mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft

mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft

Winter 2022

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INTRO

Wir wohnen seit zehn Jahren im bedruckten Papier.
Literaturzeitschrift.
Eine Zeitschrift mit Zukunft.
Hier wollen wir alt werden.

Man macht das eigentlich nicht, aber wir hoffen auf Milde aufgrund unseres Alters: Wir haben uns für diesen Einstieg einer Textstelle von Pia Schmikl (S. 20) bedient und an unsere Situation angepasst. Es ist nämlich so, dass wir dieser Tage das zehnjährige Jubiläum der mosaik1 feiern. Und es ist auch so, dass wir traditionell lieber nach vorne als zurück blicken. Vor zehn Jahren haben wir das nicht gemacht: Niemand hat sich überlegt, was wir dereinst beim 10-jährigen Jubiläum wohl machen sollen. Und so feiern wir unseren ersten runden Geburtstag etappenweise: In dieser Ausgabe findet ihr ein paar wenige, ausgewählte Texte, die uns besonders in Erinnerung geblieben sind. Im Herbst werden wir mit euch allen gemeinsam ein mosaik-Fest feiern. Und dann fällt uns sicher noch weiterer Jubiläums-Schabernack in diesem Jahr ein.

Und gleichzeitig blicken wir weiter in die Zukunft – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es warten spannende Projekte auf uns: Bücher, Kooperationen und neue Ideen! Aber gleichzeitig hat sich auch nach zehn Jahren wenig an der prekären Situation des Projektes mosaik geändert. Wir arbeiten gerne und nur von Idealismus getragen – hinterfragen diese Praxis aber immer öfter und fragen uns, wie es weitergehen kann.
Bevor wir jetzt aber selber zum Partycrasher oder zur Spaßbremse werden, wünschen wir euch viel Freude mit dem neuen Heft. Aber nicht vergessen: „Lesen ist eigentlich asozial.“ (Stefanie Stegmann, S. 82)

euer mosaik

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Inhalt

Spezial: 10 Jahre mosaik

Stell dir vor, du kommst nach einer Lesung ins Gespräch: Was es bräuchte, wäre eine stärkere Förderung junger und neuer Autor*innen, am besten mittels einer Zeitschrift! Man beschließt die Gründung einer solchen. Gefühlt drei Tage später feiert man das 10-jährige Jubiläum.

Wir sind keine großen Freund*innen von Sentimentalitäten, aber wir erinnern uns in dieser Ausgabe sehr gern zurück, haben Wegbegleiter*innen des mosaik gefragt, an welche Texte sie sich erinnern, welche hängen geblieben sind – und präsentieren eine nicht repräsentative Auswahl auf den ersten Seiten. Nur original auf kariertem Papier (wie bei mosaik1). Viel Freude mit dem bisschen Nostalgie.

Wellengang oder Geflüster

Pia Schmikl – Ein Fisch kennt keine Angst vor dem Ertrinken
Georg Großmann – Altokumuli | Einige Pilzarten
Stefanie Nebenführ – Das Haus
Sigune Schnabel – Kindheit
Giovanna-Beatrice Carlesso – Der Hase rennt

dringende seelenstoffe

Elke Steiner – ich schenke dir mein natternhemd
Christina König – Gegenüber
Jimmy Brainless – Der Eiswürfel
Ronja Lobner – mein letzter rest

halb Wunschvorstellung

Leo Lemke – Der Wasserwandler
Signe Ibbeken – Kurz vor Glücksstadt
Hannah Beckmann – Dunkel, Linie, Dunkel
Vera Hohleiter – Fundstücke
Anja Bachl – Kaleidoskop

Kunststrecke von Ursula Wimmesberger
BABEL – Übersetzungen

Miklós Radnóti, geboren am 5. Mai 1909 in Budapest, war ungarischer Dichter jüdischer Abstammung. Sein Werk war beeinflusst von der tschechisch-ungarischen Avantgarde und dem französischen Expressionismus. Seine Tätigkeit als Handelskorrespondent im Unternehmen seines Onkels legte er 1930 nieder, um Ungarische
und Französische Philologie zu studieren. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband ‚Pogány köszöntő – Heidnischer Willkommensgruß‘.

Der zweite Gedichtband wurde aufgrund des Vorwurfs der Obszönität verboten und brachte ihm beinahe eine Haftstrafe ein. In den frühen 1940er Jahren wurde er zur Zwangsarbeit eingezogen und schließlich nach Bor im heutigen Serbien deportiert. Bei einem Gewaltmarsch Anfang November 1944 kollabierte er nahe der österreichisch-ungarischen Grenze und wurde mit 21 anderen Mithäftlingen hingerichtet. Sein Leichnam konnte später in einem Massengrab identifiziert werden. Bei sich trug er ein Notizbuch mit seinen letzten Gedichten. Darunter den hier vorliegenden Zyklus ‚Razglednicák‘.

