freiVERS | Nora Schramm

wie du vor dem gebirge liegst

den finger auf dem käfer ziehst du
unter fetzen von wetter
vorbei hast den boden an der schläfe
kleben siehst flechten in lawinen

wachsen als wäre alles erde nur du
ein kleiner stummer mond als wäre
alles krater nur du eingerollt an seinem
tiefsten punkt klopft dein puls an glas

es überschlägt dich einfach
bergab kannst

nie aufhören. bis du aufhörst
mit fleischfühlern im licht zu
wühlen aufzuplatzen wie keimende
bohnen kannst du einfach nie

aufhören. den boden zu bewohnen

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Nora Schramm

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Bereits veröffentlicht in Literarische Blätter, Juli 2020

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freiTEXT | Peter Sipos

wenn ich verschlafe

wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“

         beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.

         „ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).

         ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“

doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.

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Peter Sipos

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freiVERS | Michael Pietrucha

Großvater und der Herbst

gesät wird immer um die erzengel herum

und wie und wie
ist der weizen schon geerntet der roggen
die hecken die bäume sie müssen
ausgerissen werden
wer soll das machen
niemand kann das machen

der rücken der krümmt sich tief und tiefer
der atem der wird flacher

und wie und wie
ist der boden schon gepflügt
wo bleibt der regen

neunundsiebzig achtzig einundachtzig
mal den geburtstag gefeiert
zahlen sagen nicht viel nur
was dazwischen alles geschieht
bis die täglich suppe
zu salzig scharf fettig
ist
und fleisch und obst und gemüse
zu hart zu kauen
sind
zwei gläschen zu viel fürs herz

und wie und wie
wieso zeugen die enkel keine kinder nicht
während der großvater wie ein
chamäleon geht
das ihm der fernseher zeigte erklärte und
wieder erklärte
und er nicht mehr jeden satz aufschnappt
der herum schwirrt
bei tisch
wenn die suppe zu salzig scharf fettig
kalt ist

der herbst ist da
pflügen und säen
wer soll das machen
machen kannst du es nicht mehr
großvater

gesät wird immer um die erzengel herum

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Michael Pietrucha

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freiTEXT | Katrin Rauch

A und B und C, oder Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen?

Wissen Sie, verehrte Lesende, mit der Reibung ist das so eine Sache. Es kann durch Reibung zum einen ganz warm werden – heiß direkt. So heiß etwa, dass beim Eislaufen das Eis unter den Kufen schmilzt und dadurch die derartige Fortbewegung überhaupt erst ermöglicht wird. Wird’s aber zu heiß oder passiert die Reibung an unangebrachten Stellen, kann es zu garstigen Verbrennungen führen: man reibt sich auf oder gar wund. Zum Auf- bzw. Wundreiben braucht es im Übrigen nicht zwangsläufig zweierlei. Das funktioniert allein mitunter ebenso gut. Diese diversen Reibeverhältnisse werden in freier Wildbahn des Öfteren eindrücklich demonstriert und beobachtbar gemacht – wie etwa im Folgenden bei A und B und C. Sämtliche möglichen Formen der Reibung – alleine, aneinander, heiß, kalt, wund, warm, um nur einige zu nennen – wurden und werden derart lehrbuchartig praktiziert, dass A und B und C und deren jeweiliger Reibung eigentlich ein Platz in denselben gebühren würde – gäbe es solche Lehrbücher denn. Denn mit der Reibung ist das so eine Sache. Sie entsteht nun mal nicht nach Lehrbuch, sie entsteht dazwischen.

Also, es ist so: Ich reise berufsbedingt überdurchschnittlich viel. Jede Woche eine andere Stadt, ein anderer Gig. Jede Woche eine andere Destination. Dafür buche ich der Gewohnheit halber One-Way-Flüge. Einen von A nach B, einen von B nach A, einen von A nach C, einen von C nach A, und so weiter, nur in den seltensten Fällen von B nach C oder dergleichen. Und am Ende jeder dieser Buchungen werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Auch bei den Buchungen nach A werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Dabei ist A so oft Ausgangspunkt und Rückkehrort meiner Flugstrecken, man möchte meinen, die Algorithmen hätten bereits eins und eins zusammengezählt und konkludiert, dass A wohl mein Wohnort sein muss. Aber ich werde am Ende jeder einzelnen dieser Buchungen von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Wofür?

