freiTEXT | Daniel Klaus

Kaugummis

An die Langsamkeit muss ich mich erst gewöhnen. Das ist nicht einfach. Die Minuten verrinnen mir nicht mehr zwischen den Fingern, sondern sie knoten sich aneinander, ineinander, und manchmal bleibt die Zeit für einige Momente einfach stehen, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Aber die Krücken sind ein Fortschritt. Die ersten Tage durfte ich nur im Bett oder auf der Couch liegen, mit drei Kissen unter dem Fuß und einer Packung Eis darauf. Ich bin beim Basketballspielen umgeknickt. „Schwere Bänderdehnung“, sagte der Arzt, als er sich das Röntgenbild ansah. „Das braucht seine Zeit.“ Und mit dieser Diagnose hat er leider Recht gehabt. Ich bin froh, dass ich jetzt diese Krücken habe und mit ihnen die Wohnung verlassen kann. Endlich. Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet.

Es ist gar nicht so einfach, und es dauert eine ganze Weile, bis ich vom fünften Stock unten bin. Ich achte auf jeden Schritt, den ich mit meinem rechten Fuß und den beiden Krücken mache, und nach einer Weile merke ich, dass das Laufen für die Arme anstrengender ist als für das eine Bein. Eine seltsame Erfahrung. Schließlich öffne ich die Haustür und trete nach draußen.

Es ist halb ein Uhr mittags. In Berlin leben ungefähr dreieinhalb Millionen Menschen. Vielleicht 800.000 davon halten gerade Mittagsschlaf. Es ist sehr ruhig auf der Straße. Vielleicht hängt die Stille aber auch mit der Hitze zusammen.

Ich gehe ein paar Schritte durch diese mittagsmüde Großstadtstille. Vor dem Esmarcheck bleibe ich stehen. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die gegenüberliegende Hausfassade wie ein Tourist. Ich lasse meinen Blick wie einen Aufzug vom obersten Stockwerk bis zum Erdgeschoss hinuntergleiten und steige dort mit meinen Augen aus. In der Zeitgalerie ist es dunkel. In der Zeitgalerie ist immer Winter, denke ich, selbst im Sommer. Merkwürdigerweise scheint gerade an diesem Ort die Zeit spurlos vorbeizugehen, während sich der Rest der Straße in ständiger Veränderung befindet.

Mitten in diesen Überlegungen läuft der schüchterne Nachbar aus dem Hinterhaus an mir vorbei. Mit gesenktem Kopf. Er ist der erste Mensch, den ich heute sehe. Er trägt Segeltuchschuhe und bewegt sich lautlos über den Bürgersteig. Ich blicke ihm hinterher. Kurz vor der Apotheke bleibt er stehen. Er betrachtet irgendetwas an der Wand. Ich gehe ein paar Schritte weiter, weil ich neugierig bin, und jetzt kann ich es erkennen: Es ist ein Kaugummiautomat. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen. Wie lange er wohl schon an dieser Wand hängt? Mein Nachbar kramt in seinen Taschen, holt eine Münze heraus und steckt sie in den Kaugummiautomaten. Mit einer andächtigen, fast feierlichen Bewegung, dreht er den Griff herum und hört auf das Klacken im Ausgabefach. Er wartet einen Moment, bevor er das Ausgabefach öffnet und die Kaugummis in seine Hand und von dort in ein Leinensäckchen rollen lässt, das er aus der Tasche gezogen hat. Ein Teil von ihm, sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung, erinnern an den kleinen Jungen, der er einmal war, und den ich nie kennen gelernt habe. Dann wiederholt er das Ganze.

Und wieder.

Und wieder.

Seine Bewegungen werden schneller und sicherer.

Es ist noch immer sehr ruhig in der Esmarchstraße. Wir sind die einzigen Menschen. Nur ein Radfahrer mit losem Schutzblech fährt in der Liselotte-Herrmann-Straße über das Kopfsteinpflaster. Mein Nachbar scheint tatsächlich den kompletten Kaugummiautomaten leeren zu wollen. Er steht nun vor ihm wie ein erfahrener Panzerknacker oder Juwelendieb und wirft ein Geldstück nach dem anderen hinein. Ruhig und systematisch räumt er den Kaugummiautomaten wie einen Geldsafe aus.

Mein Herz pocht. Es ist Blödsinn, aber ich komme mir vor wie sein Komplize, der Schmiere steht. Es ist niemand zu sehen. Er hat freie Bahn.

Und dann scheint er fertig zu sein.

Ich humpele mit meinen beiden Krücken zu ihm und werfe einen Blick auf den Kaugummiautomaten. Er ist leer. Ein perfekter, völlig legaler Raubzug.

„Hallo“, sage ich.

„Hallo“, sagt er und sieht mich an. Es ist das erste Mal, dass ich ihn reden höre. Er lächelt und hält mir seinen gefüllten Leinenbeutel hin: „Bitte“, sagt er. „Greifen Sie zu.“

Ich suche mir einen grünen, einen blauen und einen gelben aus. Auf einem Balkon im Haus gegenüber steht ein Windrad, das sich schläfrig im Wind bewegt. Ich stecke sie mir alle drei auf einmal in den Mund und beginne, die Farben abzulutschen.

„Die sind wirklich gut“, sage ich, die Ellbogen lässig auf die Krücken gelehnt.

