freiTEXT | Friedrich Bastian
Tag der Toten
Die Musiker drücken sich aneinander, um eine Gruppe Passanten vorbeizulassen. Der Pfad, auf dem sie stehen, ist schmal, eigentlich zu schmal, aber es gibt keine andere Möglichkeit, keinen anderen Platz, der es ihnen erlaubt ihre Lieder vorzutragen. Sie versuchen sich nicht von der Enge beirren zu lassen, die Passanten geben sich Mühe, nicht gegen sie zu stoßen. Trotzdem ist es schwer auf so kleinem Raum zu spielen. Hin und wieder treffen Ellbogen aufeinander, werden Entschuldigungen gehaucht und verlegene Blicke getauscht. Die Trompeten hätten gern mehr Freiheit, ebenso die dickbäuchige Gitarre mit ihren großzügigen Rundungen. Die Musiker erdulden die Unannehmlichkeiten, indem sie die Augen schließen oder in die Ferne schauen, während sie ihre Instrumente spielen. Sie geben sich Mühe, die Enge nicht zu bemerken, sie nicht zu sehen. Gemeinsam mit der Musik fliegen ihre Blicke Über die Köpfe der Leute, nur ihre Körper lassen sie zurück in der Menge. Auf diese Art ist es leichter, so können sie besser in die Lieder eintauchen und das Gedränge ignorieren. Nur der Sänger hat mehr Platz, an ihn trauen sich die Leute nicht so nah heran. Er muss seine Arme bewegen können, wenn es dramatisch wird, muss einen Schritt vor oder zurück machen können, wenn ihn die Emotionen Übermannen. Darin will ihn niemand stören.
Der Fluss der Passanten nimmt kein Ende, es wimmelt um die Musiker wie in einem Ameisenhaufen, es kommen immer mehr Besucher und niemand scheint zu gehen. Die meisten verbringen den gesamten Nachmittag und Abend hier, bringen ausreichend Verpflegung mit. Manch einer trägt einen ausklappbaren Hocker unter dem Arm.
Die Trompeten erklingen. Mehrere Leute drehen sich nach ihnen um. Sie sind laut und schrill, Übertönen die anderen Instrumente, den Lärm der angrenzenden Straße und das Gerede der Massen.
An diesem Tag sitzen die Vögel weder auf den Mauern noch in den Bäumen. Sie warten auf den kahlen Feldern, bis es ruhiger wird und sie zurückkehren können. Die Bäume stehen starr und dürr dabei, ihre Äste leer. Der Wind mag sie nicht schaukeln oder beugen, er lässt sie ungestört zusehen. Außerdem fürchtet er sich ein bisschen, wagt es nicht, sich in das Durcheinander einzumischen oder die Leute wegzutragen.
Die Menschen liegen sich in den Armen, klopfen sich auf die Schultern, drücken sich aneinander. Gemeinsam erinnern sie sich, graben alte Geschichten hervor, um sie noch einmal zu erleben mit denen, die darin vorkommen. Noch einmal zusammen sein. Noch einmal das Vergangene mit dem traurigen Jetzt vertauschen. Mut sprechen sie einander zu, jemand macht einen Witz, weil mit Spaß alles leichter zu ertragen ist. So mischt sich Lachen in die Trauer. Schön und schaurig ist die Welt auf dem Friedhof.
Der Sänger gibt den Ton an, mit fester Stimme und großer Brust singt er Über die Mühen der Hinterbliebenen. Wie sie ihren Alltag neu besorgen, versuchen das leere Haus zu füllen und beim Essen einen Teller weniger auf den Tisch stellen. Wie sie die Toten nicht vergessen und doch vergessen müssen. Es schmerzt, trotzdem geht es weiter. Seine Stimme gibt Hoffnung, ihre Kraft hält für einen Moment alles zusammen und lässt die Leute aufatmen. Ein alter Mann kann sich im Gedränge nicht auf seinen Gehstock stützen, er verliert das Gleichgewicht und stößt gegen die dickbäuchige Gitarre. Schrille Töne mischen sich unter die Musik, aber sogleich helfen zwei hochgewachsene, junge Burschen dem Alten, ziehen ihn in ihre Mitte, weg von den Musikern und ihren Instrumenten, entschuldigen sich mit einem Grinsen und einem Lob für die Lieder, die bestens zum Tag der Toten passen.
Die Hände meiner Schwägerin greifen mich bei der Häfte, wollen mich zu der Musik bewegen. Sie möchte tanzen oder eine Polonaise anfangen. Das überrascht mich, starr wie ein Stein bleibe ich stehen und schaue sie an. Das habe ich nicht erwartet. Es scheint mir der falsche Ort, die falsche Situation für einen Tanz zu sein. Verwundert blicke ich in ihr hübsches Gesicht. Ihre Augen sind rot, glasig. Sie hat viel geweint, ist erschöpft vom Singen und den vielen Umarmungen, die nicht aufhören wollen und mit jedem Mal schwerer werden. Ihr Blick verrät Müdigkeit, aber sie gibt sich Mühe, zieht den Mund breit und hoch zum Grinsen. Keine Traurigkeit, keine Erschöpfung. Zwischen fröhlich und traurig kann man wählen oder es zumindest versuchen. Sie lacht kurz auf, greift in einen Rucksack, der auf dem Boden steht, und holt eine neue Flasche hervor. Ich lache auch.