Ich finde, wir sollten wieder einmal Sex haben. Wir könnten uns wieder einmal treffen und uns betrinken, dann läuft es ohnehin darauf hinaus. Wir würden einen Wein trinken, oder mehrere, bei dir im Wohnzimmer oder in einer Bar – ganz egal, es würde dann damit enden, dass wir uns angreifen und uns gegenseitig ausziehen – dafür reicht die Leidenschaft, fürs sich gegenseitig Ausziehen – und dann würden wir wieder einmal Sex haben. Betrunken. So lange, bis wir nicht mehr betrunken sind. Dann ein bisschen Dösen und Reden und Dösen und Reden und nochmal Angreifen und dann würde ich nicht dableiben, weil ich ja wie immer schon was vorhabe.

Es wird mir also vorgeschlagen, nur temporär hier zu wohnen, wieder abzuhauen. Es wird mir vorgeschlagen, ein temporäres Bett zu kaufen, kein eigenes zu haben. Es wird mir vorgeschlagen, mir ein Bett mit den Gästen zu teilen, die vor mir in diesem Bett geschlafen haben und nach mir in diesem Bett schlafen werden, und dazwischen die Bettwäsche nicht selbst zu waschen. Es wird mir vorgeschlagen, keine eigene Küche zu haben. Ich soll mich in der Früh, zu Mittag und/oder abends bekochen lassen. Es wird mir vorgeschlagen, bald wieder abzuhauen, denn das wird doch von einem verlangt, wenn man im Hotel schläft.

Reibung wird gelegentlich als Friktion bezeichnet und beides weist doch unabdinglich onomatopoetische Qualitäten auf. Passend, wenn man bedenkt, dass Reibung oder Friktion etwas ist, das zuweilen durchaus hörbar ist.

Die Nachbarn über deiner Wohnung haben deiner guten Freundin, die noch eine Wohnung darüber wohnt, mal gesagt, dass da wohl jemand neuerdings regelmäßig recht „ausführlich“ miteinander schlafen muss. Sie hatten laut deiner guten Freundin tatsächlich „ausführlich“ gesagt, weißt du noch? Was haben wir uns tot gelacht und dabei nickend zugeben müssen: Mit welchen Worten man unsere Male auch beschreiben wollen würde, „ausführlich“ wäre das passendste unter ihnen. Und hinter dem Gelächter hatte unser Inneres mitgenickt und zugegeben: Das ist auch schon das Einzige, das an uns „ausführlich“ ist.

Warum sollte ich mir ein Hotel in einer Stadt nehmen wollen, in die ich immer wieder zurückkehre? Also ein- bis zweiwöchentlich. Also andauernd. Als wäre das nicht Grund genug, mir eine bleibendere Bleibe zu suchen als ein Hotel. Aber was soll’s – dann wird mir eben vorgeschlagen, dort ein Hotel zu nehmen, wo ich eigentlich eh wohne. Dann wird mir eben vorgeschlagen, nicht meinen eigenen Kaffee zum Frühstück zu trinken. Nicht mein Kaffee. Ich muss mich ja nicht darauf einlassen und kann die Meldung genauso einfach übersehen, wie ich auch die anderen Meldungen übersehe: Mietauto, Zusatzgepäck, Reiseversicherung.

Ich finde, wir könnten jetzt langsam wieder einmal Sex haben. So ohne Netz und doppelten Boden. Ohne Poolnudel und Schwimmflügerl – wofür denn? Wir wären locker und ungezwungen und würden uns angreifen und ich könnte es mittlerweile sogar greifen, denn inzwischen hätten wir uns ja schon öfter angegriffen und irgendwann gewöhnt man sich. Außerdem wäre in der Zwischenzeit viel passiert. Vielleicht haben wir da ja gelernt, keinen Rettungsring zu brauchen, und ich, dass du doch keine Gewohnheit bist.