„Davon träume ich seit ich elf bin“, sagt er. „Und heute, zwei Tage nach meinem 38. Geburtstag, habe ich es endlich gemacht.“

Wir stehen beide vor dem leergeräumten Automaten in der stillen Esmarchstraße. Ich gratuliere ihm nachträglich. Wir lächeln. Und zerkauen mit unseren Kaugummis die Zeit.

Daniel Klaus

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freiTEXT | Manon Hopf

wir haben noch den Schwindel einer Reise in den Beinen als wir schon im Feld stehen, aus dem tiefen Wein Erinnerungen ziehen die noch nachts in unsren Hosen halten, wüste Klettenköpfe sind am Schienbein, in den Kniekehlen ein Ziehen, Beugenwollen, wir sind groß geworden auf den Wegen senken wir die Blicke, suchen unsre Erde, unsre Gräser zwischen Kieselsteinen, Schotter, die Augen, die den Händen näher waren, jetzt ein Kopfumblicken sind, ein Sehen ohne Hand und Fuß, die Landschaft einsortierend, Nutzen, Schönheit die ein Nutzen ist der malträtierten Seelen, sie lassen sich scheuchen vom einsilbigen Kirchturmläuten durch die dünnen Gassen wächst ein Holzgeruch, im Ofen liegt die Ruhe einer schwarzen Nacht, die mit uns in dicken Jacken auf der Dachterasse sitzt, sich nach dem weißen Rücken streckt des greisen Mont Ventoux

Manon Hopf

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freiTEXT | Florian Neuner

Visions of Samuel, Teil 1

Beklemmung

Herr Samuel Lichtenbring litt seit einiger Zeit unter entsetzlichen Beklemmungszuständen und war daher nicht mehr Herr seiner selbst. Er konnte es sich nicht versagen, dauernd mit dem Fuß zu wippen, wenn er über einem trockenen Kolleg saß. Was der Mensch sei, war ihm undeutlich, und er hatte verlernt, es wissen zu wollen. In der Regel wollte er um diese Uhrzeit nur noch nach Hause.

Herr Samuel Lichtenbring versuchte es mit Laufen, er war aber bereits außer Atem, wenn er den Feldweg hinter seinem Haus erreichte. Dann setzte er sich ins Gras und seufzte, seufzte noch einmal, seufzte unzählige Male, als sei es eine Beschäftigung. Er saß da, als warte er auf jemanden oder auf Erlösung, er hörte ein paar Krähen, er zog seine Schuhe aus, gähnte, rieb sich die Augen, gähnte wieder, als ob ihn jemand erhören sollte ‒ der liebe Gott oder der Nachbar. Er ging dann nach Hause und duschte, bis die Haut rot war.

Herr Samuel Lichtenbring war kein Träumer. Er sah die Dinge in ihrer Einfachheit, die Dinge waren so, wie sie waren, mein Gott, warum sollten sie anders sein, warum sich Gedanken machen. Bis die nervösen Zustände begannen. Er hielt sich seitdem nachts wach, um algebraische Aufgaben zu lösen, er fütterte seinen Goldfisch, er las lateinische Abhandlungen über die Natur, er versuchte den Gesang der Vögel und die Stimmen der Menschen in Noten zu fassen. Herr Samuel Lichtenbring hatte an die Vollkommenheit seines Lebens geglaubt. Sein Leben war ein Kreis. In dem Kreis war alles. Keiner durfte in den Kreis. Herr Samuel Lichtenbring hätte eher seinem Goldfisch das Sprechen beigebracht ˗ wenn er nicht von der Idiotie dieses Unterfangens überzeugt gewesen wäre ˗ als sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Überzeugt nämlich war er von seinen Fähigkeiten. Bis eines morgens die nervösen Zustände einsetzten. Eigentlich fingen sie nachts an. Er sah nachts einen Film, und die Bilder gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Lesen wäre an sich eine gute Idee gewesen, aber plötzlich konnte er sich für kein Buch mehr entscheiden. So fing es an: dass er sich nicht mehr für ein Buch entscheiden konnte. In einer Kettenreaktion fielen ihm Entscheidungen fortan grundsätzlicher schwerer. Am nächsten Morgen überlegte er sich, ob er den Kaffee nicht ohne Zucker trinken sollte. Er bekam regelrecht Angst vor einer Zuckerkrankheit. Am Nachmittag wippte er bereits das erste Mal mit den Füßen. Das Kolleg sagte ihm gar nichts mehr. Er freute sich nicht mehr auf die Algebra, die lateinischen Abhandlungen, die Vogelstimmen. Das Essen schmeckte nicht mehr. Der Goldfisch schien plötzlich beim Durchziehen des Wasserglases deutliche Geräusche zu machen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, er hatte einmal in der Bibliothek eine Erektion, nur weil ihn eine Frau angelächelt hatte. Das erste Mal, seitdem er hier arbeitete, erlaubte er sich vor Feierabend an die frische Luft zu gehen, er atmete durch, doch es war zu  viel Luft und zu wenig Möglichkeiten. Er hatte auch auf einmal den Wunsch, fliegen zu können, und er kehrte an diesem Tag nicht in die Bibliothek zurück.

