Es war gut

„Mama, was ist das für ein Wort?“

„Oh, Jule, nicht schon wieder! Wir müssen gleich los!“

„Mama, sag‘ mir, wie das Wort heißt!“

„Jule, hör‘ auf damit! Ich hab‘ keine Zeit!“

Ich schloss das Album und legte es in eine der Kisten mit der Aufschrift „behalten“. An solche und ähnliche Dialoge hatte ich mich erinnert, als ich die Fotos aus meiner Vorschulzeit sah. Ich wollte so gerne lesen lernen, doch meine Mutter fand mich anstrengend und dieser Wunsch für ein Kind meines Alters war in ihren Augen nicht normal. Ich sollte lieber mit der Puppe spielen, in die man oben Wasser goss, das unten als Pipi wieder heraus kam oder als Tränen über die runden Wangen kullerten. Die war sehr teuer gewesen und ich war das einzige Kind in unserer Umgebung, die solch ein Spielzeug besaß. Meine Mutter hatte an der Puppe bestimmt mehr Freude als ich, schon um den Anderen zu zeigen, was sie als alleinstehende Frau ihrer Tochter bieten konnte.

„Die Anderen“ waren wichtig, das begriff ich ziemlich schnell. Sie waren die Instanz, vor der ich mit meinen Taten bzw. Nichttaten zu bestehen hatte. Meine Mutter war sehr auf Außenwirkung bedacht; schrieb ich in der Schule eine Fünf, durfte das keiner erfahren, bei einer Eins hingegen ging sie damit regelrecht hausieren, was sie in den ersten sechs Schuljahren auch ausgiebig tat; die Jahre danach muss sie oft sehr erschöpft gewesen sein von all den aberwitzigen Geschichten, die sie über mich verbreitete, um die für sie enttäuschende Realität zu vertuschen.

Schönheit war für meine Mutter das Wichtigste. Als ich schon jenseits der Vierzig war, schien es für sie das Größte, wenn jemand sie fragte, „ist deine Tochter immer noch so hübsch?“ Davon konnte sie eine sehr lange Zeit zehren und – was noch viel wichtiger war – es allen Freunden und Bekannten erzählen, ob sie es hören wollten oder nicht. Dabei störte es sie nicht im geringsten, wenn ich dabei war, im Gegenteil, im günstigsten Fall nickte sie mir aufmunternd zu, im schlechtesten tätschelte sie mir die Wange, während ich mich am liebsten aufgelöst hätte. Wenn wir unter Menschen waren, raunte sie mir manchmal zu, „guck mal, Jule, dieses arme Menschenkind da hinten mit DER Nase im Gesicht“, (wo sonst, Mama?) oder „XY ist ja hässlich wie die Nacht, aber trotzdem nett!“ Übrigens glaubte sie nur zu raunen, die Leute neben uns hörten jedes Wort.

Intelligent sollte ich natürlich auch sein, aber nicht zu sehr. Frauen durften nicht schlauer sein als ihre Männer, solche Ehen waren sehr gefährdet. Ich wollte sie immer mal fragen, ob es diesen Idealstatus zwischen ihr und meinem Vater auch gegeben hätte, aber ich traute mich nicht. Sie konnte nur begrenzt über sich selbst lachen und war zudem auch recht launenhaft; ich wusste nie genau ihre Stimmungslagen einzuschätzen. Außerdem waren in ihren Augen alle zu intelligenten Frauen graue Mäuse, die plump gekleidet und vereinsamt immerzu mit einem Buch in der Hand anzutreffen waren, der Haushalt um sie herum in einem miserablen Zustand. Somit bissen meine Lehrer in der Unterstufe bei ihr auf Granit mit ihrem Rat, mich eine Klasse überspringen zu lassen.

Und einen guten Beruf sollte ich mal haben, allerdings einen, bei dem man auch Haushalt und Garten im Topzustand halten sowie genügend Zeit für den Gatten und die Kinder aufbringen konnte. Somit war eine berufliche Karriere ausgeschlossen; die Frauen in Führungspositionen würden am Ende ihres Lebens ganz alleine da stehen.

Ich hatte somit klar gesteckte Ziele vor Augen mit diesen drei umrissenen Aufgaben. Natürlich gab es meinerseits immer mal wieder kleine aufmüpfige Revolten wie z.B. meine Punkerzeit, doch letztendlich hielten diese Phasen selten lange an, da ich sie nicht aus Überzeugung lebte, sondern nur Ausdruck meines Widerstands waren.

In meiner Studentenzeit meinte ich, alle drei Punkte erledigt zu haben: Ich hatte durch Zufall das Glück, als Model für einen berühmten Modedesigner zu laufen, sah viel von der Welt und verdiente viel Geld. Ich dachte, meine Mutter würde vor Stolz schier überschnappen, doch weit gefehlt! Ihr war der Job zu unstet und sie betete zu Gott, ich möge mich auf keinen Fall in einen Mann aus der Modewelt verlieben;  die waren alle chi-chi und keine richtigen Männer. Was sie aber trotzdem nicht davon abhielt, der Welt von ihrer Tochter, dem Model zu erzählen. Als ich später einen Rechtsanwalt heiratete, war wieder alles in Ordnung.

