freiTEXT | Jürgen Flenker

Inseln

Niemand ist eine Körperschaft, niemand kann aus seiner amtlichen Haut. Die meisten halten gerade in turbulenten Zeiten an ihrem Inseldasein fest. Splendid isolation. Umso wichtiger ist es, den Stürmen zu trotzen und an ortsveränderlichen Geräten festzuhalten. Die Zentren wandern, die Peripherien sind auf dem Vormarsch. Aktuellen Wachstumsprognosen zufolge kann es auch umgekehrt sein. Mehr denn je kommt es darauf an, wo man steht. Oder fällt.

Freilich kann eine solche Entwicklung, zumal im öffentlich-rechtlichen Raum, leicht zu Verwerfungen führen. Die alten Feindschaften pflanzen sich fort, nicht zuletzt bei Stromausfall. Den Bäumen kann das nur recht sein. Zum Glück gibt es lichte Haine und Strukturfonds für Gebiete mit Entwicklungsrückstand. Nachschub durch Breitbandversorgung. Die Enge hat abgewirtschaftet, das Dickicht wird gelichtet. Überall mehr Durchlässigkeit, ausgebleichte Flecken, saubere Schnitte.

Osmotischer Austausch. Auch zwischen Ost und West. Formlose Anschreiben genügen. Abholzungen sind selten und behördlich genehmigt.
Und dennoch, allen Migrationshintergründen zum Trotz: Das Kirchturmdenken bleibt im Dorf. Der stumme Organist zieht die letzten Register der Stille, die krummen Alleen entziehen sich den Kurvendiskussionen durch Flucht. Auf den katzengebuckelten Gassen lauter Leisetreter. Flurbereinigung war gestern. In den windstillen Ecken wird am geldwerten Vorteil der Zukunft gearbeitet. Spatzen flattern über abgefrühstückte Felder und aus dem Licht, das über den Ackern aufgeht, stricken sich die Bevollmächtigten amtliche Westen mit Silberstreifen.

Ca ira!

Jürgen Flenker

Aus dem Buch ‚All over Heimat‘ (Hg. von Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg; stories & friends 2019) - Leseprobe

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freiVERS | Fabian Lenthe

Hier muss es nicht enden
Sagte sie

Und damit hatte sie Recht
Seit Jahren hatte ich keinen wahreren Satz gehört

Du könntest noch etwas bleiben
Fiel ihr ein

Oder wir verschwinden zusammen
Entgegnete ich

Du wolltest doch schon immer von hier weg
Lass uns einmal sehen wie weit wir kommen

Und wenn uns das Leben erwischt
Flüsterte sie
Dann stellen wir uns einfach tot

 

Gewidmet an Vera Freytag

Fabian Lenthe

 

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freiTEXT | Stefan Reiser

St. Marienkirchen

Wie es mir denn gehe, was ich denn so treibe, man höre und sehe ja seit Jahren nichts mehr von mir, stürzte sie bei der Hochzeit eines gemeinsamen Freundes auf mich zu. Vorigen Sonntag erst, sagte ich, sei im Festsaal des hiesigen Kirchenwirts die letzte Vorstellung meines Stückes gewesen. Ausgerechnet der Dernière sei, zum größten Bedauern des Ensembles, nicht der andernorts übliche Publikumsandrang beschert gewesen. Wo das denn zu lesen gewesen sei, sie sogleich, sie habe nichts erfahren. Lobpreisung in jeder Zeitung, auf allen Titelseiten mein Gesicht, ich darauf, wie komme es nur, dass ihr das entgangen sei? Wo sie jetzt wohne, ob in Kopfing, Pimpfing, im Ausland oder gar in St. Aegidi? Sie lachte und erzählte, wie sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann ein Haus gebaut habe, hier in St. Marienkirchen, gleich dort drüben, hinter der Kirche stehe es. „Armes St. Marienkirchen“, ich wiederum, „wohin die Post nichts mehr austrägt! Seltsam ...“, schob ich um mich blickend noch eins hinterher, „ist da nicht bis vorigen Sonntag überall plakatiert gewesen? Habe ich nicht selbst vor, neben und hinter der Kirche die Werbeständer aufgestellt?“ Kurzes Schweigen. Dann ich, bemerkend, zu weit gegangen zu sein, einen Schritt zurück; dann sie, ich solle ihr nächstes Mal persönlich Bescheid geben, wenn ich wieder etwas veranstalte, unbedingt rechtzeitig, damit sie sich von Kind und Kegel freinehmen könne; dann ich, mich wegdrehend, dass zum jetzigen Zeitpunkt an ein nächstes Mal nicht zu denken sei - ein ganzes Jahr hätte ich sieben Tage die Woche gearbeitet, ich bräuchte nun dringend eine Pause -, worauf sie ein „Aber freilich, jaja!“ erwiderte und dass wir uns nach der Kirche sicher noch sehen würden, auf einen weiteren Plausch, aber genau verstand ich nicht mehr, was sie sagte, der Abstand war schon zu groß.

