öffnet die Tür und wir schauen hinüber zum anderen Ende des Flurs. Dort steht der Umzugskarton. Alte Zeitungen, einen Weidenkorb, ein paar Pullover, getränkt in Nagellackentferner, einen synthetischen Vorhang. Ich bahne mir meinen Weg, vorbei an Almas Wohnung und spritze etwas von dem Grillanzünder, den ich von unten hab mitgehen lassen, über den Läufer vor der dritten Wohnung auf diesem Flur und in den Karton. Sicherheitshalber entleere ich die Flasche über der Wand und dem nächstbesten Türrahmen. Ich zünde ein Streichholz, lege es sanft ab und kehre zu Alma zurück.
Von der Türschwelle aus beobachten wir, wie alles entflammt. Zuerst recht langsam, dann erwachen die Flammen zum Leben. Fressen sich in die Wand, krabbeln die Fußleisten entlang, klettern am Türrahmen hinauf bis hin zur Decke. Der Rauchmelder dreht auf und bohrt uns Löcher in den Kopf. Sie laufen aufgeregt in den Flur. Während sie sich umsehen, streifen sich unsere Blicke. Sie laufen zurück in die Wohnung, greifen nach Taschen und Jacken, kommen vollgepackt wieder in den Flur. Wir wissen nicht, ob sie nach dem Feuerlöscher Ausschau halten. Wir haben ihn als Geisel genommen, er liegt unter einem Haufen Handtücher in meinem Badezimmer. Doch vielleicht benebelt sie der chemische Geruch des Grillanzünders, vermutlich brennt auch ihnen die Kehle vom schwarzen Rauch, der sich gegen die Wände unseres Flurs presst.
Das Feuer kriecht über den Läufer, kommt auf uns zu, es drängt uns alle vor die Tür, über der das Notausgangschild leuchtet. Sein grünes Licht verspricht die Erlösung. Und während die ersten die Türe aufdrücken, ins weiße Licht des Treppenhauses strömen, bleiben wir zurück.

 

Sabrina Busch

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freiVERS | Rosen de Almeida

alle tage

-1-
kochen
putzen
kissen sein
und was weh tut
den kopf den rücken die füsse nicht
anfassen
in der nacht steigt der pegel
ich dreh
den hals
und es knirscht
bis ich
im sand
eine position finde
in der ich von den zumutungen der alpen
träume

-2-
in der frühe lüften
bedeutet die nacht hereinzulassen
und damit die einladung sich vom tag
abzuwenden
vom aftershave des nachbarn
vom rauch der frühschicht
vom müden trab
der ersten
die den bus
noch erwischen
wollen
ich schüttle
kissen
decken
und mich aus
auf

-3-
auf einmal

schlägt der wind das fenster

zu

der rabe erschrickt

und fliegt davon

die wolken

bauen

türme

im                              letzten                            licht

während

das spülwasser

kalt

wird

ich schaue

in den himmel

dann

in jeden topf:

die

gurken kommen, der

basilikum

-4-
die nacht schaut zum fenster rein auf das sich
re
gen
trop
fen
ge
legt
ha
ben
wie
schup
pen
eines müden falters

es gibt nicht viel zu sehen: ein bett
ein lichtkegel
pantoffeln
ein ladekabel,
ein glas mit medizin

.

