freiTEXT | Sigune Schnabel

Die Zeit bleibt Kind

I

Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.

Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.

Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.

Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. „Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: „Bestimmt.“

II

Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegten sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.

Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Reste vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.

Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlanggelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.

III

Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nicht lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.

Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.

IV

Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.

Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.

Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.

V

Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.

Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Jedes Mal konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.

VI

Die Fähigkeit der Hingabe war abhandengekommen. Johanna schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in ihre Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: „Sieht es nicht schön aus?“ Paul verzog das Gesicht.

VII

Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und sah zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten aller Errungenschaften?

VIII

Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.

Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; nichts war mehr möglich, außer in den Leerstellen zu versinken.

Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander rankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.

IX

Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.

Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“ Johanna wusste es nicht.

X

Manchmal nahm sie ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.

 

Sigune Schnabel

 

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freiVERS | Kornelia Wald

Winterhecke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kornelia Wald

 

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freiTEXT | Elísa Lovísa

Lebensretter

Kondome in allen Farben kleben unentrollt auf einer Glaskugel, die von innen beleuchtet ist und sich dreht. Dazu ertönt Musik von ausschließlich schwulen Künstlern, von António Variações bis hin zu Gaahl von Gorgoroth. Die bunten Schatten gleiten über die Wand und verbreiten dabei frivole Tanzatmosphäre.

Es ist mein 18. Geburtstag und ich befinde mich auf der Ausstellung meiner zehn Jahre älteren Schwester. Es stimmt nicht ganz, dass es ihre Ausstellung ist – sie gehört zu einem kleinen Künstlerkollektiv, das hier für zwei Monate seine gesammelten Werke zeigt. Ich bin stolz auf sie.

Ihr Freund und Kollaborateur Haq schenkt mir Sekt nach und singt aus vollem Hals das Lied von Judas Priest mit, das gerade läuft. Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen dafür, wenn man bedenkt, dass sich bei der Eröffnung vor zwei Tagen ein kleiner Skandal ereignet hat. Nun, es war eher einen Tag später, denn eine der anwesenden Journalistinnen hat sich bei der Pressebegehung der Räume nichts anmerken lassen und am nächsten Morgen einen empörten Artikel in ihrem Blatt drucken lassen, der ordentlich Aufsehen erregt hat. Jetzt strömen die Leute nur so in das bescheidene Kunsthaus unserer kleinen Stadt.

Ich habe mich ohnehin gewundert, warum das Kollektiv um meine Schwester ausgerechnet hier ausstellen will, das ist doch viel zu abgefahren für dieses Provinznest, wo in der Regel nur die Arbeiten von Rentnerinnen gezeigt werden, die einen Kurs in impressionistischer Malerei besucht haben. Gelegentlich auch Schwarz-Weiß-Fotos von Schülerprojekten, in denen ein Lehrer seinen Schützlingen beigebracht hat, wie man den Film selbst entwickelt.

Das hier war eher etwas, das man in Berlin oder Köln vermuten würde. Aber das Kollektiv beharrte darauf und meine Schwester sprach sogar davon, dass es besonders hier nötig wäre. Jeder solle Zugang zu Kunst haben, meinte sie, und fügte etwas vage hinzu, dass die Inhalte nicht rein für Großstädter wären und auch hier sicher Menschen berühren würden. Sie sollte Recht behalten haben.

Am Tag nach der Eröffnung war nun also der Teufel los, der ganze Landkreis schien von der Ausstellung gehört zu haben, über sie zu sprechen, sie sehen zu wollen – trotz des meiner Meinung nach eher einfallslosen Titels „Re:Produktion“, der nicht danach klang, als könne er unsere Mitbürger zu Scharen ins Kunsthaus locken.

Der tatsächliche Höhepunkt der bisherigen Resonanz aber war der Brief, den jemand wohl noch in der Nacht unter der Tür durchgeschoben und den die Aufsicht heute Morgen beim Aufschließen erst gefunden hatte.

Er wird gerade an der Wand angebracht, mitten im Raum, der dem Projekt gewidmet ist, für das meine Schwester hauptverantwortlich zeichnet und das „Innigkeiten“ heißt.