Drei Jahre später, auf dem Kirtag, sah ich sie wieder. Ob alle die Ihrigen seien, sprach ich sie an und meinte drei kleine Buben, die sie, während sie sich um den vierten im Kinderwagen kümmerte, mit Wasserpistolen und Holzschwertern umkreisten. Gott, nein, sagte sie, der mit der Rüstung gehöre ihrer Schwester. Oha, Katharina – das war, wie könnte ich ihn je vergessen, der Name ihrer etwas jüngeren Schwester –, wie es ihr denn gehe, was sie denn so treibe, wollte ich wissen, und wo sie stecke, sie könne sich doch nicht einfach so aus der Affäre ziehen, während auf ihren Kleinen mit einem Waffenarsenal pausenlos eingedroschen werde, einfach so aus dem Staub machen und alle anderen, die sie brauchen und lieben, sich selbst überlassen. Ganz so schlimm sei es nicht, ich tue ihr unrecht, zumal Katharina heute mit ihrem Mann auf der Baustelle sei, gab sie zurück. Dem einzig Unbewaffneten wurde jetzt ein Häubchen aufgesetzt. „Hinterm Kirchenwirt, das zweite Haus rechts, mit der Doppelgarage, schau’s dir an.“ Außerdem habe „Tante Kathi“ in der Vergangenheit immer auf die Lausbuben aufgepasst, Tag und Nacht auf Abruf. Nun sei es an der Zeit, sich zu revanchieren. Das dürfe sie gar nicht laut sagen, aber dank ihrer Schwester habe sie in den letzten zehn Jahren eigentlich nie aufs Fortgehen verzichten müssen, trotz Kind und Kegel.

Zu alledem schwieg ich. Eine Einladung zum Grillabend lehnte ich ab, dankend, und unter Angabe fadenscheiniger Gründe. Nicht unser Gespräch vor drei Jahren, sondern der Tanzkurs vor zwanzig Jahren, als sich ihre Schwester zu einem Abbruch gezwungen sah, war mir wieder eingefallen.

 

Erschienen in: GAV OÖ (Hrsg.), X-BLATT. Heft für Literatur im Textautomaten, Nr. 5, Linz 2020.

Stefan Reiser

www.stefanreiser.com

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freiVERS | Elmar Mayer-Baldasseroni

maturiert

du sprichst druckreif
er schreibt geschlechtsreif
es glänzt morgenreif
ihr flennt filmreif
autonomie war morgen
denn deine mama weiß
wo´s langgeht.

 

Elmar Mayer-Baldasseroni

 

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freiTEXT | Barbara Rieger

Sachen von mir

Wenn du am Land wohnst, brauchst du ein Auto. Wir borgen uns das Auto deiner Eltern aus, das Auto deines Bruders und, nach seinem Schlaganfall, als er nicht mehr damit fahren kann, das Auto meines Vaters. So lange wir wollen, sagt er.