Mehr Tequila!, Auf unseren Großvater!, Auf unsere Großmutter!, ruft sie und stößt ein Glas hinunter, dann legt sie einen Arm um mich, dreht ihr Gesicht weg von ihrem Mann, der zu uns hinüberschaut. Ich halte ihr mein Glas vor und sie fällt es mit Tequila auf. Sie hat schon zu viel getrunken, aber heute trinken alle zu viel. Wer nicht trinkt, hat kein Herz. Man kann nur zu wenig, aber nicht zu viel trinken. Auf dem Boden zwischen den Gräbern liegen die leeren Flaschen. Noch einen Schluck! Auch die Toten wollen trinken, auch sie freuen sich, dass wir alle zusammenkommen.
Kräftig ertönen die Stimmen der Mariachi-Musiker. Sie ziehen die Worte bis zur Unkenntlichkeit lang, im nächsten Moment können sie reißen und alle Umstehenden niederbrechen. Das Kreischen eines Hahns ist von jenseits zu hören, von der anderen Seite der Friedhofsmauer. Am Grab neben uns weint, schluchzt eine Großfamilie. Insgesamt vierzehn Personen. Jeder stellt Blumen und Kerzen auf das Grab, damit es schön leuchtet. Der weiße Stein ragt hervor, ruhig und standhaft inmitten der grellen Farben und Töne.
Mein Vater Pedro Páramo trank viel und schlug meine Mutter, flüstert meine Schwägerin in mein Ohr. Ihr Mann schaut noch immer zu uns hinüber, drückt die Augen zusammen und verzieht den Mund. Sie umarmt mich. Ich habe ihn trotzdem geliebt und vermisse ihn schrecklich, sagt sie und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
Die Trompeten krachen erneut durch die Luft. Die Mariachis schreien auf, wir fallen ein. Für einen Moment vibriert die Luft in der Lunge zusammen mit der Luft über den Gräbern. Sie ist kalt, schmerzt und belebt. Ein Stechen in der Brust drängt hinaus, die Geige zieht es lang, die Trompeten ziehen es fort. Es werden Blumen in die Luft geworfen, die Blumen der Toten, ihre Blüten brechen in der Luft auseinander, gehen gelb orange auf uns nieder.
Sei nicht so ernst, nimm noch einen Schluck und bring nächstes Mal deine Verwandten mit, wir wollen mit ihnen singen und feiern. Der Tequila brennt in mir, in meinem Mund und Hals, in meinem leeren Magen und leerem Kopf. Warm und matt ist er. Ich schaue mich um, will sehen, wer mir zuredet. Aber niemand beachtet mich, niemand spricht mit mir. Mir ist schwindelig, deshalb atme ich kräftig ein und aus, versuche an nichts zu denken. Mein Magen knurrt. Nimm die Hand von meiner Tochter, sie ist verheiratet, sagt er, oder ich bringe dich um.
Die dickbäuchige Gitarre setzt ein, gesellt sich zu den Trompeten und versucht etwas Ruhe zu verbreiten, versucht die Wogen der Aufregung zu glätten, aber die Stimme des Sängers überschlägt sich im Angesicht der Trauer und macht alle Bemühungen der Gitarre zunichte. Mit ungestümer Hingabe wirft der Sänger die Arme in die Höhe, lässt sie wie Luftschlangen umherfliegen. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Mit den Armen will er die Welt umarmen oder befreien. Dabei schlägt er einer dicken Frau ins Gesicht, die zu nah bei ihm steht und sich nicht vor ihm in Acht nimmt. Die Dicke ist wütend, will sich beschweren, will den Sänger anschreien und an seinem glänzenden Anzug ziehen, aber niemand beachtet sie und so wird sie im Strom der Menge einfach hinweg getragen.
Feuerwerk mit viel Krawall und Rauch donnert über uns und für einen Moment hört man die Mariachis nicht, man zuckt zusammen und schaut um sich. Die Mütter, Töchter, Witwen heulen wie Verrückte, die Männer jammern und trinken, als müssten sie sich in die Gräber legen und dürften sich nie wieder gehen lassen. Der Wind ist noch stiller als zuvor, erschrocken wie ein kleines Kind.
Friedrich Bastian
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freiVERS | Sabine Schönfellner
IMPONIEREN. Wir führen uns doch beide auf wie blöde Paviane, sage ich, werfen unsere Wissensfetzen wie Blätter vor einander in die Luft und hüpfen in unseren Worthülsen auf und ab. Aber nein, sagst du und legst deinen Kopf auf meine Schulter, außerdem machen das, glaube ich, Gorillas.
Sabine Schönfellner
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freiTEXT | Ronya Othmann
دكرت , دكرت
die unschärfen im beton, wozu wir fähig wären wenn, - ich fühle mich schuldig im anbetracht der sonne vier uhr nachmittags. die bruchkanten in dieser stadt nicht sehen, morgen, übermorgen. aufschreiben, damit ich es nicht vergesse, wenn es darauf ankommt. was weißt du schon von gesalzenen sonnenblumenkernen, von diesem staub.
dieser körnige sand fünfhundert kilometer weiter. den salzgehalt des wassers messen. da hat aber einer viel geweint. die militärhubschrauber stündlich. vögel im sinkflug. wie lange wir gelaufen sind. ich kann gar nicht sagen. unter der sonne solche albernheiten. die grenze ist nicht weit. nur eine schusslänge entfernt. woran mich das erinnert. die hügel wie festungen, berge, aber brüchig. ich habe kein wort für die schraffuren am himmel, für das was sie bezeichnen.
Ronya Othmann
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Veranstaltungen Frühjahr 2017
Herrschaften und Damschaften: Es wird Frühling! Aufbruch in ein spannendes Literaturjahr.
Offene Lesebühne für versteckte Talente, unabhängige Lesereihe für junge Autor*innen und Schreibwerkstätten zur Verbesserung der eigenen Texte. Für jeden ist im Frühjahr etwas dabei!