Eigentlich liegt im Kollektiv das Urheberrecht immer bei der Gruppe. Genau dieses Projekt aber war so persönlich, dass meine Schwester fast ganz allein daran gearbeitet und dafür den Künstlernamen „Roe v. Wade“ gewählt hat. Was wie ein exzentrischer Adelsname klingen mag, ist in Wahrheit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der dort damals die Abtreibung legalisiert hat. Und davon handelt ihr Projekt. Unglücklicherweise war sie auf dem Bild zu sehen, das in der Zeitung abgedruckt war, allerdings nur mit diesem Künstlernamen, an den übrigens auch die Morddrohung gerichtet ist, die nun als vielsagendes Zusatzexponat die Ausstellung bereichert.

Auf die Frage meiner Mutter, ob sie damit nicht zur Polizei gehen wolle, winkt meine Schwester ab. Sie wirkt alles andere als eingeschüchtert und sieht die Nachricht eher als Beweis dafür, wie wichtig die Ausstellung sei, wie sehr sie es geschafft habe, die Menschen an wunden Punkten zu treffen. Auch wolle sie keinesfalls der Absicht nachgeben, sie zum Schweigen zu bringen. Sie kündigt sogar an, weitere Morddrohungen an derselben Wand zu sammeln, sollten noch mehr eintrudeln. Diese Reaktion, die ihrer Auffassung nach ausgezeichnet die Widersprüchlichkeit sogenannter „Pro Life“-Aktivisten einfängt, rundet das Gesamtwerk noch besser ab.

Zum diesem gehören unter anderem eine Modellstadt voller Abtreibungskliniken, zwischen denen die schwangere Maria in Begleitung von Josef auf Modelleisenbahnschienen hin und her pilgert, ohne Einlass zu erhalten, während im Hintergrund das Lied „Mary Never Wanted Jesus“ von Thee Majesty läuft. Des Weiteren lässt sich in der Mitte des Raumes ein großer Globus finden, dessen Kontinente dicht an dicht gedrängte Playmobilmännchen bevölkern, während seine Ozeane komplett mit Plastikteilchenmosaiken überzogen sind. Darüber schwebt ein Storch mit einem Bündel im Schnabel.

Es gibt eine kleine Wackelkopffigur des aktuellen Papstes, die mit einer Sprechblase verkündet, dass allen Frauen, die von ihrem Partner zu einer Abtreibung gezwungen wurden, vergeben wird, während ein Pappmaché-Jesus sich nebendran um den Andrang an vom Papst ignorierten und zurückgelassenen Frauen kümmert. An einer Wand thront über einer altarähnlichen Vorrichtung ein ikonenhaft stilisiertes Gemälde von Kristina Hänel, jener Ärztin, die angeklagt wurde, weil sie über Abtreibungen aufklärte, und die auf dem Bild das selige Lächeln einer Heiligen trägt.

Außerdem hängt da noch eine chinesische Flagge, vor der eine Waage steht, eine Schale befüllt mit Männlichkeitssymbolen, die andere, deutlich schwerere, mit dem weiblichen Pendant, entsprechend der dortigen Abtreibungsstatistik. Eine Klanginstallation mit einem Chor brasilianischer Frauen, die dafür beten, dass ihre Abtreibung unentdeckt bleibt, kann man sich ebenfalls anhören.

Meine Schwester eben – die ganze Welt muss repräsentiert sein, zumindest annähernd.

Zitate zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus der ganzen Weltliteratur wie aus internationalen Geschichts- und Gesetzesbüchern zieren die Wände; Adichie, Márquez und zig andere.

Aber das sind die politischen, die offensichtlichen Werke. Ohne die ginge es nicht, meint meine Schwester, und mich beschleicht das Gefühl, sie hat kein Vertrauen in die Interpretationsfähigkeit der Leute hier – vielleicht zurecht. Allerdings wunderte ich mich anfangs sehr, ist ihr Stil doch sonst eher subtil, scheut geradezu jede Erwähnung tagesaktueller Themen und Namen, verwehrt sich allem Konkreten, meidet das allzu leicht Verständliche.

Und zwischen den aufmerksamkeitsheischenden Werken verstreut liegen diese Inseln der Introspektion, die persönlicheren Exponate meiner Schwester.

Von ihrer eigenen Abtreibung vor sechs Jahren hat sie mir vor Kurzem erst erzählt; unsere Eltern wissen es schon längst. Bemerkenswert an ihren Erlebnissen, ihrer Erzählung war vor allem der Umstand, dass die meisten beteiligten Frauen – Frauenärztin, Abtreibungsärztin – sich laut meiner Schwester eher als unsensibel bis repressiv erwiesen, während die Männer – der Berater bei Pro Familia, der Narkosearzt – wesentlich verständnisvoller, urteilsfreier und warmherziger reagierten. Warum das so war, darüber kann man allerhand Mutmaßungen anstellen, aber meiner Schwester erschien dieser Fakt sehr erwähnenswert.