Wenn wir aufs Land ziehen, muss ich endlich richtig Auto fahren lernen. Das Auto meines Vaters hat Automatik, ich fühle mich sicher, gebe Gas. Nicht so schnell, schreist du, die Straße ist glatt, und ich spüre, wie nervös du bist, wie nervös ich werde.

Das erste, was ich mitgenommen und dort gelassen habe, war ein Wollpulli. Im Haus deiner Eltern habe ich einen Wollpulli gebraucht, im Haus deiner Eltern war es kalt, beheizt nur die Küche mit einem alten Tischherd. Warm nur der Morgen, die gespeicherte Wärme unserer Körper unter dem Tuchent und wie schwer es mir jedes Mal fiel, ihn zurückzuschlagen, aufzustehen.

Wenn du ein Haus baust, musst du früh aufstehen, brauchst du feste Schuhe, die Unebenheiten. Am Anfang gab es überhaupt keine ebenen Flächen, am Anfang war alles voller Bretter und rostiger Nägel, Sperrmüll, Gatsch und Dreck und rundherum die Berge. Später bin ich mit den abgearbeiteten Wanderschuhen mit dir auf einen Gipfel gegangen, habe unsere Namen ins Gipfelbuch geschrieben.

Das erste, was du machst: Du packst alle meine Sachen in das Auto meines Vaters. Du stellst das Auto in die Kurzparkzone vor meiner Wohnung und wirfst mir den Schlüssel ins Postfach. Ich lege einen Parkschein nach, öffne den Kofferraum, trage die Dinge in den Keller, in meine Wohnung.

Mein Snowboard. In den flachen Stücken hast du mich gezogen.

Meine Ski. Zu Weihnachten habe ich meine Ski aus dem Keller meiner Eltern geholt und mitgenommen, zu Weihnachten sind wir zum ersten Mal gemeinsam Ski gefahren, zuerst bist du mir davon, dann habe ich dich überholt.

Die alte Snowboardhose ist so weit, habe ich immer gesagt, dass ich zwei Mal darin Platz habe oder habe ich gesagt: Dass zwei Männer darin Platz haben.

Meine Softboots, eine Skibrille, eine Haube. Ich denke an unser letztes gemeinsames Foto. Wir beide in der Gondel, wir sehen fertig aus, die letzte Fahrt vor Liftschluss. Wir haben die sonnigsten Stunden erwischt, es zieht zu.

Der Wanderrucksack. Der Rucksack war zu schwer, schwerer als deiner, schwerer als der deiner Freunde, schwer, weil ich keine moderne superleichte Wanderausrüstung hatte, so wie ihr. Am Anfang wollte ich umkehren, aber du hast so glücklich ausgesehen, ich wollte dich nicht enttäuschen. Und es gab Momente, da habe ich den Rucksack vergessen, es gab Phasen, da bin ich von Stein zu Stein gesprungen und habe innerlich gesungen, es gab Momente, da hab ich gedacht, ich könnte dir mühelos folgen.

Im Rucksack meine alte Sonnenbrille. Durch die Sonnenbrille sah es immer so aus, als würde die Sonne scheinen, durch die Sonnenbrille haben wir die Berge noch stärker leuchten sehen. Auf der Hütte haben sie reihum meine Sonnenbrille aufgesetzt, du, deine Freunde, alle am Tisch. Ich frage mich, wann das Glas zersprungen ist.

Ein Müllsack mit Gewand. Ich bilde mir ein, dass ich diese Jeans trug, als wir uns kennen gelernt haben, bilde mir ein, dass diese Jeans damals meine Haupthose war. Ich frage mich, warum ich diese Jeans so schnell zur Baustellenhose gemacht habe, denke, dass ich gut aussehen wollte, am Anfang, auch auf der Baustelle.