Interessant zu beobachten sind auch die Reibungsunterschiede, je nachdem in welche Richtung gerieben wird. Hinwärts verhält es sich ähnlich, wie bei einer Wasserrutsche, wobei am Ende das erfrischende Schwimmbecken wartet. Dazwischen ist vor allem in den Kurven verhältnismäßig viel Herzklopfen zu erwarten. Rückwärts: mehr so flauschige und feste Seite des Klettverschlusses.

Es ergibt eigentlich von der Logik her überhaupt keinen Sinn, aber ich finde die Anreisen immer anstrengender als die Rückreisen. Ich bin bei der Ankunft im Hotel in B und C und dergleichen immer fertiger, als bei der Rückkehr in meine Wohnung in A.

Nur blöd, dass die Schwimmbeckenreibung die Klettverschlussreibung überhaupt erst verursacht.

Von der Logik her müsste doch die Anreise vor lauter Vorfreude und so weiter viel weniger zermürbend sein. Vielleicht liegt’s daran, dass ich beruflich und zu viel reise.

Manchmal erzähle ich lieber, wir hätten uns auf Tinder kennen gelernt, denn die Eislaufgeschichte glaubt uns eh kein Mensch. Du rutschst aus, fällst in mich hinein, ich falle und schlage mir am Eis einen Zahn aus. What are the odds? Manchmal denke ich: Heute würdest du nicht mal mehr in Tanzschuhen auf dem Eis ausrutschen, um nicht in mich hineinzufallen.

Vielleicht liegt’s dran, dass ich im Hotel in B und C und dergleichen nicht erst herausfinden muss, wie die Dusche funktioniert, und dass [zuhause] (Anm.: nachträglich eingefügt) die Bettdecke vertraut riecht.

Das vorletzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben, hätte ich sogar noch ein bisschen bleiben können, aber du hattest schon was vor.

Das letzte Mal hab ich dich auf Tinder gesehen.

Vielleicht liegt’s auch daran, dass bei der Anreise gefühlt mehr schiefgeht als bei der Rückreise. Aber das kann auch Einbildung sein.

Vielleicht liegt das daran, dass du immer so selten zu mir und ich immer so oft zu dir gefahren bin. Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich dann wieder nicht dageblieben bin, weil ich – ja, warum eigentlich?

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Katrin Rauch

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freiVERS | Sofie Morin, Marion Tauschwitz, Jutta von Ochsenstein, Dorina Marlen Heller

Amerika zeigt: Flagge

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Sofie Morin (So), Marion Tauschwitz (Ma), Jutta von Ochsenstein (Ju), Dorina Marlen Heller (Do)

zu Frank Lloyd Wright „Composition in light”, Interpretation der amerikanischen Flagge,
Glasfenster für das Landhaus von Avery Coonley, Riverside, Illinois, um 1912,
(Glas, Zinkstege, bemalter Holzrahmen, 135,6 x 30,5cm)

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freiVERS | Dominic Röthlisberger

Nachts

Nachts werden die Babys von Ratten
gebissen
ist der Titel dieses Artikels über Flüchtlinge
auf Samos (da war ich auch schon mal, als ich noch ein unschuldiges
Kind war, in meinen Sommerferien).
Eine Hebamme erzählt von Frauen und Kindern,
die auf dem langen Weg zur Toilette vergewaltigt werden,
und der einzige Weg sich zu schützen, ist es,
einen Eimer zu kaufen.
Doch die Hebamme und andere Helfer
haben nun eine weitere Toilette gebaut,
eine, für 100 Menschen,
und die ist schmutzig und der Abfall
zieht Ratten an und die Ratten ziehen
Schlangen an, die seien nicht giftig,
immerhin,
aber die Ratten, die beißen eben nachts
die Babys und ich denke daran,
dass ich vor dem Einschlafen einfach keine
Nachrichten mehr lesen sollte.
Und all das hier (und noch mehr)
stand ziemlich genau so in diesem Artikel,
ich weiß,
das reicht nicht für ein Gedicht,
aber ich muss diesen Artikel irgendwie
loswerden,
und zu bestimmen, wo
die Zeile bricht,
gibt mir ein Gefühl der Kontrolle
und der Ordnung,
damit ich gleich gut schlafen kann,
während nachts an anderen Orten
Babys von Ratten gebissen werden.