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Lukrez

Mechanisch kaufte er seinerzeit den Band Lukrez. Er war einerseits beeindruckt von dessen Versuch, zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhielt (er erinnerte sich an den Anspruch eines Biolehrers, der sie zu Beginn jedes Schuljahrs mit diesem Faust-Zitat gequält hatte) und das noch dazu fast ausschließlich mit Hilfe der damaligen Naturwissenschaft, die seinerzeit noch enger mit der Philosophie verzahnt war. Andererseits vergötterte er bereits als Oberstufenschüler die lebenspraktische, unironische Lakonie: Erst als Professor allerdings sollte er den Tipp, das Bordell zu besuchen, um sich vor Liebeskummer zu schützen, erst tatsächlich zu schätzen lernen. An irgendeiner Buchhandlung kam er vorbei, ging, von einem unerklärlichen Gefühl geleitet, hinein, erinnerte sich an die Blume und an den Lateinunterricht an der Schule und an einen Nachmittag im Juli, als er mit Gretchen Weiler im Gras saß und sie über die Natur sprachen, ein bisschen auch über Philosophie, das erste und letzte Mal, dass Herr Samuel Lichtenbring mit einer Frau über Philosophie sprach. Im Gras neben ihnJen lag Lukrez. Sie kamen direkt aus der Lateinstunde an diesen Musenort, den er einmal beim Umherschlendern entdeckt hatte. Die kleine Dorfschule, die sie besuchten, lag an einem Bach, worin sie badeten. Den Lukrez, der hier im Gras lag, verlor er irgendwann; gleichsam leistete er also auf eine Art Abbitte, oder vielmehr hatte er das Gefühl, Abbitte zu leisten, als er an diesem Nachmittag, von einer unbestimmten Ahnung geleitet, den Lukrez wieder kaufte. Entflammt steckte er ihn in die Tasche.

 

Rosenflügel

In seiner Kindheit hatten die Rosen keine Flügel. Dabei war er davon überzeugt, dass sie keinesfalls nur trostlos nach unten fielen. Die Blätter konnten sich auch in die winzigen, kaum wahrnehmbaren Ösen der Luft einhaken. Wie in einer Windhose für Liliputaner schraubten sie sich dann noch oben und fügten sich ins Himmelmosaik ein. Lange sah er ihnen nach, bis seine Augen sonnenfleckig und wolkenmustrig waren. Ikarus fiel ihm dann ein und dass er weiterschreiben musste, wenn es ihm schon nicht gelang, die Vorlesungsmanuskripte fertigzustellen.

Ein Bettler mit einem Strich wie einem Mund, goss diese besonderen Rosen. Waren sie verwunschen? Er wünschte sich dann immer ein Prinz im Märchen zu sein und der andere sein mittelloses Gegenstück. Das erinnerte er noch. Der Bettler hatte kleine Augen, die sich fast in die Höhlen zurück verkrochen. Sonst sprach er nicht viel. Als Gärtner war er von meiner Eltern ganz unvermittelt eingestellt worden. In einer Fußgängerzone sah ihn mein Vater und offerierte ihm einen Job, weil er ihn wohl an einen Schulkameraden erinnerte, der im letzten oder vorletzten Krieg gefallen war. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Bischof, der sich zur Erde neigen wollte, um substanzielle Arbeit zu leisten. Das hatte Samuel vielleicht aber möglicherweise bloß in einem Film gesehen.

 

Die Zahnbürste

Er steht nach dem Aufschlag der Geschlechter vor dem Waschbecken. Er hat die Zahnbürste vergeblich gesucht. Hierfür hat er den ganzen Rucksack ausgeräumt und ihn wieder eingeräumt, um ihn nur zur Vergewisserung noch einmal auszuräumen. Die Bürste ist nirgends zu finden. In ihrem Hintern entdeckt er die kindliche Kaiserin. Tut diese irgendetwas? Zwinkert sie vielleicht? Es beschäftigt ihn sehr, so sehr, dass er darüber fast die Güte des Ineinandergreifens der Geschlechter vergisst. Ihr macht das tatsächlich ein bisschen Wut. Ihn verwundert das. Sie aber will eben die Güte des Ineinandergreifens nicht relativiert wissen und seine Gedanken an die Zahnbürste lassen sie glauben, dasselbe habe ihm vielleicht nicht gefallen. Warum muss er auch an diese dämliche Zahnbürste denken? Warum kann er die Dinge nicht einfach sein lassen, auf sich beruhen lassen, in sich beruhen lassen, so wie sie eben sind. Woher kommt die Sucht, alles erklären zu wollen? Ja, warum muss er, kaum dass die bei dem Aufschlag verlorene Kontrolle zurückgekehrt ist, diese sofort wieder im Zwischenmenschlichen, in der Kommunikation, in seinem Gehabe installieren? Warum nicht die angenehme Taubheit auf seinem Penis genießen und die Reste des Warmstrahls ihrer Vagina auf der Haut belassen, auf seiner Zunge die Salzigkeit ihrer Klitoris?