Eine abgeschnittene Jeans, die man ausschließlich zum Arbeiten am eigenen Grundstück anziehen kann. Eine schwarze Weste, die ich für das Dorfgasthaus schick genug fand. Eine rote Kapuzenjacke mit weißen Farbspritzern. Eine Jacke, die wir im Urlaub gekauft haben. In fünf Jahren haben wir drei Mal Urlaub gemacht. Eine Jeans, die deiner Mutter gehört und Wollhauben, wie viele Wollhauben braucht ein Mensch?

Als wir einziehen konnten, habe ich meine  Shirts in den alten Kasten gelegt, der Kasten, der deinen Großeltern gehört hat und genauso aussieht. Ich sehe sie vor mir, wie sie in ihrem Fach im Kasten liegen, ein Fach darunter die alten Jeans, ein Fach darüber deine Shirts. Ich sehe sie noch immer dort liegen, obwohl dort nun ein Loch sein muss, obwohl du dort bald schon etwas anderes unterbringen wirst. Du hättest meine alten Shirts behalten sollen, denke ich, als Putzfetzen.

An den Ärmeln der Fleece-Jacke klebt Putz, ich habe sie zum arbeiten angezogen und, als es nicht mehr so viel zu arbeiten gab, zum laufen durch den Wald. Ich denke an die Fotos vom letzten Winter, wir beide im Schnee neben dem Bach, wir beide ganz in Schwarz. Nur deine Schuhe leuchten blau und das Stirnband, das meine Mutter dir gestrickt hat. Auf einem Foto stehst du hinter mir, hebst meine Arme in die Höhe. Auf dem nächsten ich auf deinem Rücken, du beugst dich nach vor, ich strecke Arme und Beine zur Seite. Auf dem nächsten hebe ich dich hoch, du lachst, lachst, bevor du fällst, bevor ich dich fallen lasse. Die Fotos, denke ich, hast du nie gesehen. Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich die Fleece-Jacke wieder anziehen werde, ich sollte sie wegwerfen, aber ich schiebe sie ins oberste Kastenfach, ganz nach hinten.

Mein Arbeitshandschuhe hast du wohl behalten.

Hausschuhe. Das erste, was ich mir gekauft habe, als der Boden verlegt war, als wir einziehen konnten.

Meine alten, löchrigen Laufschuhe. Am Ende habe ich das Auto genommen, bin ins Tal hineingefahren, habe das Auto abgestellt, bin losgelaufen, immer auf die Berge zu, bis zum Talschluss, bis zum Talschluss und dann? Habe ich mich gefragt und lange vor dem Talschluss umgedreht.

Meine Gedanken: ein Tatort. Ich weiß nicht, wann du aufgehört hast, der Hauptverdächtige zu sein.

Deine Gedanken: ein Schutzdamm.

Das Auto, ich muss es umstellen, irgendwo abstellen, ich weiß nicht, wo ich es parken soll, ich weiß nicht, wie ich ohne dich parallel einparken soll, weiß nicht, was ich ohne dich noch kann.

Deine Gefühle: Ich frage mich, ob du die Fliesen von der Wand stemmst, die wir gemeinsam verlegt haben.

Meine Gefühle: Eine Mischmaschine, Fußabdrücke im Beton, ausgesparte Stellen im Verputz.

Das Auto, sagt mein Vater später, kannst du behalten, du brauchst es jetzt, wo du am Land wohnst.

Barbara Rieger

Dieser Text ist auch Teil der erostepost Nr. 57 (März 2019)

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freiVERS | Sebastian Raho

tiefkühllasagne

wir alle wissen, wo romantik zum sterben hingeht;
alltag weiß zu gut, wie man nackt aussieht.
meine frau frühstückt heute tiefkühllasagne.
liebe ist ein fangfrage;
die dummen und ungetauften warten gemeinsam
auf große erscheinung
und bekommen dafür     sowjetrepubliken. mir reicht lasagne
sie bringt lasagne und nicken bis mittag im bett
und hören die leisen füße der schönheit panthern
er darf berühren und singen und leichtes halten
tiefkühllasagne essen, während die gourmets an gott rumkauen.