Wer sich einfach mal einen Überblick über das aktuelle Literaturschaffen verschaffen möchte und beste Texte von jungen Autor*innen in gemütlicher Atmosphäre mit Bierflasche statt Wasserglas erleben möchte, ist bei der KulturKeule und beim studentINNENfutter richtig. Das größte Ding aus dieser Kategorie ist wohl der Wisssenspark.
Wen die Salzburger Szene besonders interessiert und den Literaturstar von morgen als erster Live gesehen haben möchte, der begebe sich ins MARK.Freizeit.Kultur. Entweder zur offenen Lesebühne textMARKierung oder zum Lesewettbewerb Wir lesen uns die Münder wund. Die ganz mutigen können hier auch spontan das Mic selber in die Hand nehmen.
Wem das zu viel Öffentlichkeit ist, wer aber auch einmal in aller Ruhe über die eigenen Texte (oder die von anderen) sprechen möchte, der möge sich ganz unkompliziert jeden letzten Montag im Monat in die ARGEkultur zu den textgesprächen begeben.
Was das alles genau sein soll, das könnt ihr hier nachlesen: >> Veranstaltungen <<
27. März, 19:00, ARGEkultur
textgespräche
31. März, 19:30, MARK.Freizeit.Kultur
textMARKierung
u.a. mit Heidelbert.
Meld dich an: textmarkierung@mosaikzeitschrift.at
06. April, 20:00, Academy Bar
KulturKeule XXIV
u.a. mit Nora Zapf, Daniel Bayersdorfer, Carlos Reinelt u.v.m.
11. & 12. Mai, 19:30, MARK.Freizeit.Kultur
Wir lesen uns die Münder wund
Der Lesewettbewerb des Mark geht in die neunte Runde. Wir sind mit dabei. Und du?
16. Mai, 19:30, Literaturhaus Salzburg
studentINNENfutter 4
u.a. mit .neutro, Veronika Aschenbrenner, Claudia Kohlus, ORAVIN. Special Guest: JENNY.
20. Mai, 11-17, ARGEkultur
textGespräche Spezial mit Marlen Schachinger
Mi, 24. Mai, 20:00, Academy Bar
KulturKeule XXV
klein&laut – Literaturzeitschriften-Spezial
Fr, 26. Mai, 18:00, ehemalige Rauchmühle
Wissenspark
18:00 Idealismus und Kulturprekariat: Diskussion mit Vertreter*innen der jungen Literaturszene
19:30 Volker Weiß, Die autoritäre Revolte – Buchpräsentation
21:00 Nazis und Goldmund: Lecture Performance
22:30 NAMES: Live-Konzert mit elektroakustischen Stücken junger Komponist*innen
In Kooperation mit der Wissenstadt Salzburg, dem Literaturhaus Salzburg, dem Interlab Festival und der Universität Mozarteum.
29. Mai, 19:00, ARGEkultur
textgespräche
26. Juni, 19:00, ARGEkultur
textgespräche
Alle Infos hier:
>> Veranstaltungen <<
freiVERS | Carlos Peter Reinelt
Klopf a dr Himmelstür
Mama, niesch as Märkle vu mia ahe,
i kas nüm gabrucha,
S'wiad dunkl, z'dunkl zum seacha,
Mia isch, als ob i adr Himmlstüar klopf.
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Mama, tua dia Pischtol ufn Boda,
i ka se nüm daschüßa
Do kut a lange, schwarze Wolke aha,
Mia isch, als ob i adr Himmlstüar klopf.
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Klopf, klopf, klopf a dr Himmlstüar
Carlos Peter Reinelt
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freiTEXT | Elvira Santos
Senhor Valdemars Laden
Rio de Janeiro - Anfang der 1970 er Jahre
Es geschah am Freitagnachmittag. Meine Kolleginnen, die viel älter als ich waren, standen vor dem Laden im Kreis und unterhielten sich. Sie konnten sehr laut sein, wenn sie über Männer redeten. Senhor Valdemar zählte das Geld in der Kasse am Ende des Ladens. Eine Reihe von Warentischen teilte den engen Laden in zwei lange Gänge. Ich stand am Warentisch in der Mitte und sortierte Stofftiere und Puppen in Miniaturgröße.
Mama hatte mir diesen Ferienjob besorgt. Sie hatte Senhor Valdemar gefragt, ob er mich in seinem Laden brauchen könnte. „Bringen Sie das Mädchen her.“ Sie war zu Fuß nach Hause geeilt, um mich zu holen. Eine Stunde später hatten wir schwitzend vor ihm gestanden.
„Wie heißt du, Mädchen?“
Ich hatte meinen Vornamen genannt, und er hatte das Gespräch nur mit Mama fortgesetzt.
Mama hatte über ihr ganzes Gesicht gestrahlt, als wir den Laden verlassen hatten, und das hatte mich glücklich gemacht. Wir hatten den Heimweg angetreten.
„Vielleicht kannst du die ganzen Schulferien lang dort arbeiten.“
Eine Woche vor Weihnachten begannen die Sommerferien, die bis Mitte März dauerten. Ich würde drei Monate arbeiten und Geld verdienen, um meine Familie zu unterstützen.