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Dominic Röthlisberger

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freiTEXT | Nele Ziemer

binnen

Ich hänge im Bad das Handtuch über die Heizung und sie schneidet mir den Finger, teilt mich in zwei, ich hinterlasse Tropfen, rutsche in mein Kleid, Marie will mich an der Theke, jetzt gleich.

[…]

Marie will mit mir über Männer, das heißt: über issues reden, sie fährt mit ihrer Hand: sie rückt ihren BH-Träger zurecht, das heißt: etwas weiter in meine Richtung. »Wir folgen doch alle nur unseren Trieben«, sagt Marie, »wollen Jäger«, sie wolle endlich mal wieder gerissen, »sind Gejagte«, und ich denke an meine, denke an deine SPUREN, Marie greift an ihr Glas, Marie macht Einkerbungen, die Griffe des Barkeepers: TRAMPELPFADE, sie hinterlassen schwitzige Abdrücke und mir wird schlecht.

[…]

Ich denke an das SCHNEETREIBEN, an dein Schultergelenk, denke an den Eingriff um drei in der Früh, denke an: den langsamsten Moment.

[…]

Marie denkt mit mir an seinen Schwanz, »einfach wirklich gut war das«, sagt sie, lässt mir, lässt sich nachschütten, fragt: »An wen denkst du?«, fragt: »Hat er auch einen guten?«, aber Marie weiß nicht, wie es um mich steht, fragt den Barkeeper: »Trinkst du auch einen mit?«, Marie hat keinen Schimmer von dem Problem jedenfalls und ich sage ihr, dass du gute Finger, beschreibe ihr deine Fingermaße und Marie lacht über mein Längen-, lacht über mein Zahlenverständnis, lacht über mein leicht flaues Verdrehen, Marie lacht den Barkeeper und seine Handgriffe, sie fährt sich über das Schlüsselbein, geht sich an den Hals, Marie hängt sich an der Kinnlade und ich: unterdrücke den Brechreiz.

[…]

Man spricht da von Geocaching: im GRENZBEREICH.

[…]

Maries Träger hängen an den Oberarmen, der Barkeeper schickt sein Blut an alle LÄNGEN- und BREITENGRADE, Maries Beine liegen frei, Marie eröffnet SPIELWIESEN und ich suche nach FLUCHTWEGEN, ich sollte mich den Druckstellen entziehen, vor uns stehen 3x Baileys und Marie setzt an.

Da ist ein Tropfen in ihrem Mundwinkel, wenn man Marie etwas sagt, dann bedeutet das: Marie klappt sich auf, sie zieht sich auseinander, dann denke ich daran, wie es mir den Hüftknochen zerrissen, wie da noch immer eine DRAINAGE, noch immer der Muskelkater, dass da noch immer die Taubheit auf dem Schienbein.

[…]

Wir betrieben: FELDFORSCHUNG, du: hast umgepflügt (unter anderem), an der Theke gilt: ein Schluck mehr ist gleich ein Schritt weiter, ein Schluck mehr ist gleich die Frage nach dem Richtungsfaktor, aber auch Marie und der Barkeeper haben nicht über die Spielregeln und niemand hier weiß also, jeder hier weiß: es wälzen sich nur mehr alle Instinkte im Licht der Likörvitrinen.

[…]

Am Nachbartisch reden sie über rechte Winkel, ich kann Marie schon auf ihm sitzen sehen, ich befürchte: WINKELGESCHICHTEN und weitere strategische Unfälle, beim nächsten Mal sollte ich die Nullpunkte abgleichen, ich hätte um drei in der Früh, hätte im Schneetreiben nach Ersatzteilen, nach KOORDINATEN fragen sollen.

[…]

Der Barkeeper streift umher, ein Schluck mehr ist gleich und er macht sich groß, er hebt das Bein, der Barkeeper pisst Marie an den Stuhl, die Bar als sein Binnenmeer, er und seine Karte, ungeklärt, ob hier an einem Sammelband gearbeitet, ob wir uns schon im Index befinden.

Weiter: Der langsamste Moment war unter zwei Sekunden lang.