 

Sebastian Raho

 

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freiTEXT | Melitta Roth

Sie zählte ihre Schritte

Sie zählt ihre Schritte. Das hatte sie sich so angewöhnt in den fünfzehn Jahren, es geschah ganz automatisch. Drei Schritte vom Hocker zum Herd. Sieben zu Küchentür und weitere acht Schritte bis zum Sofa. Nur keinen Schritt zu viel. Sie muss gut haushalten, muss ihre Energie sparen. Nur so hatte sie überlebt: Durch Ökonomie der Bewegung. Wegen der Ökonomie haben sie sie damals auch abgeholt. Ihr Vater war ein Händler gewesen, ein kleiner Krämer im Dorf. Bürsten und Körbe und Seifen, lauter Waren für den Haushalt. Eigentlich zu wenig für einen echten Bourgeois. Genug, um ein Kulak zu sein. Genug, um die Tochter des Kulaken abzuholen. Sie  bekam 15 Jahre wegen konterrevolutionärer Umtriebe und Kulakentum. 15 Jahre ohne Briefrecht. Andere können danach nur mit einem Stück trockener Brotrinde unterm Kopfkissen einschlafen. Sie zählt Schritte. Vom Sofa zum Fenster sind es fünf. Dort verharrt sie dann stundenlang. Starrt auf den Hof. Dorthin, wo tagsüber die Metallschaukel quietscht, daneben eine Bank. Darauf sitzen die alten Weiber aus den umliegenden Häusern und knacken ihre Sonnenblumenkerne, stricken irgendwelche Schals aus grauer Wolle und tratschen. Sie will nicht tratschen. Ihre Nichte bringt ihr die Lebensmittel vorbei, so braucht sie die Wohnung nicht zu verlassen. Zu viele Schritte. Allein die Treppe hinunter auf die Straße, sieben und achtzig Stück. Sie schlurft in die Küche zählt mit, vier, fünf... am Herd bleibt sie stehen, zündet das Gas an. Ein Tee wäre jetzt gut. Sie wartet, schaut in die Gasflämmchen, betrachtet die Kacheln mit den kleinen blauen Strichen, wie Regen.

Drei Schritte, dann ist sie am Tisch. Sie trinkt ihren Tee mit Brombeermarmelade, die ihr auch Irina mitgebracht hat. Die Tochter ihres jüngsten Bruders. Ihr Bruder Aljoscha war erst 13 damals. Ihn hat eine entfernte Tante bei sich versteckt gehalten und ihn als ihren eigenen Sohn ausgegeben, das hatte ihn gerettet. Was aus den anderen geworden ist, weiß sie nicht. Vielleicht leben sie irgendwo unter einem anderen Namen. Vielleicht lebt keiner mehr von ihnen.

„Deine Tante ist etwas wunderlich,“ sagen die Leute zu Irina. Die Nachbarinnen, die Freunde und Oleg, ihr Mann.

Ja, ein wenig wunderlich mag sie sein. Kaut die Haut von der Stolitschnaja solange ab, bis nicht eine Faser Wurst mehr dran ist. Macht sich bis zu fünf Mal einen Aufguss vom selben Teebeutel. Bis er nach nichts schmeckt.

„Nimm doch neuen Tee, ich habe dir genug besorgt, sage ich ihr jedes Mal. Das ist ein ganzes Kilo, du musst nicht sparen.“ Aber nein, die Tante trinkt heißes Wasser mit ein wenig Farbe drin.

Bei dem kleinsten Geräusch schreckt sie zusammen, traut sich kaum aus dem Haus. Weiß nicht, was sie antworten soll, wenn ihr die einfachste Frage gestellt wird.
„Na, Tantchen, was hast du heute gemacht?“

Was wird sie schon gemacht haben, den ganzen Tag eingesperrt im vierten Stock. Das Radio läuft, aber Irina hat nicht den Eindruck, dass ihre Tante viel davon mitbekommt. Manchmal bleibt sie mitten im Raum stehen und traut sich nicht weiter, als wäre da eine unsichtbare Linie, ein Elektrozaun mitten in ihrer Wohnung. Harrt ein Weilchen aus und setzt dann ihren Weg fort. Zögernd mit geduckter Haltung.