Rosen de Almeida

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freiTEXT | Michael Hirle

Rehgefühle

Wir zählen Rehe, ich kam auf fünf.
Die Zugfahrt sparte nicht an Bildern.
Kniend jedes Bild vor dem Altar abgenutzter Sinne.
Nebel in jedem Bild, manchmal glaube ich, er wäre schon auf meinem Auge.
Die Wälder, die sich namenlos entlang der Felder falten,
mühen sich nicht um Klarheit, unterbrochen von morschen Zäunen, die wohl schon viele Winter sahen und vor ihnen in die feuchte Erde sanken, jetzt sind sie würdig auf Augenhöhe.
Krähen oder sind‘s Falken, die auf den Pfählen wie ungedrückte Knöpfe hervorstehen und warten, warten.
Ob sie gedrückt werden, ich werde es nicht erfahren,
der Gedanke kehrt ins Schattenreich, wie so vieles auf dieser Fahrt.
Wenige Minuten noch, dann sind dort wieder Häuser.
Dieses unnatürliche Grau, das Wehmut weckt,
dieselbe, die mich auf Reisen schickte.
14 Rehe sagtest du. Vielleicht ist es die falsche Tageszeit. Zu hell für Mut.
Irgendwo ist dann das Meer.
Ich hoffe auf Alternativen, etwas, was man als Reh durchwinken könnte,
im schnellen Blick aus beschlagenen Fenstern.
Ich lege noch etwas Hauch darüber. Ja, dies könnte eines gewesen sein. 4.
So genau musst du es ja nicht wissen.
Der Zug wird langsamer, die Bilder deutlicher, die Mogelei würde jetzt auffliegen,
zum Glück gibt es keine Zeugen, nur ich und mein Gewissen.
Letzteres ist streng, die Vier ist in seiner Gegenwart nur schwer auszuhalten.
Wir warten auf einen Gegenzug, das Feld ist offen,
der Wald ist nah und es gibt keine Zäune, vielleicht gibt es etwas Glück, das ein Reh hervorlockt. Kurz bevor mir ein Ruck die „Wahlverwandtschaften“ vom Schoß schiebt,
meine ich etwas zu sehen, das mehr ist als unbewegtes Braun.
Doch, das ist meine Vier, ganz ohne schlechtes Gewissen. Ich schlafe ein.
In einem Zug scheint sich viel Müdigkeit zu sammeln.
Ich nehme sie in mich auf, trotz Schal und dicker Jacke.
Wieder ein Ruck, diesmal einer, den ich mir selbst sandte, schnell die Mundwinkel abtasten,
ob dort etwas Warmes … und der Blick nach links, ob da jemand lächelt …
Vor dem Fenster eine andere Welt, eine, die ich nicht wählte,
aber sie ist und sie ist mit Gleisen bedeckt, Striemen vieler Sehnsüchte.
Du wartest am Bahnsteig, als blättere sich die Welt an dir vorbei,
reglos und zart und mit einem Lächeln.
Kein Reh, aber ein Rehgefühl.
5.

 

Michael Hirle

 

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freiVERS | Fabian Lenthe

Wie lange wir wohl
Geradeaus hätten fahren können
Während wir einander geküsst hätten?
Und ich denke dabei an das Kleid
Und ihre Haare
An den Fahrtwind
Und die Zigarette
Die sie sich anzündete
Als wir knapp zweihundert fuhren
Dann fragt mich jemand
Ob dies die Linie
Richtung Friedhof sei
Und ich antworte ja
Und sehe auf die Uhr
Und sage
Kommt in zwei Minuten
Und wie immer
Beginnt es zu regnen

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Fabian Lenthe

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freiTEXT | Valentina Voss

Bloß ein Hund

„Er war doch bloß ein Hund.“ Ich ärgere mich noch immer darüber, wie sie das gesagt hat, als sie gestern, mir gegenüber, an meinem Küchentisch saß. Ich habe mich auch dann schon geärgert, bloß gesagt habe ich nichts. Wir hatten ja bereits eine ganze Weile dort gesessen, mindestens eine halbe Stunde lang Smalltalk geführt, die meiste Zeit habe ich stur an ihr vorbeigestarrt und nur aus den Augenwinkeln heraus beobachtet, wie sie unbeholfen an ihren blassen, schwammigen Fingern herumrieb. Sie wusste ja auch nicht, was sie sagen sollte, war ja selbst ganz überrascht gewesen, als ich sie eingeladen hatte, mir von der Straße in meine Küche zu folgen. Und das war immerhin mein Fehler gewesen. Ich hätte sie stehen lassen sollen, mit ihrem mitleidigen Blick hinter ihrem Vorgartenzaun, und ihr Angebot, mir einen Kaffee zu kochen, wie sonst auch mit dem Kopf wegschütteln sollen. Dann wäre sie nämlich draußen geblieben, hätte weiter den Kies in ihrer Einfahrt mit dem Rechen hin und her geschoben und wäre irgendwann zurück in ihre eigene Küche geschlichen, in der es nach Maggi und kalter Zigarettenstummel riecht. In Hellas Küche könnten mich keine zehn Pferde schleppen, von dem Geruch wird einem schon übel, bevor man überhaupt einen Schluck von ihrem wässrigen Nescafé genommen hat. Aber an diesem Nachmittag habe ich ihren Blick eine Sekunde zu lang erwidert und in dieser Sekunde in ihren Augen etwas gesehen, von dem ich dachte, ich hätte es mir wenigstens für eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee verdient. Ihr Mitleid. Ich trage ja selbst welches mit mir herum, für mich, seitdem du weg bist. Vielleicht habe ich Angst, meines wird verblassen, wenn kein neues dazu kommt. Und was wäre dann noch übrig, von deinem Weggehen.