Während es ihr kommt, denkt er an das arschkalte Wasser der Ach oder war es die Urspring, so genau weiß er es trotz ihrer mehrfachen Erklärung, welcher Fluss nun welcher ist, nicht, in einen von diesen beiden jedenfalls ist sie nach einem ausgedehnt schnellen Lauf gesprungen. Das erstemal, dass das Gesez der Freiheit sich an uns äußert, erscheint es strafend. Es kam ihr vier Mal. Müssen in der Erinnerung schon wieder vergangen sprechen, der Fluch des Nachträglichen. Nicht hintereinander, sondern immer wieder, während er sie leckte, dann von hinten in sie eindrang, in einer unbeschreiblichen Verrenkung, einem eigentlich unmöglichen Winkel, gerade noch ihren Kitzler zu fassen bekam, was sie in dieser einmaligen Mischung und der unvermittelten Heftigkeit der doppelten Penetration, dem h‘schen Gesetz der Wechselwirkung zwischen Stoff und Geist, nochmal kommen ließ; während sie sich selbst an ihrer Hand rieb, ließ sie der Schreck, dass es ihr wieder kam, nochmal in die Ach springen. Übertritt der Grenzlinie: viermal. Zweimal hin, zweimal zurück. Er erinnerte seine Kindheit, wo er nach dem Seilspringen, im Gebüsch kauernd und lesend, die Kacke zurückhielt, sie fließen ließ, sie wieder zurückhielt. Ich möchte nicht mit dir über deine Zahnbürste reden. Nicht jetzt, sagte sie. Das verletzte ihn. Es war eine, wenn auch von ihm gewollte Auslegung der Sache: Die Auflehnung, die sich in ihrer Weigerung, über den Verlust seiner Zahnbürste zu sprechen, erwies. Er konnte es nicht fassen, dass die Welt sie so wenig anging. Seine Welt, die er doch nur aus Zufall mit ihr und all den anderen Menschen teilte. Manchmal wünschte er sich einen Privatzugang zur Welt, einen eigens für ihn angefertigten Schlüssel, der einzig und allein in die Hintertür passte. Die Hintertür, die vielleicht auch einzig für ihn angefertigt war, sodass der Doppelzugang wie die Penetration, der Ausgang zur Welt für sie, verdoppelt war. Er bedauerte, dass es ihm aufgrund seiner Anatomie nie so heftig kommen würde. Die seidige Taubheit auf seinem Geschlecht, wurde langsam aber sicher auch zum Schmerz. Und die Zahnbürste hatte er immer noch nicht gefunden. So sehr er sich auch anstrengte, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, mischten diese sich immer wieder ein. Er musste wohl heute Nacht ohne seine eigene Zahnbürste leben, notgedrungen eine von ihr nehmen. Warum war ihm das unangenehm?

Florian Neuner

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freiTEXT | Anna Sophia Merwald

Sie an der Leine

Sie bauen ein Haus, leben sich ein und kleben auseinander, sie vegetieren in vorbildlichen Gärten mit gestriegelten Kindern und verriegelten Türen.
Sie zwingen die Mundwinkel und sie wippen mit dem Kopf, im Takt ihre vollautomatischen Rasenmäher, die nichts machen und auch Lärm.
Sie lugen über ihre tapezierte Hibiskushecke, ihre Perücken Ton in Ton, die Kinder tragen Maulkorb, der Terrier Schnuller, sie selbst eine Leine.

Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil der Roboter tuts doch nicht.

Die Kinder, eins, zwei, sie haben den Überblick verloren, machen ihnen Nudeln in der Mikrowelle kalt.

Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil sie wollen, dass er nicht mehr ist.
Und als er dann nicht mehr ist als geschredderte Erde, schlucken sie in 30 Gramm dosierte kalte Nudeln.
Die Kinder wissen einfach, was ihnen schmeckt, sagt Kind zwei. Oder drei.
Sie haben den Überlick verloren.

Geht in die Arbeit, spielen, sagen sie zu den Kindern, drei, zwei, sie haben die Rollen verloren.
Die Kinder schleudern zur verriegelten Tür und schnellen zurück.

Sie ersticken fast, ziehen sich die Nudeln wieder aus dem Hals, wer soll denn das alles schlucken. Mit bloßer Hand wühlen sie in ihren Hälsen.
Sie suchen nach sinnhaftiger Ordnung, doch ihre Körper sind Hülsen. Sie sind offene Rohre und gestaute Vakua. Sie sind an Überwässerung getrocknete Pfützen.

Die Kinder, eins, vier, sie haben die Fassung gewonnen, reißen die Hibiskushecke von der Wand, trampeln sie zu Boden.
Sie werden gestürzt und laufen aus.
Und später bleiben die Gärten leer und dann ist der Terrier - Leinen los! - an der Leere ertrunken.

Anna Sophia Merwald

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freiTEXT | Julia Knaß

In Tagen wie Wahnsinn

in tagen wie wahnsinn liegen die toten am gang, ob ich die toten am gang sehen würde, wer die toten am gang denn seien, wer da schießen würde, wer da denn schießen würde, aber da sind längst keine toten mehr am gang, am gang hängen nur kinderfotos von mir und meinen schwestern und das hochzeitsfoto meiner eltern, am gang frisst die katze, am gang stehen die schuhe und der wlan-router und das telefon, aber da sind keine toten am gang, sage ich zu ihm, ich sage, er habe nur geträumt, das sei nur ein traum, das mit den toten, aber er beharrt darauf, er beharrt auf den toten, nach 100.000 bier und einem hausbau, einer karriere bei der gendarmerie, „herr inspektor!“, nach drei kindern und detaillierten fotografien in geordneten alben und noch akribischerem briefmarkensammeln, nach der produktion von honig, immer mehr honig, nach der beerdigung von seinem einzigen sohn, nach der leitung des ÖKB, nach dem zusammenbauen von puzzlespielen mit mehreren 10.000 teilen, ist da wirklich alles, was bleibt, die toten am gang, die toten am gang, die toten am gang, aber dann schläft er wieder ein und ich falle über alle leichen