„Mama, wie viel werde ich verdienen?“
„Wer weiß, vielleicht einen Mindestlohn.“
Die Sonne hatte um diese Mittagsstunde gnadenlos auf meinem Kopf gebrannt, und ich hatte im Schatten der Pinienbäume einer Fabrik eine kurze Pause eingelegt, kurz bevor man in unsere Straße einbog. Mama war weitergegangen. „Soll ich Senhor Valdemar morgen fragen, Mama?“
Sie hatte abrupt innegehalten und sich zu mir umgedreht. Auf ihrer Stirn hatten sich Falten gebildet. Ihre kleinen braunen Augen, die wie Mandeln aussahen, waren groß geworden. „Auf keinen Fall!“
„Und warum nicht?“
„Weil du sonst den Eindruck erweckst, dass du nur am Geld interessiert bist.“
„Ja.“ Wir waren weitergegangen. „Mama, jeder im Laden ist weiß.“
„Deshalb musst du als Schwarze ein Vorbild sein.“
Ich kehrte gerade an den Warentisch zurück, als zwei Frauen mit zwei Kindern den Laden betraten.
Die Kinder liefen wild in Senhor Valdemars Richtung. Er schien sie weder zu sehen noch zu hören. Er zählte das Geld. Sie nahmen kleine Autos von einem Tisch, spielten damit auf dem Boden und ließen sie dort liegen. Danach durchwühlten sie einen Tisch mit kleinen Dekos aus Porzellan. Die beiden Frauen, die vermutlich ihre Mütter waren, gingen bis zum Ende des Gangs, wo sich die Kinder aufhielten, ohne auf sie zu achten. Ich beobachtete die vier. Ihr weißen Kinder seid doch verwöhnt, dachte ich. Dann hoben die Frauen ein gefaltetes Wäschestück nach dem anderen vom Tisch auf und ließen es wieder fallen. Dabei lachten sie mich an. Etwas stimmt hier nicht. Ich muss euch meine Anwesenheit zeigen. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich. Lächelnd lehnte sie ab, wobei ihre braunen Haare sich bewegten. Dann nahm eine von ihnen ein kleines Höschen von einem Tisch, das ihrem Sohn passen könnte, und schloss es in ihre Hand, während sie mich anschaute und lächelte. Was hatte sie vor? Was soll ich jetzt tun? Sie machte mir Angst, aber ich musste sie zurückhalten. Mit meinem Notizblock in der Hand tat ich einen entschlossenen Schritt in ihre Richtung und fragte:
„Soll ich Ihnen eine Quittung schreiben?“ Ich hörte, wie meine Sopranstimme zitterte.
„Nein, Danke!“
Mit strahlendem Lächeln öffnete sie die Hand, winkte mir mit dem Höschen zu, schloss sie wieder darum, und die beiden Frauen verließen den Laden. Die Kinder folgten ihnen. Meine Kolleginnen plauderten und lachten laut, und Senhor Valdemar zählte sein Geld an der Kasse.
Wie konnte ich so etwas dulden? Wie konnte ich diese Frauen einfach gehen lassen? Sie schienen ihrer Sache so sicher zu sein, als ob sie damit Erfahrung hätten. Sie könnten mich an meinem Feierabend im Dunkeln überraschen und mir weh tun, wenn ich etwas gegen sie unternähme. Hätte ich es gemeldet, dann hätte der Chef denken können, dass ich mit den Frauen zusammenarbeite. Aber wo blieb meine Ehrlichkeit?
Als der Laden sich wieder füllte, arbeitete ich unkonzentriert. Bei einer Kundin, die einen Meter Wachstuch brauchte, schnitt ich nur einen halben Meter ab. Während der letzten Arbeitsstunden sammelte ich Mut, um mit Senhor Valdemar zum Feierabend über den Diebstahl zu reden. Wo sollte ich anfangen? Senhor Valdemar, ich war Zeugin eines Diebstahls. Was für ein Diebstahl, Mädchen? Ein Höschen. Nein, wie albern! Vielleicht sollte ich lieber unserem Priester unter vier Augen davon erzählen.
Gegen halb sieben fing ich an wie immer, wenn ich keine Kunden bediente, die Warentische für den Feierabend aufzuräumen. Ab und zu schaute ich zitternd auf eine große Uhr, die hinter Senhor Valdemar an der Wand hing. Als der letzte Kunde gegangen war, warf Senhor Valdemar einen Blick über seine Lesebrille hinweg durch den Laden und verkündete: „Feierabend!”
Hintereinander gingen meine Kolleginnen und ich neben der Kasse an ihm vorbei und erreichten eine kleine Tür, die zum Hinterhof führte. Ich war die letzte. Wir holten unsere Handtaschen aus einem alten Schrank, der in einer offenen Nische stand, und kamen durch die kleine Tür zurück in den Laden. Ich ließ meine Kolleginnen vor mir gehen. „Guten Abend, Senhor Valdemar! Bis morgen!“, sagte jede. Er antwortete trocken. Ich blieb stehen, blickte zu Boden und sagte leise: „Senhor Valdemar ...“ Mit einer Handbewegung unterbrach er mich: „Ab Montag brauche ich dich nicht mehr. “
„Guten Abend, Senhor Valdemar!“, sagte ich. „Bis Morgen!“
Auf dem Heimweg überlegte ich, wie ich Mama von dem Diebstahl berichten sollte. Wie würde sie auf meine Entlassung reagieren? Für den Diebstahl fühlte ich mich verantwortlich, aber wegen der Entlassung ärgerte ich mich über Senhor Valdemar. Wenn er mir zumindest einen Grund genannt hätte ... Aber das hatte er nicht getan. „Ab Montag brauche ich dich nicht mehr.“
Ich würde Mama nur von der Entlassung erzählen und abwarten, bis ich mein Arbeitsheft zurückbekäme. Dann würde ich sehen, was er dort eingetragen hatte.