In den Bildern, Installationen und Skulpturen, die inmitten der Provokationswüste stehen, liegen all die Leeren und Erblühungen, die meine Schwester seit der Zeit mitgemacht hat, ihre Verknüpfungen zu dem Ereignis mal mehr, mal minder stark. Das Wahnsinnige daran ist, dass ich diese spüren, nachfühlen kann, durch ihre Geschichten, durch ihre Kunst. Wie ein Echo kommt es bei mir an, ein Echo, dessen Schwingungen mich umwerfen.

Der Bauch als Körperhöhle, Lebensraum, Gefängnis. Verengung der Welt, Verengung des Seins, Reduktion auf ein paar wenige Organe. Allumfassende Angst, ungeheures Wachsen um einen herum von Aufgaben, Erwartungen, Druck und Zwängen. Die Verbindung bleibt tot, körperlich vorhanden, doch nicht fassbar, keine Vorfreude, keine Mamamutation, kein Rühren einer neuen Wesenshaftigkeit. Nichts. Zukunftssorgen, Geldsorgen, Planetensorgen, erdrückende Machtlosigkeit, und das Selbst ist immer noch zu schwach, um ein weiteres, ein anderes Bewusstsein zu erschaffen, zu halten, zu leiten. Welt- und Lebensfülle schwinden.

Die Entscheidung kostet Mut und Überwindung, Stigmata, die bluten, Hinterfragen der Beseelung aller Dinge, eines Jenseits, einer Transzendenz. Diese Unklarheiten, die schon immer welche waren und es auch bleiben werden.

Danach jedoch: weinende Wiedergeburt, Erleichterung, himmelhochjauchzend! Befreiung, Wärme, Dankbarkeit. Möglichkeiten, die erwachen, daneben Trotz – Kampf mit der Meinung der Leute, die richten, die nicht wissen, die Schuld suchen und Ausreden, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Was gegen den eigenen Willen geschieht, soll gut sein, gottgewollte Überforderung. So oder so nichts als Strafe.

Es gibt Monate, wo sie nach Gefühl ringt, gegen die vernichtende Feindlichkeit, die Bitterkeit und Vorhaltung der Leute, sie kämpft um jede Empfindung.

Aber sie hat sich behauptet, sich gerettet, hat gelernt, dankt denen, die ihr das Leben wiedergeschenkt haben, ist in der Zeit gewachsen und erstarkt.

Kontrovers mag es sein, aber meine Schwester sagt genau das: Dass der Akt der Abtreibung der Moment war, in dem sie sich selbst gebar, die Auslösung eines tiefgreifenden Entwicklungsprozesses, das Ergreifen von Kontrolle und Selbstbestimmung mehr als je zuvor. Ein Ergründen der eigenen inneren Umstände. Und davon zeugen ihre Exponate.

Es überrascht mich, wie viele ältere Frauen da sind, die überaus emotional reagieren – manche, weil sie damals zu mitunter gefährlichen Abtreibungspraxen gezwungen wurden, manche, weil sie dies heimlich allein unternommen hatten, aber ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnten, und manche, weil sie gezwungen waren, Familien zu gründen und ihnen dadurch viele Chancen verwehrt blieben, viele ihrer Träume platzten. „Kostenlos, sicher, legal“ war früher eben noch undenkbarer als heute.

Meine Schwester steht wie eine Triumphsäule inmitten ihrer sichtbar gemachten Verletzlichkeiten, ihrer Erschöpfungen und Erschaffungen, beobachtet die Menschen, die sich in diesen selbst erkennen und sie mit ihren Gefühlsregungen umbrausen, umtosen, bestürmen.

Sie ist mehr als zufrieden, sie ist im Frieden mit sich, vertraut sie mir an, und sogar mit den Absendern der Drohbriefe. Sie weiß, dass diese vermutlich keinen Fuß in die Ausstellung setzen und wahrscheinlich nie ihre Meinung ändern werden. Aber ihre Haltung spricht von anderen Ängsten, die dem Kollektiv Inspiration für die nächste Ausstellung geliefert haben. Meine Schwester sprüht momentan vor Tatendrang und Revolutionslust, Ideen vermehren sich stündlich. Der Angstabbau, der Schamnachlass, die Besinnung auf die eigenen Kräfte – in ihr knospen hundert neue Welten, alte erglühen wieder. Sie war so klein und schwach und verunsichert zwischendurch, erzählt sie mir, und jetzt ragt sie ins Leben, überblickt alles, weitsichtig, klarsichtig, clairvoyant.