in tagen wie wahnsinn zitieren wir gemeinsam mephistos faust „ich bin der geist der stets verneint“, über einem glas bier verneinen wir uns voreinander, sonst dürften wir uns nicht annähern, aber gemeinsam mephisto zitieren ist unser klopstock und später holt er mich mit dem motorrad ab und wir kurven durch die gegend, meine heimat, die ich nicht kennen will, und das plastik an meinen docmartins verschmort und meine füße werden heiß, während er mich hundert mal fragt, was ich von ihm wolle, wie ich mir das vorstelle, dass er mit jemanden wie mir nicht reden könne, dass er mit jemanden wie mir normalerweise gar nicht reden würde, dass ich mit jemanden wie ihm nicht reden dürfte, weiß ich auch, aber er isst schweinsbraten wie mein opa und er ist beim ÖKB wie mein opa und er vertritt ansichten wie mein opa, aber mit ihm kann ich streiten, ihm kann ich alles an den kopf werfen, ich sage ihm, dass es falsch ist, was er denkt, ich sage ihm, dass alles gefährlich ist, was er denkt, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhören kann, weil „cui bono“ nützt niemanden, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhört zu denken, ziehe ich mich aus

in tagen wie wahnsinn erzählt mir meine oma vom schafe hüten, von der theatergruppe, die sie in ihrer jugend geleitet hat, von den gelungenen aufführungen und wie schwierig es war, dafür alles zu organisieren, sie erzählt mir, dass sie aber keine jugend gehabt hat, weil die schönsten ihrer jahre waren krieg, und dass sie in die kirche gegangen sei, statt zu den treffen der nazis, dass die dort schon überlegt hätten, was sie mit ihr machen sollen und dass die bdm-führerin aber gemeint hätte „was wollt’s denn mit der? die tut doch keinem was“, dass sie in die kirche gegangen wäre anstelle und gott sei dank anstelle, dass sie schindlers liste gelesen habe, viel später, und dann zitiert sie mir die gedichte, die sie schreibt, weil sie andauernd schreibt, zuerst im kopf und dann schreibt sie die texte auf, das erste gedicht hat sie während des schafe hütens geschrieben, das kann sie auch noch, und früher habe sie mit meinem opa gemeinsam geschrieben, als er noch lustig war, meint sie, damals als er noch lustig war, später erzählt mir mein papa im auto, mehr über das schreiben meiner oma, später im auto will mir mein papa mehr erzählen von seinem früher, aber sein ganzes sprechen schweigen

in tagen wie wahnsinn lüge ich wie gedruckt auf papier, im internet, in umgangssprache, im dialekt, in standarddeutsch oder hochdeutsch, wie man umgangssprachlich sagt, ich umgehe alles, denke, dass ich doch verstehen können muss, entschuldige zu vieles oder sehe darüber hinweg, denke zu oft „ja, aber“, und sage weder das eine noch das andere, weil ich selbst eine einzige leerstelle bin, denn wer bin ich, wenn ich über feuerwehren, über botanikvereine, philatelie, über verkehrsunfälle, bienen, über faschingssitzungen, über die eröffnung von unterführungen und die hegeringschau schreibe und mir ein video anschaue von einem mann, der die geflüchteten gefilmt hat, wie sie durch die stadt gehen, weil „da muss man ja was tun dagegen“, wer bin ich, wenn überall gesagt wird, aber „auslända woll ma keine haben“, und ich nicht mehr dagegen halte, weil ich nicht stark genug bin, weil es mir nur ums eigene überleben geht, wer bin ich, wenn ich in meiner freizeit hannah arendt zitiere und verena stefans häutungen zehnmal lese und für das frauen*volksbegehren aufrufe, und wen macht man aus mir, wenn der einzige kommentar dazu ist „ist eh liab, was du denkst, ist eh liab“, vielleicht bin ich wirklich nur mehr eine liabe hülle, das fräulein, das fräulein redakteurin „a liabes diarndle, was wollt’s denn mit der? die tut eh keinem was“

Julia Knaß

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freiTEXT | Claudia Dvoracek-Iby

Im Rucksack

Anfangs fanden wir ihn amüsant. Ehrlich gesagt lachten wir uns halbtot nach der ersten Begegnung mit ihm.

„Ich bin der Willi “, hatte er gesagt, ein zappeliger, älterer Mann, den ein riesiger, grauer Rucksack nach hinten zog. Dünn war er und klein, kleiner als Marie, die zu mir an die Tür kam, um zu sehen, wer da bei uns Sturm geläutet hatte.

„Ich bin der Willi, jaja“, zwinkerte er unruhig, „und der Willi hat die Wohnung neben euch gemietet, jaja, und da wird er ganz alleine wohnen, jaja, weil niemand mit ihm sein will - was weiß ich, warum! Aber!“ hob er den Zeigefinger, „Aber dafür besitzt der Willi viele, viele Schätze, und da drinnen“, wies der Finger Richtung Rucksack, „da sind neue Schätze. Die hat der Willi vorhin gefunden, an der Donau, jaja, und jetzt“, verbeugte er sich leicht, „muss sich der Willi verabschieden und seine Schätze auspacken!“

Einige Tage später fand ich ihn im Stiegenhaus vor, als er dabei war, seinen gigantischen Rucksack aus dem Lift zu zerren.

 „Jaja!“ keuchte er, als ich anbot, ihm zu helfen.

Mit vereinten Kräften zogen wir den Rucksack, der unglaublich schwer war, vor seine Wohnungstür. „Sind da Steine drinnen?“ scherzte ich.

„Jaja!“ rief er ungeduldig, sperrte fahrig die Tür auf, rief „Komm rein, komm rein!“, öffnete flink gleich im Vorraum den Rucksack. Es waren tatsächlich Steine darin, verschieden große, gewöhnliche Steine. Er nahm einen runden, hellen in die eine, einen flachen Stein in die andere Hand und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem großen Zimmer auf.