Miklós Radnóti – Homály / Dämmerlicht
– Két karodban / In deinen Armen
– Razglednicák / Razgledinicen

[foejәtõ]

Wo findet (denn eigentlich) Literatur statt? Im Kulturteil setzen sich diesmal gleich mehrere Texte mit möglichen, neuen und sinnstiftenden Orten der Literatur, von Lesungen, von Gesprächen über Kunst auseinander: Raoul Eisele bewandert den urbanen Raum, Hartmut Hombrecher und Martin Peichl beleuchten jeweils innovative Ideen und Umsetzungen von unabhängigen Lesereihen, Stefanie Stegmann berichtet im Interview von ihrer zwischen/miete – Lesungen in WGs!

Kreativraum mit Friedrich Rücker

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freiVERS | Hatice Acikgoez

an meine hijabis

als meine beste freundin in der sechsten klasse
mit einem kopftuch in die schule kam
sah ich die blicke der anderen

ich bewunderte sie
wie konnte sie so stark sein
und diesen blicken standhalten

ihre tage änderten sich
sie bestanden nur noch
aus einem steten erklären ihrer entscheidung
aus stetem rechtfertigen
aus stetem zerstören von vorurteilen

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irgendwann wandelten sich die schockierten blicke
und füllten sich mit hass
bis ein junge ihr den hijab vom kopf riss
und ihr dunkles haar für jeden sichtbar wurde

als er lachte
und sie voller angst und scham
ihre haare bedeckte
änderte sich erneut etwas

ihre tage bestanden von nun an
aus steter vorsicht
aus dem beklemmenden gefühl
dass ihre entscheidung zur verhüllung
andere belästigte

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seit diesem vorfall sind einige dinge geschehen

in frankreich gilt bedecktes haar
als zeichen des terrors
in österreich dürfen mädchen
nicht mehr über ihre kopfbedeckung bestimmen
und die schweiz verbietet das verhüllen in der öffentlichkeit
denn eine solche verhüllung sei extrem

und nun hat auch deutschland etwas bestimmt
hijabis wie meiner mutter
meiner schwester
und meiner besten freundin aus der sechsten
die jobchancen genommen

versteckt hinter der phrase neutralität am arbeitsplatz
versteckt hinter dem wort freiheit

denn was ist freiheit
wenn nicht eine starre definition
der weißen masse

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Hatice Acikgoez

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freiTEXT | Hatice Acikgoez

Die modifizierte Frau

7 Uhr. Wie jeden Morgen klingelt mein Wecker, den ich seufzend ausstelle. Neuer Tag im alten Leben, das mir nur zuwider wird. Ich stehe auf, sammle die Kleidungsstücke, die wie explodierte Fetzen auf dem Boden verteilt herumliegen auf und ziehe sie mühsam an. Alles wird anstrengender mit der Zeit, wenn man das Leben nur lange genug hasst. Ich laufe ins Bad, pinkle halb neben die Schüssel und springe unter die Dusche. Der fehlende Duschvorhang macht sich jedes Mal durch die Wasserspritzer auf dem Boden bemerkbar. Nach der Dusche steht mein Bad vollkommen unter Wasser. Mir egal.

Schüssel, Müsli, Milch. Löffel, löffeln, Mund. Kauen, Schlucken. Tagein, tagaus.

Wem macht das alles eigentlich noch Spaß?

Bei der Arbeit setze ich mich an meinen Computer und tippe. Nichts was ich hier tue ist von irgendeiner Bedeutung. Langeweile. Stinkende, gähnende Langeweile. Man checkt die Mails, Facebook, Instagram, Youtube, Twitter und Snapchat. Und scrollt. Und scrollt. Und dann? Bedeutungslose Leere, die einem nur vermittelt, wie wenig man wert ist. Und ein für die ganze Welt sichtbarer Beweis wie viel mehr Wert alle anderen sind.

Wieder zu Hause. Internet, Pizza, Klingel. Essen, Netflix, Duschen. Netflix. Netflix. Netflix. Netflix. Schlafen. Was für ein toller Tag.

19 Uhr. Mein Handy vibriert und ich nehme mit schnell schlagendem Herzen ab. Er ist es. Fragt, was ich heute mache. Was er denn machen will, frage ich. Ich wüsste schon, was er will.

Ich stehe auf, sammle die Kleidungsstücke aus dem Karton, die mir einst so heilig waren und ziehe sie aufgeregt an. Lässt man etwas lange genug zurück werden die Erinnerungen in unserem Gehirn durch einen Filter gezogen und sehen auf einmal fantastisch aus. Die Vergangenheit wird unschlagbar. Die Gegenwart nur eine bittere Enttäuschung.

Ich laufe ins Bad, suche die Tusche, Wimpern und Perücken zusammen.

Makeup, Gesicht, Pinsel. Malen, Verteilen. Wimpern, Zange, Tusche. Endlich wieder. Man, macht das Spaß.

Ich stehe auf der Bühne. Alles, was ich tue hat eine Bedeutung für mich. Mein Herz pocht, angetrieben durch meine schnellen Bewegungen zur Musik, meine Wangen glühen rot durch die Hitze, die Musik ist laut, aber das Dröhnen tut mir gut. An Langeweile kann ich gar nicht denken. Wie viel man auf einmal wert sein kann, wenn man sich selbst schätzt.

Endlich wieder bei ihm. Internet, Pizza, Klingel. Essen, Netflix, Duschen. Netflix. Netflix. Netflix. Netflix. Sex. Schlafen. Was für ein toller Tag.

 

Hatice Acikgoez

 

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