Natürlich bist du ein Hund, warst du ein Hund, das muss mir ja keiner sagen. Du konntest nicht sprechen, hast gebissen, anstatt zu bellen – Hunde entscheiden sich bekannterweise immer nur für eine der beiden Optionen – hattest treue, liebe Augen, ein dichtes, braunes Lockenfell und ich habe mich immer gefragt, was du eigentlich mitbekommst, von mir, von dem, was um dich herum passiert. Habe nie gewusst, ob du mich vergötterst oder einfach nur Hunger hast. Habe dich mit Menschenliebe geliebt und mich nach deiner Hundeliebe gesehnt und bin in meiner Trauer über dein Weggehen allein, denn: Du warst ja eben bloß ein Hund. Ich weiß nicht, was mich an diesem Satz so wütend gemacht hat. War es das „bloß“, als hätte es nicht gereicht, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen? War es, wie Hella es gesagt hat, mit absinkender Stimme und schiefgelegtem Kopf, mit ihren großen Augen, mit dem Vorwurf, der da mitklang, der auch mitklang, als sie mir heute morgen ganz nebenbei über den Gartenzaun zurief: „Nach sechs Monaten hat sich meine Schwester einen Dackel zugelegt.“ – „Was interessiert mich denn bitte der beschissene Hund deiner Schwester, Hella?“, sagte ich leise zu mir, aber nicht laut zu ihr, und zupfte weiter den Löwenzahn aus dem Geranienbeet. Oder hat es mich geärgert, dass sie mir in meiner eigenen Küche, in die ich sie in fünf Jahren nicht einmal eingeladen hatte, sagt, was ich selbst am besten weiß? Was mir einen Schlag verpasst, wann immer ich mich in meinen sinnlosen, schmerzenden Tagträumen erwische? Was immer es auch gewesen sein mag, Hella sitzt jetzt wieder in ihrer Küche und ich in meiner, jede mit ihrem eigenen Kaffee, jede mit ihren eigenen Gedanken, die sie für sich behalten kann, die sie von mir aus in den dunstigen Gestank ihrer weißgefliesten Wohnung schicken kann, wo sie dann ersticken, weil ihr Rheuma ihr das Lüften verbietet.

Am schlimmsten sind die Sonntage. Besonders in den letzten Wochen, die das Laub gelb und die Luft grau gefärbt haben. Weil du und ich jeden Sonntag mit dem Auto aus der Stadt rausfuhren, raus aufs Land, zu den Wiesen, den Wäldern, zum Wasser. Wir gingen stundenlang um Seen herum, spielten ab und zu mit Stöcken, keiner sagte ein Wort. Weil du diese Tage genauso sehr gebraucht hast wie ich. Das wusste ich, weil ich sehen konnte, wie du aufatmetest, wie du nicht zusammenzucken musstest, weil es keine Menschen gab um uns herum, keine lauten Geräusche, nur mich. Und ich schwieg und freute mich darüber, dir zuzusehen. Weil Sonntag unser Tag war. Vielleicht ist es also doch die Gewohnheit, wie diejenigen sagen, die sich verkneifen, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen. Ein egoistischer Schmerz also, einer der fragt, „was machst du jetzt mit deinem Sonntag, wenn du nicht neben ihm im Auto sitzt und ihm erzählst, was du dir zu Abend kochen wirst, ihn bei jeder roten Ampel ansiehst, als würde er doch irgendwann antworten?“ Gewohnheit eben.