 „Komm rein!“ rief er wieder, lief in den Raum, legte die Steine behutsam auf einen Tisch zwischen unzählige andere. Sie lagen überall, bedeckten den Boden bis auf ein paar freigelassene Pfade, stapelten sich auf zwei Bänken, in Regalen - massenhaft Steine, wohin ich auch blickte.

„Jaja, das sind meine Schätze!“ rief er in trotzigem Tonfall, während er unermüdlich Nachschub aus dem Rucksack holte und arrangierte. „Wenn kein Mensch den Willi leiden mag, ihm die Katze wegläuft, ihm die Pflanzen eingehen - was weiß ich, warum! Was bleibt da noch? Steine! Jaja!“

Und er erklärte, dass die besten Steine an der Donau lägen, er die allerbesten aber in der Donau vermute, nur könne er leider weder schwimmen noch tauchen. Dann streichelte er ehrfürchtig einen Stein nach dem anderen, beschrieb und lobte wortreich jedes Fleckchen an ihnen. Erst nach geraumer Zeit schaffte ich es, ihn zu unterbrechen und zu gehen.

„Ein Spinner! Und furchtbar anstrengend“, teilte Marie meine Meinung, die ihm wie ich eines Tages beim Rucksack-Schleppen behilflich war und seinen Steinschwärmereien ebenfalls nur mit Mühe entkommen konnte. Sie erfuhr unter anderem, dass er, der Willi, sich oft wundere, dass er anscheinend der einzige Mensch war, der erkannte, wie schön, wie einzigartig, wie seelenvoll so mancher Stein am Wegesrand war.

„Dieser Verrückte passt absolut nicht in unser Haus“, sagten auch die anderen Mieter untereinander und zum Hauseigentümer. Nach weiteren Begegnungen, bei denen unser neuer Nachbar ungefragt und detailreich von seinen neuesten Schätzen erzählte, gingen wir ihm aus dem Weg, machten auch nicht mehr auf, wenn er an unserer Tür war.

Einmal sahen wir ihn beim Spazieren gehen an der Donau. Er nahm uns nicht wahr, ging an uns vorüber, seinen Blick konzentriert auf den Schotterweg gerichtet. Wir beobachteten belustigt, wie er erfreut in die Hände klatschte, sich bückte und Steine in seinen Rucksack legte. Im Scherz klatschte ich später wie er in die Hände, hob einen großen Kieselstein auf, rief, „Ein Schatz, jaja, ein Schatz!“, und schenkte ihn Marie.

Vor drei Tagen läutete er spätabends bei uns, minutenlang. Als ich schließlich ärgerlich öffnete, fuchtelte er aufgeregt mit einem Brief in der Hand und rief:

„Der Willi kommt sich verabschieden, jaja, dem Willi wurde die Wohnung gekündigt, wieder einmal, was weiß ich warum, denn der Willi hat immer die Miete bezahlt, jaja, und ..“

„Dann wünsche ich dem Willi alles Gute!“, unterbrach ich ihn, wich seinem fassungslosen Blick aus und schloss die Tür.

Marie tat er leid, sie legte ihm am nächsten Tag den großen Kieselstein von mir vor die Tür.

Wir sahen ihn nicht wieder. Gestern waren zwei Polizisten bei uns, die sich erkundigten, was wir über den Mann wussten, der neben uns gewohnt hatte und den sie in der Donau gefunden hatten, tot, ertrunken, hinabgezogen von einem Rucksack voller Steine.

Seitdem beschäftigt Marie die Frage, ob auch unser Kieselstein im Rucksack gewesen ist.

Claudia Dvorazek-Iby

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freiTEXT | Fabian Hartmann

Der Tag, an dem Mindy Miller dicke Oberschenkel bekam

Wie so oft in jenem Sommer fuhr Mindy (Mindy Miller, elfeinhalb, geboren in Winston-Salem, North Carolina) schon früh am Tag zu einem abgelegenen kleinen Fußballplatz am Rande von Walnut Cove, ihrem Heimatort. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad, einem Jungenrad mit einem 24er-Rahmen, der gerade erst wieder frisch von ihr besprüht worden war, wobei sie sich für ein sattes Dunkelgrün entschied. Vielleicht dachte sie bei dieser Wahl an die Farbe des Nadelwaldes, in dem der kleine Fußballplatz gelegen war. Gerade als Mindy den Middlefork Drive verlassen hatte und in die Martin Luther King Jr Road einbog, wunderte sie sich, wie sehr der Geruch dieses Sommermorgens dem von feuchter Erde glich.

Die Martin Luther King Jr. Road ist eine lange, gerade und ebenmäßig asphaltierte Straße, an dessen Rändern jeweils tiefer Nadelwald beginnt. Dies jedoch erst ab ihrer Hälfte, davor erstrecken sich zu den Seiten Rapsfelder – mittlerweile zwar halb vertrocknet – aber dennoch weit genug, als dass sie Mindy regelmäßig dazu brachten, den Blick von der Straße abzuwenden und über die Felder schweifen zu lassen. um zu schwelgen in einem Gefühl der Überzeugung, sie würde den Sommer in seiner Gesamtheit erfahren. Gebündelt in diesem einen langen, ausgeruhten Blick in die Ferne.