Ein neuer Künstlername für ein neues Projekt ist geboren, meine Schwester strahlt, sie will und wird aufgehen wie eine verschlossene Blüte, eine goldgießende Sonne.

Lächelnd drückt sie sich an mich und überreicht mir mein Geschenk: ein Ring aus rotem Glas mit vier weißen Streifen, ein Rettungsring. Er ist ein Symbol: die Zusicherung von Hilfe und Unterstützung, die Erinnerung an meine eigene Stärke, und zugleich Dank, denn der Gedanke an mich und meine Zukunft hat sie durchhalten lassen, die Vorkämpferin, die Mutentbrannte.

 

Elísa Lovísa

 

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freiVERS | Max Rauser

nur was zerbrochen ist, ist sichtbar

das halbe haupt gehoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar
vom stamm die rinde weggeschoben
das licht in fahlen dunst zerstoben
die splitter hoch erhoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar

das glas geworfen an die wand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar
ein siegel auf dem lockren land
ein haken in der flachen hand
ein becher liegt im feinen sand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar

im trommelfell ein leichter riss
nur was verwundet ist, ist sichtbar
hinterm ohr ein tiefer biss
im gesicht ein alter schmiss
auf dem thron ein fliegenschiss
nur was verwundet ist, ist sichtbar

 

Max Rauser

 

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24 | Katharina Ferner

lunzt (na)
umadum
riahst (di)
wözt (di)
drahst (mi)
schlawinast
heast (na)
sog amoi
wia warats
won wia a wengal efta
lunzn taadn

 

Katharina Ferner

 

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23 | Andreas Hippert

Alter

Im Apfelgarten
von den Jungbäumen
unbeachtet
die er seit Äonen
unter den Fittichen seiner Äste behütete
unscheinbar
zwischen der Blütenpracht
der prallenden Bäume
stand er
in seinen fruchtlosen Jahren
unsichtbar geworden
viele Winter lang
bevor ihn
das Eis zerbrach.
Darniederliegend
erblühte er
letzte Äpfel.

 

Andreas Hippert

 

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22 | Caroline Wolfram

Für Weihnachten nach Hause fahren

Zuhause ist, wo die Familie ist. Weihnachten ist die Zeit des Friedens und des Vergebens.

Die mit Zitaten gespickte Pinnwand im Wohnzimmer meiner besten Freundin starrt mich bedrohlich an und weil ich nicht nur ängstlich sondern auch konfliktscheu bin und mich nicht mit der geballten Weisheit dieser Korktafel anlegen will, kaufe ich mir ein Zugticket nach Hause. Der Heilige Abend ist nur noch ein paar Stunden entfernt, als meine Füße den Boden meines Heimatortes zum ersten Mal seit drei Jahren wieder betreten. Außer mir steigt sonst niemand hier aus dem Zug aus. Und auch niemand ein. Eine seltsame Ruhe erfüllt mich. Nach all der Zeit ist hier doch immer noch mein Zuhause. Statistisch gesehen habe ich hier die meisten Stunden meines Lebens verbracht und auch wenn diese Erkenntnis, nach allem was vorgefallen ist, nicht viel Wert besitzt, so wiegt sie mich dennoch in der Sicherheit, die Bekanntes immer mit sich bringt.
Ich gehe langsam vom Bahnhof in Richtung der Wohngegend meiner Eltern. Es ist bereits dunkel und einzelne Schneeflocken purzeln in froher Erwartung im Licht der Straßenlaternen auf den Asphalt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Aus den Geschäften, die die Straße links und rechts säumen, blinken bunte Dekorationen um die Wette und grelle Schilder machen auf den Winterschlussverkauf, der in ein paar Tagen starten wird, aufmerksam. Doch als ich geradeaus blicke fällt mein Blick unweigerlich auf den großen Weihnachtsbaum, der wie ein Wächter vor dem Rathaus steht. Majestätisch überstrahlt er all den anderen Kitsch und versetzt mich zurück in meine Kindheit. Als alles noch einfacher, besser war. Einen Moment lang lasse ich mich von diesem Gefühl einlullen. Mit Mama und Papa eislaufen gehen. Maroni essen. Hand in Hand von einem Stand auf dem Christkindlmarkt zum nächsten spazieren. Vor dem großen Baum ist eine Krippe aufgebaut. Maria, Josef und alle anderen Protagonisten bewachen fromm das Jesuskind, während aus einem Lautsprecher wunderschöne Weihnachtslieder erklingen, die mich wünschen lassen, dass nur ein winziger Funke katholischen Glaubens in mir übriggeblieben wäre, um die Musik in ihrer radikalsten Form genießen zu können.
Doch ich folge dem Straßenverlauf weiter und denke an dieses Gedicht. Markt und Straßen stehen verlassen. Ich glaube nicht, dass der Autor sich Gedanken darüber gemacht hat, was im Inneren der still erleuchteten Häuser stattfand, während die Welt draußen wunderstill beglückt war. Rechts von mir blitzt das schneidende Licht eines Horrorfilms in meine Augen, im zweiten Stock des Wohnhauses links von mir sehe ich hinter einem Vorhang die Silhouette eines eng umschlungenes Paares. Irgendwo vor mir dringt das laute Wortgefecht von zwei Männern an meine Ohren und als ich schließlich vor der Gartentür meines Elternhauses stehe, begrüßen mich ein Dutzend Bierflaschen, die wie stinkende Gartenzwerge aus dem Boden ragen.
Aus dem Haus höre ich lautes Lachen und dröhnende Schlagermusik, der Soundtrack einer fröhlichen Feier. Mein Herz rast. Langsam greife ich nach der Türklinke, als ich an ein anderes Zitat auf der Pinnwand denken muss. Zu Weihnachten kommt es nicht darauf an, was unter dem Baum liegt, sondern wer zusammen davor steht. Ich stecke meine Hand zurück in meine Jackentasche und mache mich auf den Weg retour. Es gibt schließlich einen Grund, warum ich nicht eingeladen wurde.