[…]

Marie nimmt Anlauf, das ist gleich ein Schritt weiter und ich stoße auf und mit dem Ellenbogen gegen die Gläser, mich beschleicht: dass der Barkeeper sich bereits in sie, er will ihr an den Null-, will sie an den höchsten Punkt, sie triefen bereits und er lässt alles überlaufen, lässt sie beinahe draufgehen, ich weiß: Frost kann Ursache sein, ich zähle: drei, sie erleiden Rohrbruch, zähle: zwei, ob man sich aus diesem Manöver noch hinaus, ich bin bei: eins und dann muss ich kotzen.

[…]

Man könnte sagen: dass Gelenke als SOLLBRUCH.

[…]

Zwölf Stunden später sagt Marie: »Du warst ganz schön drüber«, sagt: »Er hat dann gewischt für dich«, und Marie lacht, also lache ich mit, das dauert unter zwei Sekunden, »sein Schwanz«, muss Marie doch sagen, »über vierzehn Zentimeter«, sollte sie doch eigentlich, aber sie sagt nichts und dann sage ich: »Die Heizung steht noch auf drei«, die Tropfen immer noch nur von mir und ich frage: nach meinem Kleid, erkläre: dass der einzige sich außerhalb der Erde befindende aktive Geocache auf der ISS versteckt ist.

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Nele Ziemer

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freiVERS | Markus Kloimwieder

An die Nachgeborenen, reloaded

Brecht schreibt
Neunzehnneununddreissig:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Auf FM4 ein commercial für die Kronenzeitung.
Später dann werden die Weltnachrichten
abgelassen.
Die Sportnachrichten sind Best of Breed.
Der Baum im Hof tropft
nach dem Regen.

Wir sind keine Zeitgenossen.
Keine Widersprüche, nur Ergänzungen.

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Markus Kloimwieder

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freiVERS | Dorina Marlen Heller & Sofie Morin

bachmann*brennt*immer

ein lyrischer Funkenflug zwischen Dorina Marlen Heller und Sofie Morin

 

*bachmann brennt*

sie brannte in der nummer 66
sie ist dort verglimmt wo
man den tiber schon riechen kann
jeden tag der boccanera in den
schwarzen schlund gestiegen
treppe rauf treppe runter
immer die wörter im kopf
die wörter im mund
immer im wettlauf mit der
verhassten gestundeten zeit
im traum wieder an den gittern gerüttelt
seine hände halten sie nicht
schon lange nicht mehr
morgens für den ersten rauchlungenzug
den kopf auf die via giulia gebeugt
ein paar häuser weiter der wutgesang delle donne
no alle isteriche nel movimento
no algioca di potere fra donne
sie nimmt noch einen zug
glühende asche auf den küchenboden
heute nur ein brandfleck
morgen
brennts.

.

Dorina Marlen Heller

.

.

denn eine brennt*immer

und längst ist nichts gelöscht
was nur so scheint
wie wir und wir und
unsere brandgefährlichen Reden
Das sind all unsere Todesarten
heute oder war es gestern
morgen bestimmt immerdar festgelegt
auf den HöllenschlundzwischenunserenBeinen
dunkle Erdteile wie Venus
die uns bewohnt uns insbesondere
wie Rausch und Sperrung im Mund
In einer Zeit von unregelmäßiger Bedeutung
schrieb sie und sie beschrieb sie
auf dem Spielfeld Sprache fraglos zumutbar
Erklär mir: Leben
Denn kein treffenderes Blatt schwamm je
einer Mündung entgegen
nicht eines darunter das nicht Bläue gewesen wäre
Und was wenn es nicht mehr reicht
aus dem Zimmer zu gehen
wenn das Ersticken bereits anfängt?
Denn irgendwann reicht es
Nicht mehr.

.

Sofie Morin

 

Ingeborg Bachmann verbrannte am 17. Oktober 1973 in ihrer Wohnung in Rom, in der Via Giulia Nr. 66.

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freiTEXT | Marie Schwarz

Großmutter

Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Melodie. Meine Schuhe hinterlassen einen Schmutzstreifen auf dem Flur. Ich denke mich neben Dich mit deinen klackernden Ledersohlen. Pferdeleder, Ostpreußen, Lasagne. Ich stehe hinter dem Haus meiner Großmutter.