Mindy spielte in einem Team der jüngsten Altersklasse an der South Stokes High School, im Mittelfeld, wo sie praktisch jede Spielrolle annehmen konnte. Jetzt, im Sommer, pausierte die Mannschaft für acht Wochen mit dem Training, und so traf sich Mindy beinahe täglich mit ihrer Freundin Susan auf dem kleinen Fußballplatz, dessen immer frisch gemähter Rasen von einem etwa drei Meter hohen Netzzaun umgeben war.

Als Mindy auf dem Fahrrad angerollt kam, klingelte sie kurz und Susan – die gerade versuchte, den Ball aus einigen Metern an die Querlatte des Tores zu schießen – drehte sich um, nachdem sie die unbeabsichtigte Flugbahn des Balls bis zu ihrem Ende verfolgt hatte. (Er landete einige Meter tief im Wald zwischen den Tannen, die durch die andauernde Trockenheit beinahe morsch geworden waren). Nachdem sie sich – wie bei jeder ihrer Begrüßungen – ein low five gegeben hatten, lief Susan los in Richtung der kleinen Tür im Zaun, durch die man den Wald betreten konnte. Mindy setzte sich auf den Rasen, um sich ihre Schienbeinschoner und Stutzen und Stollenschuhe anzuziehen.

Die Stutzen – ein Geschenk ihrer Mutter – waren knallig rot und gefielen ihr nicht sonderlich. Aus dem einfachen Grund, sie nicht enttäuschen zu wollen, zog Mindy die Stutzen nun dennoch über ihre Waden. Mindy schaute in den Himmel, als sie sich die Schuhe band. In einen allzu klaren Himmel, durch den hin und wieder eine seichte Wolke zog, und dann auf ihre Waden in diesem prall gefüllten, dicken, roten Sockenstoff und war schockiert: Hatte sie jemals so dicke Waden gehabt? Hatte sie jemals den Sommer gerochen? Ihr Blick wanderte die Beine hinauf zu den Oberschenkeln, dessen Anblick sie nicht weniger entsetzte. Susan kam aus dem Wald zurück, den Fußball unterm Arm.

„Susan, sag mal“, sagte Mindy. „Findest du, dass ich dicke Oberschenkel hab'?“

Fabian Hartmann

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freiTEXT | Anna Gawlitta

Wenn die Zikaden zirpen

Schlafen nachts die Zikaden? Oder zirpen sie unentwegt?

Aufstehen müsste man, mitten in der Nacht, und lauschen, wie lange die Zikaden zirpen, dachte ich als ich an einem Sommerabend am offenen Fenster stand, meinen Kummer und meine Einsamkeit beweinte. Gregor hatte mich verlassen, einfach so, ohne Vorwarnung, ohne vorherige Anzeichen. Mir war ausschließlich aufgefallen, dass er seit einiger Zeit nicht mehr „Ich liebe dich“ gesagt hatte. Das hätte mir zu denken geben können. Vorher hatte er es mir unter die Nase geschmiert, diese drei berühmten Worte. Er hatte es in unterschiedlichen Sprachen gesagt, förmlich aufgezählt, ich bringe nur Je t`aime, I love you, Kocham Cie und Ich liebe dich beisammen. Gregor hatte mich mal zum Geburtstag überrascht, und in fünfzehn Sprachen die drei berühmten Worte deklamiert. Damals habe ich lachen müssen wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gekitzelt wird, er hatte mit seinem Ton gespielt, die Worte in die Länge gezogen, sie mal leiser, dann wieder lauter betont, mit den Händen gestikuliert, ist auf und ab gesprungen, auf die Knie gefallen, hat seinen Arm ausgestreckt und hatte mir ein schwarzes, viereckiges Döschen hingehalten, es geöffnet und mir war ein funkelndes Etwas in Ringform entgegen gestrahlt. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, die Hände vor den Mund nahm, aufstöhnte, auf ihn zu rannte, gemeinsam mit ihm umfiel, sein gesamtes Gesicht abküsste und so laut ich konnte Ja schrie. Wir hatten uns verlobt!

Nach der Verlobung veränderte sich alles zum Positiven, es intensivierte unsere Beziehung. Wir liebten einander intensiver, mit jedem vergehendem Tage; wir hielten fester Händchen, wir küssten einander stärker, wir redeten länger und rührten tiefere Themen an. Es hatte sich eine Innigkeit entwickelt, die uns beiden vorher unbekannt gewesen war, die wir vorher nie gehabt haben. Wir waren enger zusammengeschweißt worden, durch diesen Akt, durch diesen Ring an meinem Finger. Zumindest war es mir so gegangen, hatte ich so gefühlt, es so erlebt und habe es so in Erinnerung. Schließlich trug ich den Ring! Und genau hier setzt das Problem an, Gregor trug keinen. Und so lenkte er seine Aufmerksamkeit auf sein Promotionsthema. Gregor war Biologe, hatte sein Studium beendet und einen Promotionsplatz ergattern können. Das Thema: Zikaden. Zikaden hier, Zikaden dort. Ich hatte nicht einmal gewusst, was Zikaden sind. Gregor begann seine Liebe zu mir auf die Zikaden über zu lenken. Ich sah, wie er immer bissiger sich in sein Thema hinein lebte, regelrecht einen Fanatismus in puncto Zikaden entwickelte. Zikaden, Zikaden, Zikaden währte ich mich, als er eine von ihnen nach einem Forschungsgang in der Natur in einem leeren Marmeladenglas stolz wie Oskar nach Hause transportierte.