In der Küche nahm ich den Henkelmann aus meiner Handtasche und legte ihn ins Spülbecken. Mama kam zu mir: „Wie war dein Arbeitstag?“
Ich zwang mich, ihr in die Augen zu schauen. „Alles war normal, Mama.“
„Was ist denn heute passiert?“
„Senhor Valdemar braucht mich nur noch bis morgen.“
Sie schloss die Augen, hob den Kopf zur Decke und sagte: „Jesus, du weißt alles.“
Am Samstag um acht Uhr, als ich den Laden betrat, wollte ich sofort mit Senhor Valdemar über den Diebstahl reden, denn ich glaubte, dass meine Entlassung damit zu tun hatte. „Guten Morgen, Senhor Valdemar“, sagte ich mit meiner großen Handtasche über der Schulter. Aber schon als er antwortete, ohne mich anzublicken, verlor ich den Mut. Während des Vormittags beobachtete ich meine Kolleginnen, ob sie mir gegenüber misstrauisch waren, konnte jedoch keine Veränderung feststellen, wenn ich mit ihnen über die Arbeit sprach, denn etwas Anderes hatten wir nicht zu reden.
„Du kannst in die Mittagspause gehen,“ sagte Senhor Valdemar. „Iss und arbeite sofort weiter!“
Ich eilte durch die Hintertür zum Hof. In der offenen Nische holte ich meinen Henkelmann mit einer Gabel aus der Handtasche und setzte mich auf einen Hocker, um zu essen. Ich öffnete den Henkelmann, stach die Gabel ins Essen und fischte ein Stück Fleisch heraus. Mir fiel ein, dass Mama beim Abendessen kein Fleisch auf ihrem Teller gehabt hatte.
Zurück im Laden entschloss ich mich, den Wert des Höschens von meinem Lohn abzuziehen. Dann brauche ich mich nicht mehr schuldig zu fühlen.
Wie meine Kolleginnen stand ich am Feierabend in der Schlange vor der Kasse, um meinen Wochenlohn abzuholen. Ich unterschrieb im Buch und bekam einen weißen Briefumschlag von Senhor Valdemar. Nachdem ich den Inhalt überprüft hatte, stand für mich fest, dass ich weder mit ihm über den Diebstahl sprechen noch den Betrag von meinem Lohn abziehen würde. Ich verabschiedete mich einfach: „Guten Abend, Senhor Valdemar!“
Als ich nach Hause kam, ging ich in die Küche, wo Mama stand, öffnete meine große Handtasche und, bevor ich den Henkelmann herausholte, nahm ich den weißen Umschlag und übergab ihn Mama. Sie schloss die Augen, hob den Kopf, streckte die Hand mit dem Umschlag gen Himmel und sagte: „Danke, Herr!“
An einem Sonntag morgen gingen wir zu Fuß in die Kirche und kamen an Senhor Valdemars Laden vorbei. Er wollte gerade in sein rotes Auto steigen. Armaturenbrett und Sitze waren mit beigem Leder überzogen. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte und hielt eine große Bibel in der Hand. Als er uns sah, sagte er zu Mama: „Das Mädchen kann morgen um acht wieder anfangen.“
„Vielen Dank, Senhor Valdemar! “ entgegnete sie mit strahlendem Gesicht, und wir gingen weiter zu unserer Kirche.
Elvira Santos
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freiVERS | Maja Loewe
Ich wäre gern ein Paar
Schuhe, die nicht
an meine Füße passen
Zwischen den alten
Gewohnheiten im Flur
trüge ich den Sand
von Sehnsuchtswegen
und meine Häute
wären rau und reich
Nachts raunten
mir die Dielen Geschichten
Und tags, da ginge ich fort
Maja Loewe
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freiTEXT | Nicolai Busch
Die unter Schutz Geflogenen
Wir sind gar nicht mehr da, aber auch noch nicht ganz tot. Nein, Moment, falsch, hier steht: Jemand habe bestätigt, wir seien nicht zu finden und daher mutmaßlich nicht mehr am Leben. Das ist ein Unterschied! Was? Nein, sagen Sie? Na, also hören Sie mal! Es ist doch etwas Anderes, ob man noch lebt oder von vornherein tot ist! Es ist doch nicht das Gleiche, wenn man flieht und dabei stirbt oder flieht und danach stirbt oder fliegt und mutmaßlich stirbt oder mutmaßlich lebt, wobei man ständig gesucht wird. Manche fliehen durchs Meer und sterben im Meer und werden weder gesucht noch gefunden im Meer und andere fliegen und sterben im Meer, aber eben nicht gleich, sondern erst, wenn wir sie wirklich nicht mehr finden im Meer. Ja, am Leben hängen wir natürlich alle, aber manche hängen vielleicht etwas mehr dran, an denen hängen wir vielleicht etwas mehr und in deren Suche hängen wir uns dann eben auch mehr rein. Also einen großen Fang der Gleichheit und Gerechtigkeit kann ich da jetzt eigentlich nicht erkennen, liebe Menschenfischer, die ihr entscheidet, wer herausgefischt wird und wer nicht. Und das obwohl sich im Tod doch sonst immer alle so einig sind. Aber der meeresgrundlegende Unterschied zwischen einem Toten und einem Toten liegt vielleicht einfach darin, dass man nach den Geflogenen sucht, während man die Geflohenen leider immer erst findet, wenn sie schon tot sind oder sie erst gar nicht finden will, weil man eben rein gar nichts an ihnen findet, nicht? Da sucht man ewig nach sich selbst und dann findet man doch immer nur den Andern, der dann aber meistens keinen Pass hat und sich nicht ausweisen kann und das obwohl er doch schon längst Vollwaise ist. Also für mich war das immer ganz verschieden zueinander, wenn auch recht ähnlich. Auf der einen Seite eben das Leben, das immer da ist, oder eben da, wo’s niemand bemerkt, auf der anderen Seite der Tod, der nur da ist, wenn wir es sagen oder, wenn wir ihn sehen wollen. Naja und dazwischen eben von Beidem ein bisschen, was wir Zeit nennen, solange wir sie haben. Manche haben gar keine und für andere vergeht sie eben wie im Flug, wenn man denn fliegt. Ganz anders im Boot, wo sie eben wie im Boot vergeht und plötzlich