Das war ganz nach ihrem Geschmack, denn sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Rechtsanwaltsgehilfin und verehrte ihren Chef, für den sie zusätzliche Arbeit mit nach Hause nahm, die sie abends nach den Haushaltspflichten erledigte. Ich habe mich ständig gefragt, woher sie diese unglaubliche Energie nahm, die sie bis in hohe Alter begleitete. Sie muss Ende Siebzig gewesen sein, als ich sie anrief und lange darauf warten musste, ihre Stimme zu hören. Nur so als Floskel fragte ich sie, woher ich sie denn geholt hätte. Die Antwort entsetzte mich:  Sie würde die Flurwand streichen und hätte erst vom selbstgebauten Gerüst klettern müssen, das sich über die drei Etagen zog. Auf den Maler hätte sie nicht warten wollen und mich mochte sie auch nicht belästigen; die Wahrheit war, dass ich es ihr sowieso nie gut genug gemacht hätte.

Ich habe nie einen tatkräftigeren Menschen erlebt als meine Mutter. Diese Eigenschaft erwies sich gleichermaßen als störend wie auch nützlich. Bei wie vielen meiner Umzüge hatte sie geschleppt, gestrichen, genäht und geputzt! Sie hatte ein einziges Mal geschwächelt beim Tod meines Vaters, als ich noch klein war.  Da hatte sie nach Aussagen meiner Tante mehrere Tage nur auf ihrem Bett gesessen und geweint. Aber die ihr angeborene Tatkraft setzte sich durch, denn eines Morgens schüttelte sie ihre Trauer ab wie ein Hund Wasser aus seinem Fell und stellte sich den veränderten Lebensumständen. Andererseits konnte sie mich mit ihrer Tatkraft gelegentlich überrollen, da ihr das Feingefühl und die Geduld fehlten, die diese Charaktereigenschaft optimiert hätten.

Sie erzählte oft und gern, wie schwer sie es damals als alleinerziehende Mutter gehabt hätte, nicht einen Deut mit heute zu vergleichen! Die jungen Frauen heutzutage hätten ja keinen blassen Schimmer! Wie sie sich hat abrackern müssen für die paar Kröten, von der gesellschaftlichen Akzeptanz mal ganz zu schweigen!

Diese Geschichte brachte sie aus zwei Gründen zu Gehör, einmal natürlich, um Bewunderung zu bekommen, in fröhlichem Ton erzählt, was auch immer zum gewünschten Ziel führte, zum zweiten, um mich demütig und dankbar zu stimmen, wenn ich sie wegen irgendetwas kritisierte, dann allerdings in jammerndem und anklagendem Singsang. Ich wollte ihre Lebensleistung auch keinesfalls kleinreden, aber ich glaubte ihr nicht. Sie hatte es aus dem einfachen Grund nicht so schwer, wie sie es gern schilderte, weil sie solch ein unglaublich kraftvoller Mensch war! Der sein Leben mit links meisterte, ob nun mit oder ohne Mann. Meine Mutter schien mir immer „unkaputtbar“.

Es gab zwei Gemütszustände in ihrem Leben, die mindestens so stark waren wie ihre Tatkraft: Ihre Liebe zu mir und ihre Angst vor Krebs. Letzteres zwang sie regelmäßig in die Knie und sie schaffte es leider nicht, diese unbegründete Furcht vor mir zu verstecken, so dass ich schon als kleines Kind davon überzeugt war, in nicht allzu weiter Ferne Vollwaise zu werden. Das war grausam und als ich alt genug war, um ihre Hypochondrie erkennen zu können, war ich einerseits unfassbar erleichtert, andererseits hasste ich sie dafür.

Ihre Liebe zu mir war wie eine Naturgewalt, ein Vulkanausbruch. Nicht selten sprang sie unvermittelt bei Tisch auf, um auf mich zuzustürzen und mich in den Arm zu nehmen, zu küssen und zu beteuern, wie lieb sie mich habe. Meist brachte ich nur ein schales „ich dich auch“ heraus, als Kind wie als Erwachsene; sie verwirrte mich damit, aber etwas in mir genoss es auch. Und sie konnte wunderbar trösten. Beispielsweise als ich mich von meinem Rechtsanwalt getrennt hatte und selbst todtraurig darüber war, stand sie vor meiner Tür und wusch mir erst mal den Kopf, wieso ich das sichere Nest verlassen hätte, es sei doch nirgends überall Sonnenschein etc. … Hatte ich die Standpauke erst einmal überstanden, begann das Paradies: Sie steckte mich ins Bett, orderte Schlaf an, bekochte mich, las mir vor und wiegte mich wie ein Baby. Nach angemessener Zeit hieß es dann, „Jule, das Leben geht weiter, pack es an!“ In solchen Momenten fand ich sie wunderbar.

Jetzt stand ich in ihrem Haus und ich hatte mich davor gefürchtet, weil ich wusste, dieses Mal würde es das letzte Mal sein. Es tat weh zu sehen, wie die Möbel verschwanden, die Räume kahler wurden, ihre Sachen in Kisten wanderten. Furcht vor den Erinnerungen, den schlechten wie den guten, Angst nicht verzeihen zu können oder zusammenzubrechen.

Bei alledem machte sich trotzdem eine Erkenntnis in mir breit: Das Leben mit meiner Mutter war gut gewesen. Es war gut, Mama. Und das hätte ich dir gerne noch sagen wollen.

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Angela Ahlborn

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