Immerhin, sie kann sich noch gut bewegen. Ja, die Beine sind noch in Ordnung. Sieben Schritte bis zum Schrank, dann weitere zwölf ins Bad und neun bis zum Bett. Sie lauscht auf das Scharren in den anderen Etagen, bis es ganz still ist. Wenn sie keine Schritte zählt, hört sie ihr Herz ganz laut pochen. Heute war ein Tag. Und morgen kommt ein neuer Tag. Darüber hinaus nichts. Nur Schritte zählen.

Melitta Roth

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freiVERS | Lütfiye Güzel

Die Kameraeinstellung:
Alles bergab.
Das Trauerspiel:
Nächte ohne Entschluss,
ohne Erkennungszeichen.
Schwarzer Regenbogen mit Wut
in dreitausend Variationen,
eine schmerzhafter als die andere.
Das Jahr ist dreißig Sekunden alt
und ich habe jetzt schon Mühe.
Der Klodeckel mit Absenkautomatik
im bürgerlichen Graben aus
Brillenetuis und Nackenkissen
schlägt zu. Keine Gagspiele mehr.
Keine Spiele.

 

Lütfiye Güzel

 

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freiTEXT | Christoph Laible

So jemand

Licht zuckt auf Mamas Haut. Die Farben wechseln sich ab. Wenn das Licht weiß ist, kann ich sie am besten beobachten. Sie guckt aus ihren bernsteinbraunen Augen auf die Leinwand, wühlt in der Popcorntüte auf ihrem Schoß. Manchmal saugt sie die Lippen ein, beißt auf ihnen herum. Dann tanzen tiefe Falten um die Mundwinkel. Ich versuche jede Regung zu deuten, sehne mich nach einer Träne. Im Ausschnitt ihrer Bluse bebt der gelbe Herzanhänger sachte auf und ab. Ich habe ihn Mama zu Weihnachten geschenkt. Sie trägt das Herz jeden Tag. Ich spüre mein Gesicht, wie es pocht. Sie bemerkt, dass ich sie anstarre, lächelt mich an.

„Hm“, summt Mama.

Als der Film zu Ende ist, bleiben wir noch sitzen. Wir warten, bis sich die anderen aus den Reihen geschoben haben. Ein junger Kerl stolziert die Treppe zum Ausgang hinauf, schwingt dabei die Hüfte hin und her. Seine Freunde lachen.

Mama legt ihre zarte Hand auf meine. Sie wiegt so unendlich schwer und mit ihr legt sich ein Schleier um mein Bewusstsein, der mich nicht zu den Dingen durchdringen lässt. Als wäre das alles nicht echt, als wären wir selbst Darsteller in einem Film. Der Schleier dämmt meine Furcht vor dem Gespräch, das wir gleich führen werden. Den Brand, der bis in meine Fingerspitzen lodert, sich jeden Gedanken, jede Empfindung unterwirft.

An den Kassen im Foyer sitzt keiner mehr. Eine junge Frau mit Ohrtunneln und Nasenring putzt Röstzwiebeln von einem Stehtisch. Durch die Glasfront des Kinokomplexes sehe ich in die Nacht. Der Lichtersmog der Stadt lässt den Himmel milchig-orange schimmern. Ich stemme meinen Arm gegen die Glastür, schiebe, zittere.