einfach stehen bleibt, während alle anderen sitzend sinken, ohne dass jemand den Sinkflug eingeleitet hätte, worüber man vielleicht mal in einem Sinktank, äh, ich meine in einem Thinktank, diskutieren könnte, damit sich nie irgendwas ändert. Ach, Sie denken gar nicht? Und geflogen sind Sie auch noch nie? Müssen Sie mal! Also beides, fliegen und denken. Aber am besten erst denken und dann fliegen. Oder erst fliegen und dann gar nicht mehr denken müssen. Probieren Sie’s mal! Letztlich ist es doch ein und dasselbe: Ganz viel Bewegung, die man macht, ohne sie selbst zu machen und Distanzen, die so klein werden, bis sie und Sie verschwinden. Ein echtes Ereignis, wenn auch keins stattfindet! Von A nach B und dazwischen: Nichts. Macht aber gar nichts, denn das vergeht schließlich auch. Erst ist man am Boden und dann hebt man ab und dann ist man manchmal am Boden zerstört. Oder im Meer. Ja, wer A sagt, muss auch B sagen. Hereinspaziert, angeschnallt und los geht’s! Jeder Zug gewinnt, aber eben nicht jeder Flieger und erst recht kein Boot. Ich wähle ein A und möchte lösen: Anemone. Und der drei Jahre gesuchte chinesische Herr in der Business Class mit dem Weinglas in der Hand wählt danach ein B und löst sich auf: Buckelwal. Herzlichen Glückwunsch zum Trostpreis von zweihundert neununddreißig Komma null, null und ein paar Zerquetschten inklusive der größten Rettungsaktion in der Geschichte der Luftfahrt. Sie können sich den Preis irgendwo westlich von Australien abholen. Tatsächlich waren erst im April zweitausendfünfzehn vor Italien ganze achthundert im Jackpot und obwohl wir wissen, wo Italien liegt und wer da vor Italien liegt, hat die erstmal keiner geknackt. Also den Rekord hat erst einmal keiner geknackt, nicht mal versucht hat das am Anfang jemand, nicht mal gesucht hat die am Anfang jemand, aber gezahlt haben die trotzdem, ohne was zu gewinnen. Ganz nach dem Sprichwort: Kein Glück im Spiel und auch keins im Ableben und auch keins danach. Das ist schade, aber entschädigt wird eben nur, wenn man fliegt und dabei stirbt. Naja und jetzt fliegen halt andere drauf, anstatt beim Kentern drauf zu gehen. Und wer drauf fliegt, der kann sich immerhin geborgen fühlen, auch wenn er es vielleicht nie wird. Also von gleicher Liebe und Trauer für alle kann hier eigentlich keine Rede sein. Wenn jemand ersäuft, hat das ja überhaupt in den wenigsten Fällen mit Liebe zu tun und wie die Titanic sah dieses Schlepperboot vor Italien, wenn Sie mich fragen, nun eigentlich auch nicht aus, die Boeing dagegen schon eher. Und ich spreche hier nicht von der Zeitschrift, sondern von dem Film, wobei es mit der Ironie der Massenschicksale natürlich auch nicht allzu weit her ist. Zu welcher Masse Sie, werter Leser, jetzt genau gehören, lässt sich nur herausfinden, indem sie ertrinken und spätestens da hört die Satire dann eben auch schon wieder auf, nicht? Also bei aller Liebe, aber lustig kann man das nicht finden, wenn zwei oder achthundert sich weder suchen noch finden. Liebe Anna, ich schreibe diesen Brief, denn ich fühle mich seit langer Zeit schon nicht mehr gefunden und erst recht nicht geborgen bei Dir. Wie kommt es, dass sich unsere Frequenz ständig verschiebt? Ich frage mich, ob nicht ein Flug daran etwas ändern könnte. Unsere Liebe soll ein Großraumjet ohne Sauerstoffmangel und unsere Sehnsucht nacheinander wie ein Tauchroboter sein. Bitte unterschreibe hier für eine gemeinsame Zukunft in trockenen Tüchern oder hier, damit alles ins Wasser fällt. In Liebe, fest glaubend an unsere Allianz und hoffentlich bis zur Landung, dein Reiseversicherungsberater. Naja, bei irgendwem muss man ja mal landen und wer ein Leben lang sucht, wird wahrscheinlich keins finden in Peking und noch weniger im Mittelmeer. Aber suchen kann man ja mal, solang es sich rentiert. Nach Gründen und Antworten suchen können Sie ja mal, weshalb eine stabile Aktie minus zweihundert neununddreißig Toten plus tausendsiebenundvierzig Tage gleich fünfundsechzig Millionen ergibt und eine humanitäre Katastrophe minus achthundert gleich null Komma null. Für wen sich das am Ende rechnet, können Ihnen die Subtrahierten und deren Bootsgesellschaft jetzt leider nicht mehr sagen, da müssen Sie schon die Fluggesellschaft oder die gegründete Interessengesellschaft fragen, deren Interessen eben mehr interessieren als die der Afrikaner. Die müssten das auf dem Schirm haben, auch wenn der Flieger vom Radar schon längst verschwunden ist. Die müssten das unter dem Finanzschirm haben, der die Hinterbliebenen beschirmt und die Airline abschirmt, bevor man sie verstaatlicht. Wenn Sie heute noch anrufen, lieber Leser, erfahren Sie, ob auch Ihnen eins dieser Geldschirmchen zusteht. Profitieren Sie jetzt von unserer großen Crowdfunding-Aktion! Ob auch Ihre Crowd gefunded wird, erfahren Sie nach der Auszählung und Auserwählung der Auserwählten durch die Ungerechten in den Gerichten. Naja, manchmal greift die Police eben und manchmal kommt sie erst gar nicht. In Italien ist sie jedenfalls gar nicht erst gekommen. In Italien hätte man ein ungeahntes Comeback von achthundert Toten sicher nicht mit Musik gefeiert. Da können noch so viele ertrinken, einen Klassiker werden die nie landen. Dafür fehlt denen nämlich die Landeerlaubnis und erst recht die Bordkarten, die ja überhaupt immer als erstes über Bord gehen. Und was über Bord, also über die Reling, das ist