Igiitt, igitigit, igit brachte ich nur hervor. Nahm das Marmeladenglas samt der Zikade, flitzte so schnell ich nur konnte aus der Wohnung, die Treppe hinunter, öffnete das Glas und warf die Zikade ins Gras. Da fing die Zikade an zu zirpen. Ich erschrak und sprang zurück. Da ging mir auf, was eine Zikade ist, es ist das zirpende Etwas zwischen den Grashalmen an einem warmen Sommerabend. Ich war auf Anhieb begeistert, die Zikade gab ihr Konzert und ich lauschte. Gregor kam mit fuchtelnden Armen mir hinterher, blieb stehen und konnte nicht glauben, was er sah. Ich saß im Gras und lauschte der Zikade. Komm, sagte ich, setzt dich zu mir. Er blickte irritiert, sah sich um, ob niemand uns sehe und setzte sich zu mir. Schön, nicht, sagte er. Ich nickte begeistert, gleich einem Kleinkind. Hier entfachte meine Zikadenliebe und schweißte Gregors Liebe zu den Zikaden mit der meinen zusammen. Ich wurde zur Doktorandin im Thema Zikaden, las alle Materialien, die Gregor bis dahin zusammengestellt hatte, forschte sogar selbst in Bibliotheken nach, korrigierte, vermerkte, ergänzte Gregors Notizen. Seit diesem Zirpen waren die Zikaden zu meiner Leidenschaft geworden. Ich ersetzte Gregor gegen die Zikaden. Wir drückten unsere Händchen nun nicht mehr so fest zusammen, küssten uns nicht mehr stärker, redeten nicht intensiver. Aber das fiel mir erst gar nicht auf, weil ich, solange noch Sommer war, die Zikaden zirpen hören wollte, jeden Abend. Gregor fing an mir den Vogel zu zeigen, aber das machte mir nichts aus, nur dass er jetzt öfters den Finger an den Kopf hielt, und sagte, dass ich spinne, anstatt wie früher den Finger zum Herzen zu führen, und mir zu sagen, dass er mich liebe. Aber dennoch beruhigte es mich nicht, schließlich gehörten wir seit dem Ring an meinem Finger zusammen, so dachte ich. Als ich begann meine Kritik auch mündlich zu äußern, neue Fragestellungen zu entwickeln und überhaupt unentwegt über die Zikaden zu schwärmen, gab Gregor auf, und machte mit mir Schluss. Den Ring wollte er zurück, aber ich bekam ihn nicht mehr vom Finger, so beließ er es dabei, räumte den Schreibtisch, den er bei mir stehen hatte, beisammen, packte seine halb fertige Doktorarbeit zusammen und zog wieder komplett zu seinen Eltern.

Doch wir sahen uns nun häufiger als es ihm lieb war. Ich hatte mich nämlich an der Universität immatrikuliert und forschte zum Thema Zikaden. Ich hatte meine eigenen Fragestellungen und dachte daran über Zikaden meine Abschlussarbeit zu schreiben. Ich besuchte schon sehr bald die Kolloquien, in denen auch Gregor saß, zu seinem Leidwesen, denn ich merkte, wie wütend er auf mich war. Dabei hatte ich nichts anderes als meine Leidenschaft zu Zikaden entdeckt – das war alles! Doch für Gregor war es nicht genug, er ließ sich nicht mehr bei den Kolloquien blicken, ich machte mir Sorgen. Als er das gesamte Semester über weg blieb, rief ich bei seinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Gregor, sagte sein Vater, habe seine Notizen und Bücher eingepackt und sei ausgewandert, aus Forschungszwecken. Wirklich, sagte ich, und da ging mir auf, dass ich bisher ausschließlich die deutschen Meinungen gelesen hatte.

Anna Gawlitta

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freiTEXT | Isabella Krainer

Edith

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, da diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.

Isabella Krainer

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freiTEXT | Lisa Krusche

Maritim Grand Hotel

Das Flattern des Absperrbandes im Wind. Die Locke, die über deine Wange Richtung Mund streicht. Du, den Joint in der Hand mit dem Siegelring, wie du einatmest, noch mal einatmest, damit der Joint mehr reinknallt. Dein Blick in Richtung Plakate und was du erzählst. Dein Ausatmen und um die Ecke der Obdachlose im Schlafsack und ich, die ich mich frage, ob er schon erfroren ist. Das Maritim Grand Hotel im Hintergrund, Waschbetongebäude, mit diesen Fenstern, innen warmes oranges Licht und die weißen, mal halb mal ganz zugezogenen Gardinen. Du sagst, du müsstest noch mal herkommen, bevor wir überhaupt richtig da sind. Die Kälte und das Bild auf dem Plakat und zu jeder Sekunde mein Körper und das Gefühl meines Körpers, der sehr bewusst ist in seinem hier stehen und noch bewusster in seinem Sehnen. Die Strähne, das Klackern des Absperrbandes, quadratische Betonplatten auf dem Boden, die Härchen auf deinen Fingern, die Strähne und mein Gedanke, ich müsste Film machen, Film ist das Mittel der Wahl, weil es alles hat, Bild und Ton und Text, wenn man will, und der Wunsch eine Kamera zu haben, um alles, um dich aufzunehmen und die Strähne und die Hand und der Joint an deinen Lippen, und noch viel mehr der Wunsch endlich aufzuhören diese Dinge zu tun, die ich tue, aus Pflichtbewusstsein, und stattdessen nur noch dich zu filmen und alles aus Lust.

Lisa Krusche

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