 

Caroline Wolfram

 

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21 | Kathrin Lagatie

Sehen

Als ich meine Mutter am Boden liegen sah, lief ich eilig in die Küche. Die Küchenschere war die einzige im Haus, die regelmäßig geschliffen wurde. Ein Erbe meines Vaters. Ich griff also zur Schere, ging zurück zur Mutter und schnitt ihr die Haare ab. Wieder zu Hause angekommen, verfütterte ich den Zopf an die fleischfressende Pflanze, die irgendwer vor Jahren in unserem Treppenhaus ausgesetzt hatte. Ich kümmerte mich seitdem um sie. Ab und an ein Finger, hin und wieder eine Wimper, das bringt Glück. Während ich der Pflanze dabei zusah, wie sie das Haar meiner Mutter verschlang, wurde mir klar, dass ich die ganze Mutter verfüttern würde. Nun hatte ich endlich ein Ziel vor Augen. Ich musste nur aufpassen, dass mich niemand dabei beobachten würde.

 

Kathrin Lagatie

 

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20 | Manon Hopf

WENN DIE MÜTTER ZU
frieden sind
kochen sie
richten sie
den Teig
und rollen die Finger
in die Füllung
dort liegt die Hand
im Bauch
sie brauchen sie dann
nicht an der Waffe
sondern im Gewicht

 

Manon Hopf

 

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19 | Alisha Gamisch

advent ende zwanzig

die großen generationen sterben ab
sie lassen ihre haut zurück und ein zwei sprengkörper unter häusern
fernnah gesehen die angst
in den augen der opas wie viel prozent
hungerleuchten disziplin hörigkeit? die oberen die oberen
eben und uns ist auch so viel leid geschehen der apfelstrudel im starnberger
haus des großtantenmannes
die russn die tschechn die säue
stolpern durch albwörter
winden durch entwurzelte ausreden
ja aber wir hatten nie ein zu hause so wie du

nemez haben sie mich genannt sagt ein opa
und russ haben sie mich auch genannt

wenn zwei opas sich als jugendliche begegnet wären
hätten sie sich erschossen oder einen schnaps getrunken?
die zeit sie dehnt sich durch gene hindurch sie blättert von der wand
legt hände drauf
ein opa in einem anderen haus
zitiert ein gedicht von kästner
ohne fehler – fehler? er kann sich nicht mehr erinnern
auch erzählen geht noch aber
ohne bezug zum heute oder morgen
keine frage kommt ihm in den sinn
verschoben das gefühl im jetzt zu sein

 

Alisha Gamisch

 

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