weg, aus, vorbei, verschwunden, ganz sicher, aber eben längst nicht in Sicherheit. Wobei in Frankreich mal einer gesagt hat, dass überhaupt nichts wirklich verschwindet, auch wenn es schon längst nicht mehr da ist. Alles, was fort ist, infiltriert unser Leben in kleinen Dosen, die Sie übrigens heute noch sehen können, wenn Sie der Dosenfutterspur von Lampedusa nach Lybien folgen. Oh, danke für den Tipp, aber das ist mir dann, glaube ich, doch zu weit. Verzeihen Sie, aber ich kann hier im Westen das Böse nirgendwo entdecken, obwohl es doch irgendwo sein muss. Wo so viele gute Menschen sind, die sich miteinander gut fühlen und gemeinsam regelmäßig abheben, muss doch irgendwo das Böse sein. Könnten Sie mir vielleicht sagen, für wann das Sterben im Westen heute angesetzt ist? Ach, Sie sagen, das findet hier gar nicht mehr statt? Und wenn überhaupt, dann nur noch als Folge technischen oder menschlichen Versagens, das dann aber durch viel Geld kompensiert werden kann? Hör mal, Schatz, der Mann sagt, wir müssen den nächsten Terroranschlag abwarten oder in den Kongo oder nach Syrien, wenn wir das Böse erleben wollen. Schaust du mal bitte schnell, ob es noch Flüge gibt? Achtung, Achtung, meine lieben Damen und Herren, hier spricht jetzt ausnahmsweise Ihr Autor. Ich freue mich, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben und begrüße Sie recht herzlich im Text. Unter uns sehen Sie die endlosen Weiten des Kapitals, zu dem Sie hoffentlich selbst gehören. Wenn Sie jetzt mal ganz nach rechts schauen, sehen Sie das kleine Steuerparadies und dicht daneben, direkt unter den brennenden Turbinen, quasi außerhalb der Erzählung, ein gelbes Schlauchboot mit Tauchfunktion, von dem aus ich in diesem Moment, unter uneingeschränkter psychischer Gesundheit zu Ihnen spreche. Fakt ist, dass sich unter der Ladung unserer Maschine Lithiumbatterien befanden, die in den Frachtpapieren als entzündlich gekennzeichnet waren, was sich soeben bestätigt hat. Die Stimmung im Text ist aufgrund der Batterien derzeit etwas aufgeladen und da kann es eben leicht passieren, dass ich als Schreiber, wenn auch nicht als Flugschreiber, explodiere. Wenn Sie also bisher geglaubt haben, der Autor sei nicht zu belasten, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass es mir nach wie vor schwerfällt, ein Katastrophenszenario vorzustellen, das garkeinen Faktor menschlicher Intervention beinhaltet. Lieber Leser, gestatten, dieser Faktor bin ich und bin ich eben doch nicht. Wer oder was auch immer dieses Ich ist, mir ist es jedenfalls nicht bekannt. Sollte Ihnen durch diesen Text ganz bewusst etwas zustoßen, können Sie dagegen rechtlich leider gar nichts unternehmen. Ein Unternehmen, also zum Beispiel eine Fluggesellschaft, das juristische Dienstleistungen anbietet, wird sich Ihnen aber wohl trotzdem anbieten, solange Sie es zahlen können. Manchmal liest man etwas und stößt sich daran und trägt eine Beule davon. Die Lösung wäre also, entweder den Kopf einzuziehen oder sich an die Schmerzen zu gewöhnen. Wir sitzen nun einmal alle im selben Boot, wobei manche von Ihnen natürlich im Flieger sitzen und deshalb mehr Recht auf ein Grab abseits des Meeres haben als andere. Den Grund hierfür versucht dieser Text in diesen Momenten unter Hochdruck zu finden, wenn auch ohne Erfolg. Dabei kann es passieren, dass der Druck zwischen den Worten so groß wird, dass der Zweifel Funken sprüht und wir notfalls auf die Schlauchboote umsteigen müssen. Also von einem Druckabfall an Bord kann hier wirklich keine Rede sein. Überhaupt ist so ein Zweifel wie eine Tragfläche, die es ganz plötzlich mehr oder weniger dramatisch zerreißt, während man sich eigentlich noch getragen fühlt. Und trotzdem reisen und fliegen die meisten, anstatt im Wasser zu gründeln. Trotzdem fliegen die meisten und stecken den Kopf in die Luft, wo sie am dünnsten ist, nur damit man wo war, während man war und damit man mal da war ohne zu sein. Weil in Kuala Lumpur waren die Damen und Herren ja noch da, obwohl die in Peking später nicht mehr da waren. Also wenn Sie das Auftauchen eines Körpers in einem Video einer Kamera als Dasein definieren, das Aufblähen desselben im Wasser dagegen als sein Ende, waren die Gäste in Malaysia noch deutlich da, sind dann aber nach dem Auftauchen (weiß Neptun wo) vollständig abgetaucht. Alle zuletzt empfangenen Satellitensignale deuten auf einen steilen, ausgelassenen, aber kontrollierten Absturz der Fluggäste bis in die frühen Morgenstunden. Werter Leser, hier noch ein Tipp: Entschlüsseln Sie weiter eifrig die Signale, aber suchen Sie vorher nach den richtigen. Es ist in der Vergangenheit immer wieder zur Verdrehung von Fakten und Messwerten gekommen, auch im moralischen Bereich. Einfach wird es nicht werden, aber Sie können es ja mal ausprobieren. Entschuldigen Sie bitte, ich habe viel Geld für diesen Tauchkurs bezahlt und jetzt ist das Wasser ganz trüb. Wir sehen ja gar nichts, obwohl es doch hieß, die Sicht sei eindeutig. Wie soll man denn so etwas finden, wenn man nichts sieht? Was soll man denn suchen, wenn eh alles gleich ist? Wie soll man denn auffallen, wenn einem nie etwas auffällt? Naja, versuchen Sie’s halt wenigstens mal! Aber suchen Sie nicht zu lange. Ein ganzes Leben, das wäre nun wirklich zu lang. Davon haben wir hier sowieso schon viel zu viele. Aber drei Jahre, die geben wir Ihnen, wenn Sie denn fliegen statt fliehen, bevor wir Sie aufgeben.