Ich habe irgendwo gelesen, dass sich manche Menschen vor den Spiegel stellen, um zu weinen. Weil sie sich so in ihrer Trauer gesehen fühlen. Vielleicht sollte ich das mal ausprobieren, anstatt meine Zeit damit zu verschwenden, die Geranien von Unkraut zu befreien, die verfaulten Äpfel vom Rasen zu sammeln oder die Gräser, die über die Steine des Gartenpfades wuchern, mit der Nagelschere zurechtzustutzen – so weit ist es schon gekommen – nur, um dabei Hellas mitleidigen Blick auf mir ruhen zu spüren. Dabei gefällt mir nicht einmal wirklich, wie sich mich ansieht. Sie denkt ja, ich würde das nicht bemerken, wie sie da an in ihrer Terrassentür lehnt, ihre abgebrannte Marlboro red zwischen den Fingern, mich mustert und sich jedes Mal viel zu hastig irgendeiner ebenso sinnlosen Beschäftigung zuwendet, wenn mein Blick von den Pflastersteinen in ihre Richtung wandert. Ihre Hilflosigkeit ekelt mich. Und trotzdem bin ich wieder hier, mit den Knien im Dreck und den Händen in meinen versifften, grünen Gartenhandschuhen und ekle mich mindestens genauso sehr vor mir selbst, weil ich ganz genau weiß, worauf ich warte. Hellas Terassentür bleibt zu.

Geht es darum, dass ihre Augen auch auf dich fielen? Als du noch hier warst, versteht sich. Dass sie uns zusammen gesehen haben? Wie wir im Sonnenlicht gemeinsam auf dem Rasen lagen, wie ich dich bei den Locken packte, wenn du wieder einmal knurrend nach den Bienen schnapptest. Ihre Augen haben dich gesehen, vier Jahre lang. Und wie das so ist mit der Gewohnheit, ergänzt sie jetzt das Bild, das sich Hella beim über-den-Gartenzaun-Spähen bietet, mit Details, die in Wahrheit längst verschwunden sind. Mit dir. Hellas Augen sind der Projektor und meine Einsamkeit die Leinwand, überspitzt gesagt, aber wenn ich sie beim Spähen erwische, denke ich an dich. Denn du warst ja immer Teil des Bildes, bis du wegliefst. Hella entging nichts davon. Also entging es ihr auch nicht, wie du mir zum ersten Mal so garstig in die Hand gebissen hast, dass mir schwarz vor Augen wurde. Genauer gesagt entging ihr das schon, denn das war ja in der Küche passiert, nicht im Garten, aber sie hat eben ihre Intuition, wie sie immer sagt. Und als ich dann, ein paar Tage später, am Gartentisch saß und meinen Kaffee trank, rief sie mir zu: „Der ist gemeingefährlich.“ – „Wer?“ Ihr Finger folgte ihrem Blick und beide deuteten in deine Richtung. Wie du da saßt, vorm Wintergarten, und teilnahmslos vor dich hin blinzeltest. „Was soll das denn heißen?“, fragte ich, sie lächelte nur sanft und nickte mir zu. „Das?“, ich hielt meine bandagierte Hand in die Luft und lachte. „Das? Ohne dein Bofrost-Abo wüsstest du auch, wie es aussieht, wenn man sich beim Kochen verletzt, kümmer du dich mal lieber um deinen eigenen Scheiß.“ Das hatte mir damals direkt leidgetan, sie war, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus gegangen und erst am Donnerstag wieder rausgekommen, um mit ihrer Nichte im Garten zu sitzen. Mich hat sie dabei nicht angesehen, das kam erst wieder, als ich ihr einen Korb Äpfel vors Garagentor gestellt habe.

Aber ich habe für dich gelogen, konsequent, auch, als sie mich noch einmal nach meiner Hand fragte, als ich vom Einkaufen zurückkam und die Mineralwasserkästen nur mit Mühe ins Haus schleppen konnte. Und auch beim Arzt habe ich gelogen, habe gesagt, ich wäre joggen gewesen und ein fremder Labrador hätte nach mir geschnappt, ein dunkelbrauner, man lügt ja bekanntlich besser, wenn man dabei ein konkretes Bild vor Augen hat. Der, der mich gebissen hat, warst nicht du, das war ein brauner Labrador und ich hatte danach zwei Wochen lang ein schlechtes Gewissen, weil ich mich sorgte, dass man jetzt nach braunen Labradoren Ausschau hielt, um sie einzuschläfern. Natürlich war das Unsinn, aber das waren eben die Gedanken, die mir kamen, in den paar Sekunden vorm Einschlafen, die sich in ihrer fantastischen Dringlichkeit in die Unendlichkeit zogen, während du friedlich neben mir schliefst, mit deinem schweren Lockenkopf auf meinem Oberschenkel. Was sollte das alles auch, wen ginge das denn überhaupt etwas an. Ja, du hast mich gebissen, aber du hast das ja nicht dauernd gemacht. Und außerdem weiß ich ganz genau, warum das passiert ist, weiß ja ganz genau, wie sie dich gebissen haben, als du noch ein Welpe warst. Ich konnte die Narben sogar noch sehen, eine am Bauch, neben deinem rechten Vorderbein, und eine am Ohr. Das war nicht mal mehr eine Narbe, das war ein Riss, der nie mehr ganz verheilt war. „Na, und warum holt man sich denn genau so einen Geschundenen wie den ins Haus?“ Weil man ihn liebt. Und weil man von ihm geliebt wird. Und weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die zwischen denen unterscheiden, die einfach zu lieben sind, und denen, die man ins Tierheim schickt. Ganz einfach, Hella.