Die Handschuhe deiner Großmutter sind in der Tomatensauce ertrunken. Im Exil habe deine Großmutter sie genäht, hast du gesagt und dich verschluckt. Im bayrischen Exil hat sie unent-wegt Handschuhe genäht, sagte dein Vater. Dein Vater hat unentwegt Egerland-Postkarten bei Ebay ersteigert. Drei, Zwei, Eins, Meins. Einmal im Jahr zog sie die Tracht an. Ich hatte die kleinsten Hände. Ich trage die Handschuhe.

„Bist du wiedergekommen?“ Du hast damals es leise vorgeflüstert und dann nicht gesagt. Ich habe Bauchfrei getragen und die Katze gestreichelt. Ich sagte, sie ist tot, die Beerdigung ist nächsten Samstag. Everything was forever, until it was no more. Dein Beileid passte dabei sowohl auf unsere gerade vollzogene Trennung als auch den Tod meiner Großmutter. Auf der Beerdigung war ich nicht, es gab wohl wenig Tränen und viel Kuchen. An dem Samstag hielt ich einen Vortrag zur Unmöglichkeit der Erinnerung an die Leningrader Blockade in der spät-sowjetischen Literatur. Dort verkommt die Erinnerung zu einem rostigen Nagel. Nachts rufe ich Dich an, wirst du etwa sentimental, fragst Du. Ich sage, in Paris gab es einen Terroranschlag. Diese Novembernacht ist nun drei Monate her, unserer Trennung dreieinhalb. Meine Großmutter ist genauso lange tot wie unsere Beziehung. Die beiden Daten wachsen miteinander.  Heute Nacht stehe ich im Garten meiner Großmutter und sollte weinen. Ich kann nicht schlafen. Ich denke an den Streuselkuchen, den es am Sudetendeutschen Tag gab. Die Unvollendeten. Es wurde ein Film gezeigt, in dem fordert der vermeintliche Enkel die Zuschauenden auf, zu Versöhnung auf. Im Hintergrund Marschmusik. Nach dem Film wurde der Streuselkuchen von allen Seiten gelobt. Meine Hände sind kalt und die Handschuhe liegen in der Garage, nass vom Gartenschlauch. Die restliche Tomatensauce bildet eine Kruste um den Zeigefinger herum. Inventur. Ich frage mich, ob das hier mal damals sein wird. Ich habe eine Zigarette, aber kein Feuerzeug und das Bild funktioniert nicht. Zurück im Bett drücke ich mit der Zunge die Beiβschiene gegen den Oberkiefer. Die Zähne reiben aneinander, der Kiefer knirscht. Ich versuche die Schiene durchzubeißen, die Zunge gerät zwischen die Fronten. Ich verliere die Fassung. Contenance hat meine Großmutter bewahrt. Aus dem Frankreichurlaub hat sie uns Streifenpullover mitgebracht, stets eine Nummer zu groß. Französinnen seien zierlich. Es dauerte 3 Jahre bis ich in den letzten Pullover hineingewachsen bin. An der Wand eine gelb-orange Tapete mit knallbuntem 70er Jahre Muster. Deutsches Schweigen. Diesen Kampf hatte sie verloren. Ich gehe ins Bad. Früher bin ich immer gerannt, damit mich niemand fangen kann. Im Bad öffne ich den Schrank mit der angehorteten Nivea-Creme Sammlung. Der Krieg meiner Großmutter fand vor allem in einem Operationssaal statt, in dem sie sich übergab, als sie ein Auge freilegten. Danach stiefelte sie durch Straßenbahnen und wer sich nicht benahm, kam nach Dachau. Davon haben wir nichts gewusst.