Nicolai Busch
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Respektlos entstellt und doch nicht zum Verschwinden gebracht wurden: Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, ein bisschen Derrida, Baudrillard und ganz viel Wikipedia.
freiVERS | Christoph S. Eberle
Fühlt ihr mit Augen? Alles ist Fenster
Das euer Sinnensurium Erreichte
Zeichen matt, mächtig, Spuk liebend wie Gespenster
Lamelllippen schnippen Schwüre, schicken Beichte seichte
Und das Wort ist Schaun, beginnt am Stamme gern zu sterben
Was wäre, könnt’ es wählen seine Erben
Ein Schatz wird verpfändet
Aus dem Brunnen steigt das Kinde
Dass Verborgenes dich finde,
dies nenne ich Empfinden, derweil
vollendet ist, wenn sich wendet
keine Wahrheit mehr in ihr Gegenteil
Christoph S. Eberle
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freiTEXT | Flamingo
Domažlice
ein traum von der bettlägrigkeit meiner mutter führt mich über hefeknödeln nach domazlice. fahrend: mein großvater mit rotem, großen kopf und schnapsporen auf seiner haut vom pokerspielen in den 1970er-jahren. im kassettenradio ist der böhmerwald und das land in dem die wiege stand und für diese kapelle mein anderer, cholerischer großvater eine kurze zeit gespielt hat. immer wieder fährt der große, runde opa in die tschechei, mit dem roten ford sierra und kauft hefeknödeln, schokooblaten und uhren. er schaut sich auf dem chinesenmarkt um und bringt von dort manchmal decken und plastikschoner für die autos seiner angehörigen. ich sitze vorne, oma muss hinten sitzen, denn ich bin das prinzchen und darf die kassette drehen. auf ernst mosch gleiten wir in den osten und an der grenze muss man halten, wo wir gefragt werden und mein opa mit seinem tschechischen nachnamen keine probleme hat, kurzfristig sogar stolz ist. doch wenn man ihn fragt, ob er ein tscheche sei, wird er ausfällig. ähnlich ausfällig wird er beim autofahren: ausgehauter hund, ausgehauter. dicke nudel, dicke. fette sau. im hotel krone in der ortsmitte von domazlice essen wir billiges schweinegulasch und braten mit hefeknödeln und ich kaufe süßes sirup in den läden und golatschen und weiche semmeln. es gibt andere zahnpasta als bei uns und kristallvasen, die den leuten dort gefallen. meine mutter ist bettlägrig zuhause, ich bin froh, dass ich laufen kann und bekomme eine weitere golatsche, die mich dickes kind noch dicker macht. ich darf nicht auf bordsteinen balancieren, mein opa hasst das und nennt mich: dummer esel, dummer. wenn jemand sagt, ich sei dick, droht ihm mein opa mit schlägen, sein kopf wird noch röter und er platzt fast auf. nur wenige jahre später sitzt er bei sehr großer hitze im stadtpark, fühlt sich seltsam und ist bald nicht mehr da. von der schule holt mich nun niemand mehr ab, jeden tag, und ich fahre viel seltener in die tschechei. nur noch mit meinem vater, der mich gängelt, der mich für ein dickes kind hält, für einen schwulen, kleinen versager und der mir zwar golatschen kauft, aber lieber eine kleine als drei große und in dessen auto ständig mike and the mechanics und peter maffay laufen und dessen weißer ford escort mit einem blauen, einem dunkelblauen und einem roten streifen laut bei 160 über die autobahn kracht, die schallmauer meiner kindheit im schwitzbauchweh erstickt, die eigentlich wissenschaftlich reisekrankheit genannt wird. zuhause liegt meine mutter, wenn sie nicht beim zahnarzt ist und gehasst wird, dann hat sie schmerzen. wenn ich keine angst vor der nacht habe, kann ich einschlafen. manchmal gehe ich noch dorthin wo mich mein opa von der schule abgeholt hat und warte und denke wir fahren in die tschechei zu den golatschen, wo sein nachname der dritthäufigste im land ist und er aber kein tscheche. mein zuhause, das ist die grenzkontrolle und das kurze stehen und warten und angsthaben ob nicht doch etwas passiert.
Flamingo
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