Draußen ist es bitterkalt. Kippengestank beißt in meiner Nase. Im Aschenbecher neben der Glastür schwelt es. Dunkler Rauch quillt aus dem Schlitz, fließt am Metall hinab. Ich pflücke eine Marlboro Gold aus der Schachtel in meinem Peacoat, zünde sie an, ziehe kräftig. Der Rauch sticht in meiner Lunge. Mama mag nicht, dass ich rauche, sagt, sie hat Angst, dass ich krank werde. Ich blase eine Wolke in die Kälte, sehe wie Mama verbissen lächelt, fühle mich kurz frei. Als ich die Zigarette von meinen Lippen löse, reißt der Filter ein Stückchen Haut ab. Ich fahre mit der Zunge über die Stelle, schmecke ein bisschen Blut.

„Und?“, höre ich mich sagen.
„Sehr, sehr gut“, sagt Mama: „Hast du gut ausgesucht, den Film.“
„Gell, find ich auch.“
Ich lächle, versuche locker zu wirken.
„Das ist ja schon Wahnsinn.“
„Ja, so mutig. Und das zu der damaligen Zeit“, sage ich.
Wie lächerlich ich bin.
„Ein lieber Mensch, aber arm dran“, sagt Mama.
„Sie war doch glücklich am Schluss.“
„Ob so jemand wirklich glücklich sein kann.“
„Wieso denn nicht?“

Mama saugt die Lippen ein, wiegt den Kopf nach links, dann nach rechts.

„Wen findet denn so jemand? Irgendwelche mit ´nem Fetisch vielleicht, aber ´ne richtige Partnerschaft ist doch fast unmöglich. Ich weiß das auch, dass ich da blöd bin. So schlimm das auch für solche ist. Aber nur, weil man da was wegschnibbelt, wird aus einem Mann keine Frau.“

Ihre Worte schlagen mir in die Magengrube, werden zu physischem Schmerz. Ich möchte Mama ohrfeigen, schütteln, anschreien.

Ich ohrfeige und schüttle sie nicht. Auch die Worte bleiben in mir, obwohl sie schon ganz vorne an der Zungenspitze waren, alles hätten ändern können, wenn sie herausgebrochen wären, ein paar Millimeter weiter, durch den Schleier, in die Wirklichkeit.

Ich drehe mich weg. Tue, als ob ich an meinem Feuerzeug herummache, kämpfe gegen die Tränen.

„Komm, jetzt zahlen wir und fahren. Daheim trinken wir noch einen Tee.“

Ich schaffe es, eine neue Marlboro aus der Schachtel zu holen und „treffen uns im Parkhaus“ zu sagen.

Ich sehe Mama nach, wie sie zurück ins Kino geht. Wie es sie schüttelt, als sie ins Warme tritt, vor dem Parkautomat in ihrem Geldbeutel kramt. Das Licht des Foyers bricht sich in meinen Tränen. Sie kriechen warm über meine Wangen, brennen an meiner Lippe. Strahlen legen sich über Mama. Wenn ich die Augen zusammenkneife, werden die Lichtstrahlen länger und dichter, lassen sie verschwimmen.

Zitternd führe ich die Marlboro zwischen meine Lippen, zünde sie an. Das Rad des Feuerzeugs schmerzt an meinen kalten Fingern. Ich nehme einen Zug, werfe die Zigarette in den Aschenbecher. Dunkler Rauch schiebt sich unaufhörlich aus dem Metallschlitz.

Christoph Laible

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freiVERS | Maximilian Scheffold

es wird um ordnung gebeten. psalm.