Gegenüber war früher immer der Acker. Acker und Wald. Seit Jahren aber drei Sparkassen Fertighäuser. Die vergisst man gerne, weil der Acker dann nichts mehr erzählt. Du warst nie hier. In deiner Zeit war das Haus verkauft und meine Großmutter war in eine Seniorenparka-nalage gezogen, in der sie Französischunterricht gab und tadelte, wer keine Vokabeln lernte. Mein Pappmaché-Engel stand auf dem Schreibtisch. Wir waren beide schlank und haben viel gelesen, das hat gereicht und nach persönlichen Befindlichkeiten fragte man nicht. Ich drehe am Radio, ich will noch eine rauchen, die Idee mich beim Rauchen von außen zu betrachten. Deutschlandradio, Sendung mit Hörerbeteiligung, dann Seehofer und wir hatten ja nichts: „Sollen wir doch Merkel wählen?“ Helga Schmitt aus Verden ruft an, bloß die Merkel nicht hängen lassen. Menschliche Fehler und waren die Vertriebenen eigentlich Flüchtlinge, ach ne, sagt Frau Schmitt, man sprach ja Deutsch. Die Radionacht hat schon angefangen und wenn ich den Schnaps schnell trinke, dann brennt er nicht. Ich öffne die Schränke, es ist nur noch Cognac da. Als wir 16 waren, haben Johanna und ich mal Cognac getrunken, er war in einem hohlen Buch, wir haben dabei gekichert und sofort wieder geflüstert. Später sind wir auf dem Sofa eingeschlafen. Uneingelöste Sehnsüchte, an die wir glaubten und später blieb davon nur der halbe Mut nach dem letzten Wodka. Ich schenke nach, meine Hand wird lockerer, sie schwenkt den Cognac herum, irgendwas an diesem Bild muss mal etwas versprochen haben. Ausbruch, Rückkehr, Schatten. Ich wandere durch das Haus, nur keine Eile, im Takt bleiben. Ich fahre über das Klavier, ich habe es nie wirklich spielen gelernt. Als Kind habe ich ihren alten Kochbüchern gelesen, mir die Familien gedacht und versucht die Bilder aus den Fotoalben mit dem gebackenen Kalbskopf zusammenzubringen. Ich helf dir kochen. Meine Großmutter konnte nicht kochen, sie konnte nur lesen. Sie blieb die Fremde, auch als sie wieder zurück war. Etwas besserer haben sie im Dorf gesagt, immer in Ehrfurcht vor der Aktentasche. Als ich im Bett liege und den Ring, ihren Ehering ablege, wird mir ein wenig übel. Meine Leerstelle ist nicht das Kind aus der Minenarbeiterfamilie oder die Rückkehr ins nirgendwo, aus Montpellier zurück in die deutsche Provinz, nein. Meine Leerstelle ist ihre Verzweiflung. Mit drei Kindern stand sie auf der Beerdigung, seinen Namen hat sie vorgeflüstert und nicht mehr genannt, weitermachen als ob Nichts sei, Wodka ist wie nichts. Ich habe gelernt, dass man ihn nur schnell genug trinken muss. 40 Jahre blieb sie allein. Es schickte sich nicht, sie als Witwe in eine Runde aus Ehepaaren einzuladen. Von Begierde kein Wort. Ich versuche mich zu erinnern welche Berührungen mir von dir bleiben und warum alles außer deinen Handgelenken verschwimmt und ob in 40 Jahren überhaupt noch ein Rest bleibt.

Ich wache mit trockenem Mund auf, ich bleibe liegen, der Kopfschmerz oberhalb der Schläfe. Die Übelkeit wandert langsam durch den Magen. Erst als sich die saure Galle mit der Spucke unter die Beißschiene schiebt, stehe ich auf.  Es ist noch zu früh. Draußen liegt Reif auf die alten Friedhofsfiguren, die sie sich in den Garten stellte. Es war eine Kollektion, Kindergrabengel waren oft abzugeben. Ich friere, weil mir von der Heizungsluft wieder schlecht wird. Einmal habe ich dir gesagt, dass es erst kalt ist, wenn die Milchpackung auf dem Fensterbrett gefriert.  Es wird ein Turbantag werden, an denen der Kopf fest eingepackt ist in Vergangenheit. Es ist kalt. Ich werde Brötchen holen gehen, die kalte Luft besänftigt den Kopf. Auf dem Rückweg werde ich am Wald kurz stehen bleiben, wo ich spazieren war, als meine erste Periode einsetzte. Alles nicht brauchbar, alles vorbei. La mère est morte. Ihre letzten Worte. Die Dichter lügen. Meine Großmutter hat Oden gelesen, keine Fahrpläne. Und meine geliehenen Worte erreichen das Schweigen nicht.

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Marie Schwarz

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