Neben den Sonntagen schmerzt die Dämmerung. Das war die Zeit, in der du müde wurdest. In der du zu mir kamst. Es war nicht leicht, dich zu fassen zu bekommen, meistens wichst du aus, wenn ich meine Hand nach dir ausstreckte. Besonders morgens. Sobald du wach warst, sprangst du vom Bett, liefst die Treppe hinunter und standest vor der Gartentür, bis ich, verschlafen und voller Sehnsucht nach Berührung, hinterherkam und sie dir öffnete. Dann bliebst du draußen, den ganzen Tag, während ich arbeitete, das Haus putzte, Zeitung las und dich ansah. Doch abends, wenn der Himmel rauchblau und schließlich dunkel wurde, kamst du wieder, hungrig, und nachdem du gegessen hattest, zu mir. Irgendwann war es mir, als bestünden meine Tage nur noch aus der Vorfreude auf diese wenigen Stunden, mit dir auf dem Sofa, meine Hand in deinem Fell, deine Zunge, wie sie mir über das Handgelenk fuhr, wir beide und der Einbruch der Nacht. Vielleicht bist du ja deshalb im Winter zu mir gekommen und im Frühling davongelaufen, weil du ganz genau wusstest, dass du die Dämmerung auch nicht aushalten würdest, wenn sie kam. Doch jetzt kommt sie wieder, zu früh, so früh, dass man sie stundenlang ertragen muss, bis man sich endlich schlafen legt. Zumindest geht es mir so. Du warst ja bloß ein Hund.

Gerade als ich merke, dass mir die feuchte Erde, in der ich knie, bereits durch den dicken Stoff meiner Jeans gekrochen ist, um meine Beine mit ihrer klammen Nässe zu überziehen, höre ich, wie Hellas Terassentür aufgeht. Ich blicke auf und da steht sie, im Abendsonnenlicht, eine dampfende Tasse Tee in der Hand, in ihrer Arbeitsuniform. Hella arbeitet als Verkehrsüberwacherin, Politesse nennt man das auch, jedenfalls die Frauen, die einem Strafzettel unter die Scheibenwischer klemmen, wenn man fünf Minuten zu lange beim Arzt, oder beim Amt oder sonst wo wartet. Kein sehr sympathischer Job, das steht fest, aber ganz sicher bin ich mir dabei auch nicht. Ich habe sie ja nie gefragt. „Na?“, ruft sie mir zu. „Na?“, frage ich zurück und halte mir dabei die behandschuhte Hand über die Augen, um sie vor der niedrigstehenden Sonne zu schützen. Erde bröckelt mir ins Gesicht. „Immer was zu tun bei dir, was?“, fragt Hella und schlendert durch den Garten auf unseren gemeinsamen Zaun zu. „Naja, man findet immer was zu tun. Du kennst das ja“, murmel ich zurück und richte mich auf. Wir stehen uns gegenüber, ich noch halb im Beet, einen Kopf größer als sie und werde mit einem Mal verlegen. Als wäre sie deshalb so ungewohnt selbstbewusst über den Rasen auf mich zu gelaufen, weil sie ahnt, dass ich hier nur deshalb im Dreck vor mich hin krieche, weil ich auf sie gewartet habe. Auf ihr warmes Mitgefühl. Aber wie soll sie das denn wissen. „Du wirst mir das jetzt nicht glauben, aber ich hab einen Hunderter im Lotto gewonnen.“ Hella strahlt. Daher weht der Wind also. „Na dann komm rein, wir feiern das, was denkst du?“ Ich ziehe mir die Handschuhe von den klammen Händen und klopfe sie an der Hose sauber.