bitte die sicherheitsbestimmungen befolgen.
nicht den rechten weg verlassen.
ich werde arbeitsschuhe benützen.
falsche gedanken sind fehlzündungen sind gefährlich.
ich werde einen schutzhelm benützen.
mundschutz ist unabdingbar für mundhygiene.
ich werde gerechte sprache benützen.
ihre meinung ist gefragt.
nehmen sie nichts mit.
wie auch wir am jeweiligen tag in alter tradition uns üben.
bitte anrufen.
einige kabel sind durchgeschlagen.
rufen sie bitte jetzt ihre gottheit an.
der mensch ist dem menschen mangel.
ihre meinung scheint gefragt.
leihmaschinen und zubehör sie sind beste kost für besten geschmack.
greifen sie zu.
ihre meinung scheint abgekommen zu sein.
nicht vom weg abkommen.
einübung in die mitte.
die arbeitsschuhe sind stets rein zu halten.
arbeit in die leere.
der geschmack ist stets zu putzen.
wir stehen für die hohe qualität des materials der beratung.
ihre meinung scheint uns zu gehören.
deine vision ist unsere lösung.
wir bitten dich erhöre uns.
ich werde eure gottheit benützen.
werbung mit allem was sie schätzen.
menschlich verständlich und praxisorientiert.
wir stehen für die hohe qualität der beratung durch werbung.
fehlzündungen erzeugen differenz.
ihre sprache scheint unsere meinung zu sein.
mundhygiene ist unabdingbar für den rechten weg.
ich habe an dem betrug mit teil.
es ist nur wichtig was wahr ist.
ich habe den betrug mit meiner sprache bezahlt.
die geschichte kann so oder auch anders erzählt werden.
ich weiß nicht wo mir der kopf steht.
wenn der haussegen schief hängt soll angemessenes werkzeug benützt werden.
wir stehen für die hohe qualität von leihmaschinen und zubehör.
ich werde gerechte gedanken benützen.
anarchie in schönster formstrenge folgt dem sturz in den abgrund der gleichheit.
deine kollaboration ist unsere lösung.
wir führen dich vertraue uns.
ich danke für die erfindung des verfahrens.
wie auch wir danken für die geschichte von der wahrheit.
stille wasser sind dreckig und brackig und kein fluss ist mehr möglich.
ich werde vielleicht meine augen benützen.
warnung lassen sie sich nicht durch das böse auge vom verkehrsgeschehen ablenken.
ich werde vielleicht meinen mund benützen.
ungerechtes sprechen schädigt zähne und zahnfleisch.
ich werde vielleicht mein denken benützen.
du hast probleme mensch.
das muster ist das muster.
du hast ein trauma mensch.
tiefe und oberfläche sind zugleich wahr.
da vor dem inneren auge liegt ein trauma mensch.
wir stehen für die hohe qualität der funktionellen formperfektion.
wert entwickelt sich im eigenen recht für sich.
beste werbung für besten geschmack.
die gesellschaft ist der gesellschaft hingeflüstert.
ich will die kraft benützen.
durch zerstörung steigt der wert.
ich will von dir die kraft benützen.
denken kann bei übermäßigem verzehr abführend wirken.
ich will die kraft die dir gehört benützen.
gesundheit beginnt im darm.
denn dein ist die kraft nicht länger mehr.
lachen ist sprengstoff ist sprengung.
ich werde die welt retten.
ja du wirst die welt retten.
wir sind heute für sie dienstbereit
denn wir stehen für die hohe qualität unserer beratung durch unsere gottheit.
ich werde aufrüsten in wirkmacht.
lachen ist anarchie in schönster formsprengung.
wie auch wir werden die ernsthaftigkeit pflegen mensch.
ich werde aus allen kriterien fallen.
die gesellschaft ist deutungsbedürftig wir haben einen formvorschlag.
wenn verständlich vorbehaltslose akzeptanz zur vermeidung.
ich werde meinen verstand sprengen.
das wesen ist nicht vom himmel gefallen.
ihre lösung ist unsere vision.
wir sprechen dich befolge uns.
ihr lachen scheint unsere sprache zu sein.
ich werde im kopf zu machen.
bitte anrufen ihre meinung interessiert uns.
einübung in die leere mitte ist traditionsarbeit auf und auf.
unsere gottheit ist ihre lösung.
wir zwingen dich gehöre uns.
der erbmangel ist dem menschen universum.
lassen sie uns ihn für sie ausbügeln.
der erste mangel ist lachen.
ich will ein lachen zünden.
ihre sprache scheint unser lachen zu sein.
bitte jetzt lächeln.

 

Maximilian Scheffold

 

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