„Warum sind wir eigentlich nie Freundinnen geworden?“ Fragt sie mich. Es ist spät, zu spät, bestimmt nach eins und ich spüre den Prosecco sauer in meinem Magen prickeln. „Ich weiß es nicht, Hella“, sage ich und pule mir dabei den Dreck unter den Fingernägeln hervor. Natürlich weiß ich es. Warum sollten wir, was haben wir beide denn gemeinsam? Weil du erst im Lotto gewinnen musst, um mal über etwas anderes zu sprechen als die Nachbarn, deren Kinder, deren Autos, deine Schwester oder den Gartenzaun, den wir uns teilen und den du seit letztem September schon weiß streichen willst, aber es nie gemacht hast. Aber heute hast du im Lotto gewonnen, Hella, und wir haben uns zum ersten Mal wirklich unterhalten. Ja, du bist Verkehrshelferin, du warst erst Polizistin, aber hast aus ethischen Gründen gekündigt. Du hast einen Sohn, der in Düsseldorf wohnt und hast seit zwei Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Du hattest mal ein Wasserflugzeug, von deinem Vater geerbt, konntest es auch fliegen, hast dir dann aber das Bein gebrochen und es so lange stehen gelassen, bis du vergessen hast, wie es geht. Irgendwann hast du auch Angst bekommen, vorm Fliegen, du warst ja schließlich Mutter und hattest Verantwortung. Und du bist lustig, Hella, wenn man dich mal reden lässt, dann fallen dir alle möglichen Anekdoten ein, wie du dem Rektor als Schulmädchen die Schnürsenkel zusammengebunden hast, als er auf seinem Stuhl schlief, oder wie sich deine Mutter, als sie schon fast blind war, bei einem gemeinsamen Spaziergang von deinem Arm losgemacht hat, um einen Mann, der gerade mit entblößtem Schwanz ins Gebüsch pinkelte, nach den Öffnungszeiten des Parkcafés zu fragen. Natürlich lag es eher an deinem Gesicht, an deiner Gestik, dass mich diese Geschichten amüsiert haben, als daran, wovon sie erzählen. Jetzt sprichst du wieder vom Nachbarn. Aber nicht wirklich von ihm, sondern von dem Fahnenmast in seinem Garten. „Irgendwas macht mich unendlich traurig, wenn ich das höre. Wie das Metall ans Aluminium pocht. Das ist so ein hohler, einsamer Klang. Aber ich kann da ja auch schlecht rübergehen und ihn bitten, seinen Fahnenmast abzubauen.“

Hella hebt die Augen, lächelt, vermutlich über sich selbst. Ihre Stimme hallt nach, in meiner Küche und in meinen Ohren. Und irgendetwas an dieser Stimme sticht mir ins Herz, ganz tief. Ich nehme Hellas Hand in meine. Ihre Haut fühlt sich ganz anders an, als sie aussieht. Sanfter, fester und warm. Hella sieht mich an, überrascht und ihre Hand zuckt leicht, als ich mich langsam zu ihr beuge. Ich rieche an ihrer Wange und küsse sie, erst dort, dann auf den Flaum unter ihrer bebenden Nase, dann auf die Lippen, die so gar nicht nach Maggi schmecken. „Ich könnte deine Mutter sein“, flüstert sie. Ich nehme Hella den Schal vom Hals und lächle nun auch, zum ersten Mal in dieser Woche, so breit, dass ich ihr dabei meine großen, weißen Zähne zeige.

 

Valentina Voss

 

 

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freiVERS | Sonja Paul

Sommerträge

Einer dieser Tage
Ganz still
Ein leiser Windhauch im Wipfel
Darüber ziehen
Tief und schwer
Bleigraue Wolken.
Flüsternd
Aus scheuen Ecken
Das Raunen der Zikaden.
Zurückgezogenes Licht
Legt sich schlummern
In sanfte Nachdenklichkeit.
Heute ist Sommer
Ein leiser, zurückgezogener.
Der Wolken liest
Und Schmetterlingen lauscht.

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Sonja Paul

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